Die letzten Begegnungen

 

Wenn der Mensch nicht beizeiten von der Erde Abschied nimmt, so nimmt sie Abschied von ihm.

Friedrich Hebbel (1813-1863), deutscher Dichter

Ich freue mich auf IHN.

Meine ehemalige Deutschlehrerin im Sterben

Die größte Erfahrung, die wir machen können, ist die des Unfassbaren.

Albert Einstein (1879-1955) amerikanischer Physiker deutscher Abstammung,
1921 Nobelpreis für Physik

31.1 Erlebte Beispiele

Wenn es zu den letzten Tagen und Stunden kommt, bemerken wir oft, dass die Patienten noch einmal alle Kraft zusammennehmen, um ein bestimmtes Ereignis zu erleben: den Besuch eines wichtigen Menschen, einen Geburtstag, einen anderen bedeutenden Jahrestag oder einfach die Ankunft eines Menschen, in dessen Arm der Patient sterben will.

Ich erinnere mich an Herrn Hummel, einen Mann mit einem weit fortgeschrittenen Gehirntumor. Herr Hummel wollte noch seinen Geburtstag erleben, weil er hoffte, dass an diesem Tag alle seine Lieben und seine Geschäftskollegen kommen würden. Als ich am Abend des Festtages der letzte Gratulant in seinem Haus war, strahlte Herr Hummel: „Alle waren da, jetzt kann ich gehen!“ Er hatte den Tag mit aller Kraft außerhalb des Bettes verbracht, um, wie er sagte, „ein guter Gastgeber zu sein“.

An diesem Abend legte er sich erschöpft ins Bett, wurde in dieser Nacht tief bewusstlos und verstarb mit völlig entspannten Gesichtszügen zwei Tage später.

Herr Basler, den Sie schon kennen, hat sich noch den Besuch seiner Schwiegereltern und seiner Schwägerin aus einer weit entfernten Stadt gewünscht. Der Besuch war für das Wochenende angekündigt. Herr Basler konnte diese Begegnung am Freitag noch mit vollem Bewußtsein erleben und letzte Worte wechseln. Nachdem die betagten Schwiegereltern und die Schwägerin abends die Wohnung verlassen hatten, trübte sich das Bewusstsein von Herrn Basler zunehmend ein, und er starb am folgenden Abend.

Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang noch einmal an Frau Münchinger im Altenheim erinnern, die erst sterben konnte, als die Freundin kam und sagte: „Jetzt bin ich da!“

Der Mann meiner Patentante hatte nach einem Leben mit hohem Zigarettenkonsum einen Lungenkrebs entwickelt und sagte zu seiner Frau bei noch relativ gutem Allgemeinzustand vier Wochen vor seinem 77. Geburtstag: „Ich werde meinen Geburtstag nicht erleben, ich spüre das.“

Seine Verfassung verschlechterte sich in den darauf folgenden Wochen sichtbar. Als er schließlich zu Hause bettlägerig war und in seinen letzten beiden Lebenstagen auch nur noch sehr verwaschen sprechen konnte, fragte meine Tante ihn, ob er eine Krankensalbung haben wolle. Er wurde sofort lebhaft und nickte. Während der Pfarrer noch am selben Tag die Zeremonie zelebrierte, nahm mein Onkel emotional intensiv am Geschehen teil. Es war ihm offensichtlich sehr wichtig.

Am nächsten Tag betete die Krankenschwester vom Sozialdienst der Gemeinde nach der Pflege wie immer noch ein Vaterunser für den kaum mehr ansprechbaren Mann. Da sagte dieser plötzlich und völlig unerwartet nach dem „Amen“ ganz deutlich und laut „Ja!“ Amen heißt auf hebräisch so sei es! Das Ja! war sein Einverständnis, und ich gehe davon aus, dass er das Vater-Unser verstanden und mit seinem eigenen Ja! bekräftigt hat. Dieses Ja! war sein letztes Wort.

Als die Schwester die Wohnung des Kranken verließ, riet sie meiner Tante, sie solle sich jetzt doch endlich auch zu Bett legen und ausruhen, sie habe schon zwei Tage und Nächte am Bett ihres Mannes gesessen, er werde jetzt ruhig schlafen. Aber meine Tante fühlte sich magisch in das Krankenzimmer gezogen und setzte sich ans Bett neben ihren schlafenden und sterbenden Mann. Sie bemerkte sein Röcheln und konnte innerhalb der nächsten Minuten bei ihm sein, während er sanft am Tag vor seinem Geburtstag für immer einschlief.

Ich bin sehr sicher, dass all diese Ereignisse keine Zufälle sind. Viele Menschen, mit denen ich über dieses Thema gesprochen habe und die Erfahrung mit Sterbenden haben, kennen solche Zusammenhänge zwischen einer letzten Begegnung und dem endgültigen Loslassen.

Auch umgekehrte Beispiele sind bekannt: Der Patient schickt den geliebten Menschen unter einem Vorwand aus dem Zimmer, um alleine sterben zu können und so diesem Menschen diese letzten Minuten zu ersparen.

Während meiner Zeit als Assistenzarzt in der Kinderklinik habe ich ein sterbendes Kind erlebt, das seine Mutter ein Stockwerk tiefer zum Krankenhauskiosk geschickt hat, um etwas einzukaufen. Als die Mutter nach fünf Minuten zurückkam, war das Kind tot.

Es gibt auch andere Berichte, wo Kinder ihre Eltern zu einem Spaziergang oder ins Bett schicken, sie also bewusst in Sicherheit wiegen, um dann allein hinüberzugehen.

Wenn wir den Ort für diese letzten Begegnungen und den Übergang wählen können, sollten wir darauf achten, möglichst in einer für den Sterbenden beruhigenden und vertrauten Umgebung zu sein. Das Badezimmer oder die Abstellkammer als Sterbeort in der Klinik sind traurige und wirklich vorkommende Beispiele, wie man es nicht machen sollte. Das Wohnzimmer oder Schlafzimmer der eigenen Wohnung sind gute Räume. Aber, bitte, schalten Sie den Fernseher ab!

In der Klinik kann man den Sterbenden mit den Angehörigen im Zimmer lassen. Da ist es angemessener, den Bettnachbarn, dem es besser geht, solange in ein anderes Zimmer zu verlegen, bis der Tote in aller Ruhe und Würde umsorgt, gewaschen, gekleidet, be-trauert, verabschiedet und aus dem Raum gebracht ist.

Ich habe Vorbildliches im Ev. Bethesda-Krankenhaus in Essen gesehen. Dort hat der frühere Ärztliche Direktor und Chefarzt der Frauenklinik, Herr Dr. Pomp, ein besonderes Appartement am Ende eines Flures eingerichtet, das mit Pastellfarben und sehr wohnlich gestaltet ist. Hier dürfen Angehörige mit den Patienten die letzten Stunden verbringen. Die beiden Räume sind ohne Türe so abgeteilt, dass die Angehörigen sich auch zeitweise in den „Wohnraum“ zurückziehen können.

Dr. Pomp hatte ebenfalls die Idee, einen vom Bettenhaus her nicht einsehbaren kleinen Gartenteil vorzusehen, damit Angehörige bei schönem Wetter mit ihrem sterbenden Familienmitglied in der Natur sein können. Dieser Platz ist über eine kleine Rampe mit dem Bett erreichbar, an einem Seitenausgang gelegen und gewährleistet eine sehr private Atmosphäre. Dr. Pomp hat mir erzählt, dass er mehrfach erlebt hat, wie Patienten ganz friedlich unter dem Baum beim Gesang der Vögel verstorben sind. Für unsere sogenannten zivilisierten Verhältnisse ist das ungewöhnlich, aber wenn wir’s genau überlegen, ist der Tod in der Natur ganz natürlich. Ich denke, dass es für naturverbun-dende Menschen kein besseres Symbol unserer Zugehörigkeit zur Natur gibt, als in ihrer Mitte zu sterben.

31.2 Eine empfehlenswerte Grundregel

Bitte nehmen Sie als Leithilfe für den Umgang mit älteren und sterbenden Menschen diesen Satz von Naomi Feil, einer amerikanischen GerontologinFN1, mit in Ihren Alltag:

Akzeptieren Sie, dass betagte Menschen sich bemühen, auf ihre Weise mit ihrem Leben ins Reine kommen. Hören Sie zu, urteilen Sie nicht, und geben Sie keine guten Ratschläge. Zollen Sie ihnen Respekt, bewahren Sie ihnen ihre Würde, und verhelfen Sie dazu, in einem aufgeräumten Haus jedem seinen eigenen Tod zu ermöglichen.FN2


FN1  Gerontologie: Die Wissenschaft vom alten Menschen

FN2 Jahresbericht 1996 der Samariterstiftung

Copyright Dr. Weller

Dieser Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

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