Konflikte bei der Sozialberatung

Sie erinnern sich: Bei den sekundären Krankheitsgewinnen sprachen wir von Geld und geldwerten Vorteilen, die den Kranken zustehen. Sie sind eine Errungenschaft unseres Sozialstaates und werden aus wirtschaftlichen Gründen immer mehr eingeschränkt. Die Politiker formulieren das so: „Der Bürger wird gebeten, mehr Verantwortung zu übernehmen.“ Das klingt so, als hätten wir die große Wahl, die Bitte anzunehmen oder abzuschlagen. Tatsache ist, dass jeder von uns in zunehmendem Maß mehr Geld einsetzen muss, um für die Aufrechterhaltung seiner sozialen Situation bei Krankheit und Rente vorzusorgen. Um den Patienten und Angehörigen Hilfe anzubieten in dem undurchdringlichen Paragrafendschungel und dem alltäglichen Leben mit der Behinderung, gibt es Sozialberater, Sozialfachangestellte, Diplomsozialpädagogen und Angehörige anderer Berufe in den Ämtern und Kliniken. Sie sind nicht nur geschult, das richtige Formular zu finden und richtig auszufüllen, sondern, was ich mindestens ebenso wichtig finde, sie haben auch die Aufgabe, mit den Menschen einfühlsam und den jeweiligen Situationen angemessen umzugehen.

Für viele Menschen ist der Kontakt mit Behörden mit Angst und Schwierigkeiten verbunden, weil sie sich mit den geltenden Gesetzen nicht auskennen oder die Texte beim Lesen nicht verstehen. Die Sprache der Juristen und Gesetzgeber befindet sich ja auch objektiv weit weg von der Umgangssprache und ist selbst für Akademiker anderer Fachgebiete häufig nicht zugänglich, ganz abgesehen davon, dass das Beamtendeutsch sehr viele Musterbeispiele liefert für eine behördlich genehmigte Vergewaltigung der deutschen Sprache. Die manchmal geradezu menschenfeindlichen Fragebögen deutscher Behörden tragen ein Übriges dazu bei, dass sich die Menschen überfordert fühlen. Wenn also derartig verunsicherte Menschen den Weg zu einer Beratung gehen müssen, muss es uns nicht wundern, wenn aus der mangelnden Information das Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins und daraus Angst und Aggression entstehen.

Eine gute Beratung setzt aber voraus, dass die betroffenen Patienten und Angehörigen sich angemessen verhalten. Weil das nicht immer so ist, schreibe ich dieses Kapitel. Es gibt leider auch schwierige Antragsteller.

 

Der Fordernde.

Wir haben in einem der vorangegangen Kapitel darüber schon einiges besprochen. Hier noch einige zusätzliche Gedanken. Wenn es ums Geld geht, hört nicht nur die Freundschaft auf, sondern bei vielen Menschen leider auch das gute Benehmen. Das Argument „Ich habe jetzt so viele Jahre in die Versicherung eingezahlt, jetzt will ich was davon haben!“ ist alltäglich und wird mit mehr oder weniger zornigem Ton vorgetragen. Diese Begründung erscheint vielen Menschen der Freibrief für alle Leistungen zu sein, die sie sich wünschen, unabhängig davon, ob diese Leistung in der Versicherung enthalten ist oder nicht und unabhängig davon, ob ein medizinischer Grund dafür besteht.

In der Praxis habe ich regelmäßig den Satz gehört: „Mein Nachbar ist jetzt schon dreimal in der Kur gewesen, jetzt will ich auch mal!“ Nicht ohne Grund gibt es das Sprichwort „Morgens Fango, abends Tango!“. Und der Begriff „Kurschatten“ zeigt genau, was manche Menschen in der Kur suchen, nämlich den Schatten ihres Charakters, den sie zuhause verdrängt haben, weil er entweder nicht erlaubt ist oder nicht offiziell gelebt werden kann.

Typisch für die fordernden Patienten und Angehörigen ist die Einstellung, sie seien allein auf dieser Welt und hätte logischerweise deshalb Vorrecht auf alles, was sie sich wünschen. Sie treten meist sehr dominierend auf, halten selten Termine ein, sondern erwarten, dass die Menschen, von denen sie etwas wollen, natürlich immer und reichlich Zeit haben. Die Tatsache, dass die Sozialberater auch noch mit Belangen anderer Menschen beschäftigt sind, veranlasst die Fordernden zu noch größerem Druck, um ihren Wünschen nach Zeit und Zuwendung Nachdruck zu verleihen.

Dadurch kommt der Sozialberater in den Zugzwang, die Fordernden zumindest bei der ersten Begegnung schon zurückzuweisen und einen Termin zu vereinbaren, was schon schwierig ist und hier schon manchmal die Frustrationstoleranz der Fordernden übersteigt. So erzeugt Druck Gegendruck, und die Stimmung ist von vornherein angespannt. Jetzt lassen die Fordernden ihre Muskeln spielen: Sie drohen mit dem Anwalt, mit einem Beschwerdebrief, und meist kennen sie noch einen Herrn Wichtig oder einen Herrn Vorsitzenden, der „dann Dampf machen wird!“ Die Beschäftigung mit Fordernden ist sehr anstrengend, weil sie Kräfte zehrend und zeitaufwändig ist. Und die Menschen, die ich gefragt habe, und meine eigene Erfahrung zeigen, dass der Druck in diesem Sozialberatungsbereich mit sinkenden Finanzmitteln immer größer wird.

Der Sozialberater sollte hier konsequent und ruhig auf die Rechtslage hinweisen, sich auf medizinisch akzeptable Begründungen beziehen und ansonsten sachlich und distanziert seine Arbeit machen. Es wird nicht immer gelingen, den Fordernden davon zu überzeigen, dass seine Forderung unangemessen ist. Aber der Versuch ist nötig und Erfolg versprechend, wenn der Sozialberater seine Meinung kompetent vorträgt.

Wenn der Sozialberater sich provozieren lässt, fühlt der Fordernde sich möglicherweise dazu angeregt, seinen Forderungen noch mehr Nachdruck zu verleihen nach dem Motto „Man muss mehr vom selben Mittel einsetzen, um zum Ziel zu kommen“. Klare Terminabsprachen und der Hinweis, dass auch die anderen Mitmenschen ein Recht auf Bearbeitung ihrer Angelegenheit haben, sind dringend nötig. Sonst werden die Sozialberater an die Wand gedrückt und von den Forderungen der Unmäßigen und Ungeduldigen rasch an die Wand gedrückt und erschöpft.

Deshalb ist es unbedingt wichtig, dass der Sozialberater die Angriffe nicht persönlich nimmt, sondern professionell und sachlich mit den Klienten oder Patienten umgeht, wohl wissend, dass sie unter Druck stehen, mehr oder weniger hilflos sind, Hilfe suchen und vielleicht mit der Art und Weise, wie sie Hilfe angeboten bekommen, nicht oder nicht ganz einverstanden sind. Es ist wirklich so: Manche unangenehmen Menschen sind nur zu ertragen, wenn man sie als Patienten sieht, dann hat man genügend Distanz und kann sie trotzdem richtig beraten und dabei innerlich unverletzt bleiben.

Dabei spielt auch das Verhalten der Kollegen und des Amts- oder Klinikleiters eine entscheidende Rolle: Alle beteiligten Berater und deren Vorgesetzte sollten mit einer Stimme sprechen. Es ist nichts schlimmer für einen Berater, als wenn ihm ein Kollege oder gar der Chef vor dem Klienten oder Patienten in den Rücken fällt. Das entwertet die ganze Behörde oder Klinik, und das Vertrauen in die Berater ist zumindest in Frage gestellt wenn nicht sogar völlig zerstört. Wenn klare Meinungen einstimmig vertreten werden, haben Streitende oder Querulanten keine Chance, ihre ungerechtfertigten Wünsche durchzusetzen. Das setzt voraus, dass sich die Berater bei sich ankündigenden Konflikten absprechen. Der Vorteil bei diesen prophylaktischen Gesprächen im Kollegenkreis bringt auch die Möglichkeit, sich zu vergewissern, dass die beabsichtigte Beratung und Entscheidung sachlich und menschlich richtig ist. Kollegial geführte Gespräche sind auch eine wichtige Form der Fortbildung.

Eine Sonderform der Fordernden sind die Gewaltbereiten. Leider gibt es Menschen, die glauben, ihre Interessen mit Gewalt oder mit Androhung von Gewalt durchsetzen zu können. Sie drohen eben nicht nur mit dem Vorgesetzten, sondern mit Feuer, Messer, Angriff auf die Angehörigen und die Privatwohnung. Man trifft sie besonders dort, wo Geld zu holen ist, das möglicherweise auch bar ausgezahlt wird, nicht nur auf Banken, sondern auch bei Sozialdienststellen. Bei allem Verständnis für die wirtschaftliche Not der Menschen kann Gewalt oder Gewaltbereitschaft nicht toleriert werden. Rasches und entschlossenes Verhalten auch mit Einschalten der Polizei ist nötig. Leider sind unsere Gesetze so geschaffen, dass Drohungen meist nicht ausreichen, um einen Gewaltbereiten in die Schranken zu weisen. Es muss etwas Konkretes passiert sein, damit die Polizei wirksam einschreiten kann. Trotzdem rate ich dringend, Drohungen sofort zu melden. Manchmal hilft auch die Drohgebärde der Polizei. Sicherheitsmaßnahmen könnten bis zu einem gewissen Grad abgesicherte Räume mit Warnanlagen sein.

Der Suchtkranke

ist eine besondere Herausforderung für Therapeuten und Berater. Als Patient kommt er in allen Abteilungen häufig vor und ist manchmal einsichtig und selten konsequent. Die Rückfallrate bei Alkohol, Nikotin und Rauschgiften ist hoch und wird häufig getarnt hinter der Behauptung: „Ich könnte ja aufhören, wenn ich wollte.“ Und nach dem Rückfall gibt es garantiert irgendeinen fadenscheinigen Grund dafür.

Wenn der Patient der Suchtkranke ist, hat er mit sehr großer Wahrscheinlichkeit einen Co-Abhängigen in seiner nächsten sozialen Umgebung, meist den Lebenspartner. Dieser ist entweder von der gleichen Droge abhängig oder von der sozialen Droge Hilfsbereitschaft: Er will unbedingt (das bedeutet ohne Bedingung!) den Abhängigen aus der Sucht herausführen, und merkt nicht, dass er sein eigenes Leben an das des Süchtigen kettet und durch Nachgiebigkeit, Vertuschen und Ausreden den Süchtigen zwar vordergründig vor den sozialen Folgen des Abstiegs oder der Strafen schützt und deckt, in Wirklichkeit (das heißt wirksam) aber in der Sucht bestätigt. Ein Süchtiger kann nur mit seiner Sucht (das bedeutet Suche!) aufhören, wenn sein Leidendruck größer ist als die Angst vor der Veränderung, das heißt in diesem Fall vor dem Entzug der Droge. Wenn der Co-Abhängige auch von derselben Sucht abhängig ist, z. B. von Alkohol und Nikotin, ist das Aufhören noch schwieriger, es sei denn beide stützen sich wechselseitig in diesem Bestreben.

Das Charakteristische an einem Suchtkranken ist, dass er im Allgemeinen die Abhängigkeit verleugnet oder tatsächlich überzeugt ist, nicht abhängig zu sein. Er verhält sich in nüchternem Zustand meist besonders angepasst und versucht, durch freundliches und unverbindliches Verhalten einen guten Eindruck zu erwecken. Für die Beratung bedeutet das, den Suchtkranken nur so weit zu begleiten, wie er kooperativ sein kann. Darüber hinaus kann man ihn nicht zwingen. Wenn aber der Kranke z. B. nach einer Rehabilitation durch den ebenfalls suchtkranken Angehörigen versorgt oder betreut werden soll, ist die Katastrophe vorgezeichnet. Ich will das an einem realen Beispiel erklären.

Frau Fröhlich lebt seit vielen Jahren mit Herrn Schneider zusammen. Jetzt liegt sie mit einem schweren Schlaganfall in der Klinik, kann sich nicht mehr bewegen, kaum sprechen, ist voll von Pflege anhängig und muss demnächst entlassen werden. Wohin? Das ist die Frage, die unsere Sozialarbeiterin klären muss. Wir schlagen eine Heimunterbringung vor, weil wir wissen, dass der Lebenspartner ebenfalls alkoholkrank ist. Er reagiert lange nicht auf die Briefe und die Telefonate, mit denen wir ihn zum Gespräch bitten wollen, da er auch der notariell bestellte Betreuer der Patientin, also verpflichtet ist, das Interesse der Patientin zu vertreten. Als er dann erscheint und mit den konkreten Fragen konfrontiert wird, zeigt sich das typische Profil des Alkoholkranken: Er ist überangepasst freundlich, will alles natürlich nur zum Besten erledigen und redet und redet … um den Brei herum. Und als es um klare Abmachungen bezüglich Entlassung und Heimunterbringung geht, kann er sich nicht entscheiden, windet sich mit viel Gestik und leeren Floskeln, um klare Aussagen zu vermeiden. Er ist nicht zu greifen, wie Gummi im Gespräch.

Hier ist es angebracht, mit freundlicher Bestimmtheit Tatsachen zu schaffen, Entscheidungen vorzubereiten, ihn auf dem Laufenden zu halten. Und wenn er sich nicht klar entscheidet, was er will, müssen wir ihn zu Entscheidungen hinführen, bis hin zu einer Unterschrift unter einen Pflegevertrag. Und er muss klar darauf aufmerksam gemacht werden, dass wir seine Partnerin am geplanten Entlassungstag bei ihm zuhause abliefern werden, wenn er die Kooperation und zum Beispiel die Heimunterbringung verweigert. Schließlich ist er als Betreuer verpflichtet, bei der guten und patientengerechten Versorgung mitzuhelfen. Diese Pflicht muss ihm deutlich vor Augen geführt werden.

Dies gilt auch für alle anderen Unentschlossenen und Wachsweichen, die sich selbst und dem Sozialberater das Leben schwer machen, weil sie diffus sind mit ihren Angaben, man bei ihnen alle Auskünfte einzeln abfragen muss und dabei immer noch eine Tatsache hervor geholt wird, die einen neuen Blickwinkel auf die Angelegenheit wirft. Soziale Konflikte tauchen auf wie persönliche Krisen, Finanzschwierigkeiten, Wohnungsprobleme, Berufskonflikte, Arbeitsplatzverlust. Die Vielfalt der Probleme macht die Menschen vielleicht nicht schwieriger, aber ihre Beratung viel zeitintensiver. Sie fragen immer wieder nach, sind unsicher, brauchen erneute Beratung und Absicherung. Und die fällige Entscheidung wird möglicherweise weiter verzögert, obwohl immer klarer wird, dass die Entscheidung jetzt gefällt und umgesetzt werden muss.

Wir können uns bei dieser Gelegenheit eine andere wichtige Gesetzmäßigkeit bewusst machen: Wenn wir eine Entscheidung hinausschieben, weil wir uns vor etwas drücken wollen, haben wir genau in diesem Moment die Entscheidung getroffen, dass es bleibt wie es ist. Wir haben also entschieden!

Und der Unentschlossene hat uns einen Spiegel vorgehalten, in dem wir unsere eigene Neigung sehen, Unbequemes aufzuschieben. Das trifft für Sie nicht zu? Nein, wirklich nicht? Wann haben Sie das letzte Mal eine Entscheidung aufgeschoben? Wollten Sie nicht mit dem Rauchen aufhören? Oder abnehmen? Oder die Wohnung aufräumen? Oder sich von Ihrem Partner trennen? Oder sich für eine wichtige Prüfung anmelden? –

Hier ist der Grundsatz, mit dem sie begründen können, warum sie die Entscheidung aufgeschoben haben: Wir setzen eine Entscheidung erst um, wenn unser Leidensdruck größer ist als die Angst vor der Veränderung. Der Alkoholiker hat beispielsweise Angst vor der Realität, die er ertragen und meistern muss, wenn er mit seiner Sucht aufhört.

Wenn wir das verstanden haben, können wir mit Alkoholikern und anderen Suchtkranken verständnisvoller und konsequenter umgehen. Wir sind meist nicht ihre Therapeuten, aber vielleicht wenigstens empathische Mitmenschen, die aus dem Kontakt mit anderen etwas für unser eigenes Leben lernen. Es kostet uns manche Überwindung, konsequent und klar zu reagieren. Deshalb sind die Suchtkranke, die Unentschlossenen und die Fordernden genau die richtigen Trainingspartner, bei denen wir das lernen können.

Herr Schneider aus unserem obigen Beispiel ist ein Mensch, der große Angst vor Fehlern hat und sich deshalb nicht entscheiden will. Er hat bei der konsequenten und verständnisvollen Führung durch die Sozialberaterin nach Absprache mit dem zuständigen Arzt Vertrauen gefasst in die behutsame und sachkundige Beratung und lässt sich jetzt leiten. Das heißt aber auch: Er gibt zu einem gewissen Teil die Verantwortung für die Entscheidung ab.

Ein grundsätzlicher Konflikt in der Sozialberatung

Man geht davon aus, dass man jemand am besten und dauerhaftesten hilft, indem man Hilfe zur Selbsthilfe vermittelt.

Kennen Sie dieses Sprichwort? Wenn du einen Hungernden für einen Tag satt machen willst, gib ihm einen Fisch. Wenn du ihn lebenslang satt machen willst, lehre ihn angeln.

Die Sozialberatung in der Klinik, Praxis und Pflege kann die Forderung nach Hilfe zur Selbsthilfe nur begrenzt erbringen, weil die Zeit der Betreuung oft zu kurz ist. Deshalb müssen oft rasch Fakten geschaffen, Hilfsmittel besorgt, Entscheidungen getroffen werden, ohne dass der Hilfsbedürftige oder seine Angehörigen wirklich lernen, das Problem aus eigenen Kraft zu meistern. Trotzdem lohnt es sich, die Patienten und Angehörigen wenigstens ein Stück weit auf diesem Weg zu begleiten.

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

Dieser Beitrag wurde unter Prosa abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.