Das Geständnis

Hanna packt sorgfältig einen kurzärmeligen Pulli und ihre hellblaue Sommerwindjacke in den kleinen Rucksack. Der Wetterbericht hat für diesen Tag Sonne, etwas Wind und sommerliche Temperaturen vorausgesagt. Also wird leichte Kleidung für die Bergwanderung gut ausreichen. Hanna schaut zu Frank hinüber, der auf seinem Hotelbett ebenfalls einen umhängbaren Wanderbeutel füllt.

Frank blickt zum Fenster hinaus und strahlt Hanna an: „Jetzt gehört endlich mal wieder ein Tag ganz uns! Schau diesen prächtig blauen Himmel an! Das wird herrlich!”

„Das ist schon herrlich,” widerspricht Hanna lächelnd und küsst Frank zärtlich auf die Wange. Sie umarmt ihn herzlich und drückt ihn an sich: „Also, lass uns gehen. Hast du alles?”

„Ja, ich hab dich,” erwidert Frank und streicht Hanna langsam über ihr schwarzes Lockenhaar, das schon mit einigen grauen Fäden veredelt ist. „Jetzt können wir in den Vogesen wandern! Diesen Weg in die Vergangenheit haben wir uns doch schon so lange vorgenommen!”

Sie verlassen die kleine Pension, in der sie übernachtet haben, steigen ins Auto und fahren langsam durchs malerische Dorf. Die Gärten leuchten mit den satten Farben des frühen Sommers, ein sanfter Wind zieht durchs ansteigende Hochtal und wiegt die grünen Blätter an den Bäumen.

Die schmale Straße führt den Pass hinauf. Frank steuert den Sportwagen konzentriert und routiniert durch die Kurven: „Ist das nicht wunderbar? Diese herrliche Aussicht! Und dort hinten der Grand Ballon!”

Nach ein paar Minuten sind sie schon an ihrem ersten Ziel angekommen: „Hier ist der Parkplatz, von dem aus wir damals die Wanderung begonnen haben. Da lassen wir den Wagen stehen.”

Frank biegt ein und stellt das Auto ab. Sie steigen aus, ziehen die normalen Straßenschuhe aus und die Wanderschuhe an, die im Kofferraum bereit stehen. Zielsicher schlagen sie den Weg ein: bergaufwärts zwischen Büschen und niedrigen Kiefern, an gelbem Enzian, Disteln, wilden Orchideen und anderen Kostbarkeiten vorbei auf dem ausgeschilderten Weg zur Hütte, in der alles angefangen hatte. Frank und Hanna wandern schweigend nebeneinander her, und doch sind sie innerlich und äußerlich verbunden. Der Pfad ist gerade noch breit genug, dass sie Hand in Hand marschieren können.

Sie genießen die stille Zweisamkeit, die sich in den zwanzig Jahren der Ehe zwischen ihnen entwickelt hat. Ein kurzer vertrauter Blick, ein stummer Fingerzeig genügen längst, um Wichtiges zu zeigen und Stimmungen zu vermitteln.

Frank bleibt stehen, atmet tief ein und deutet mit ausgestrecktem Zeigefinger wortlos an den Horizont. Dort hat sich in den vergangenen Minuten eine große graue Wolke mitten in den strahlend blauen Himmel geformt, und der Wind frischt auf. Hanna nimmt zärtlich Franks Finger, küsst ihn und sagt: „Der Wind wird die Wolke wegblasen!”

Sie beobachten die Gräser und die Blätter. Es hat lange nicht mehr geregnet. Die Natur ist durstig, und die Blätter sind zum Teil schon faltig eingerollt. Hanna fühlt das trockene Moos, das sie sonst immer so gern anfasst, wenn es erfrischend feucht in ihrer Hand liegt.

Plötzlich lässt der Wind nach, die warme Sonne brennt mit der ganzen Kraft auf die beiden Wanderer. Es wird noch stiller. Eine drückende Glocke von stehender schwüler Luft legt sich auf den Berghang.

Frank setzt sich auf das Moos und wischt den Schweiß von der Stirn: „Lass uns ein wenig rasten. Wir haben genügend Zeit bis zur Hütte. Du hast doch was zum Trinken eingepackt.”

Hanna setzt sich neben ihn und holt die Thermosflasche aus ihrem Rucksack: „Hier! Das Wasser ist bestimmt noch kühl!”

Frank trinkt, setzt ab, gibt die Flasche zurück und streicht langsam über Hannas Oberschenkel: „Danke für diesen Genuss! Hast du noch mehr?” – „Was denn?” fragt Hanna mit gespielter Verwunderung und legt sich ins Moos.

Frank schaut Hannas immer noch bewundernswert gute Figur an, gleitet mit seinen Augen an ihren wohlproportionierten Rundungen entlang, dann an den Himmel und sagt nach einer ganzen Weile des Schweigens nachdenklich: „Irgendwie gefällt mir das nicht!”

„Redest du von mir?” Hanna hat einen verunsicherten Ton in der Frage.

„Nein, nein!”, knurrt Frank und macht eine weit ausschweifende Bewegung zum Himmel. „Es riecht so komisch nach Gewitter!”

„Ach was, das bleibt schön!” wiegelt Hanna ab. Sie blinzelt ihn an, streckt ihm eine Hand einladend entgegen und will ihn zu sich herunterziehen. Aber Frank bleibt sitzen und nimmt liebevoll ihre Hand.

Hanna fragt: „Was möchtest du jetzt tun?” Frank hört den verführerischen Unterton und zögert mit der Antwort: „Weißt du, ehrlich gesagt, ich bin richtig unruhig. Schau mal, diese Wolke ist jetzt schon viel dunkler und größer geworden, sie zieht direkt auf uns zu. Die schwüle Luft drückt mich in den Boden. Ich habe das Gefühl, da zieht ein Unwetter auf. Und hier draußen haben wir überhaupt keinen Schutz. Lass uns weitergehen. Zur Hütte brauchen wir noch zwei Stunden, wenn wir zügig marschieren. Das schaffen wir vielleicht. Es ist auf jeden Fall kürzer, als zum Parkplatz zurückzugehen.”

Hanna steht mit einem Ruck auf, nimmt wortlos ihren Rucksack und lässt Frank stehen. Sie marschiert mit demonstrativ kräftigen und weit ausholenden Schrit­ten den ansteigenden Weg hinauf, ohne zurückzublicken.

Frank rennt ihr hinterher, und nachdem er sie eingeholt hat, hakt er bei ihr ein: „Jetzt sei doch nicht gleich so eingeschnappt! Ich hab es nicht böse gemeint! Aber ich kann nicht in aller Ruhe hier mit dir sitzen, wenn ein Gewitter aufzieht und wir völlig ohne Dach sind.”

Hanna antwortet nicht. Sie fühlt sich zurückgewiesen und grollt. Frank ist auch still, und die beiden wandern wortlos weiter.

Inzwischen haben sie die Baumgrenze erreicht. Die Büsche und Gräser sind noch reich verteilt, die wenigen Gebirgsblumen verschwenden ihre prächtigen Farben. Nur vereinzelt hat in dieser Höhe ein Baum der Witterung getrotzt und sich aus dem kargen Boden genügend Nahrung holen können. Die wenigen Stämme ragen verwittert, vom herben Wind gebeugt und knorrig derb in die Höhe. Die Hartlaubgewächse sind dürr geworden in den Wochen der Trockenheit, und die schwüle Luft zwingt die beiden Wanderer zu einem langsameren Schritt. Nach einiger Zeit nimmt Hanna wieder Franks Hand, und sie gehen gemeinsam weiter.

Hanna bricht das Schweigen: “Erinnerst du dich an den Abend in der Hütte? Das war eine fröhliche Gesellschaft mit den französischen Studenten!”

„Ja, und besonders mit dir und den Studentinnen,” ergänzt Frank. Er ist froh, dass das Gespräch wieder in Gang kommt. Hanna bekräftigt: „Du hast mir gleich gefallen, als ich dich an dem Kamin mit deinen Kommilitonen sitzen sah. Ich hab´s dir ja schon oft erzählt: Ich war sofort in dich verliebt!” Sie lächeln einander an, und Hanna drückt kräftig Franks Hand.

Er sagt schmunzelnd: „Das hast du mir ja auch gleich in der Nacht auf sehr charmante Art gezeigt.” Und er fügt nach einer kleinen Pause hinzu: “Ein Glück, dass ich ein Einzelzimmer hatte!”

Hanna schaut an den Himmel und erschrickt: „Das sieht ja richtig giftig aus! Die schwarze Wolke wird von einem fahlgelben Rand umgeben und reicht mit einem grauen Schleier bis zum Boden! Da hinten tobt ein heftiges Gewitter! Ich glaube, du hast recht. Es kommt direkt auf uns zu!”

In der Ferne grollt der Donner, und Frank und Hanna sehen einen grellen Blitz über das Tal zucken. Sie beschleunigen ihren Schritt. Da schießt schon wieder ein gleißender Zick-Zack-Strahl aus der Wolke.

Hanna fragt besorgt: „Wie weit ist es noch bis zur Hütte? Schaffen wir das vor dem Regen?”

Frank runzelt die Stirn und schüttelt langsam den Kopf: „Ich schätze, mindestens noch vierzig Minuten. Und wenn die Wand so schnell weiterzieht wie bis jetzt, können wir uns auf einen nassen Mittag vorbereiten!”

„Oje, meine dünne Jacke bietet ja höchstens ein bisschen Schutz vor dem Wind, aber sicher nicht vor einem ordentlichen Regenguss.”

Gleichzeitig will Hanna die Unterhaltung fortführen, um von dem heraufziehenden Gewitter abzulenken:

„Ich kann mich noch an Pierre und Natalie erinnern, weißt du noch, die Studenten aus Paris?”

„Ja, an Natalie erinnere ich mich sehr gut!” sagt Frank einen Sekundenbruchteil zu schnell.

Hanna sieht, wie Frank plötzlich einen roten Kopf bekommt und sich wegwendet, um die verräterische Farbe zu verbergen. Aber Hanna hat mit ihren wachen Augen schon bemerkt, was sie nicht erkennen soll.

Sie fragt sofort mit warnender Schärfe: „Was war das denn?”

„Nichts, natürlich nichts!” beeilt sich Frank zu versichern, aber das Lächeln, das er aufsetzt, sieht sehr gequält und unecht aus.

Hanna bleibt stehen und schaut Frank direkt ins Gesicht. In diesem Moment fallen die ersten dicken Tropfen auf ihre Stirn und klecksen dunkle Flecken auf ihre hellblaue Bluse. Der Wind bauscht ihre Jacke auf und verwirrt Hannas Locken.

Hanna beharrt: „Hör mal, Frank, das will ich jetzt hören: Ich kann mich nur undeutlich an eine blonde Frau erinnern. Was war mit Natalie? Ist mir da etwas entgangen, was ich wissen muss?”

Frank schließt seine Jacke, öffnet die eingerollte Kapuze und zieht sie über, als wolle er Zeit gewinnen. Nach verdächtig langer Pause sagt er ärgerlich mit einer wegwischenden Handbewegung: „Lass doch dieses Thema! Das ist längst Vergangenheit. Ich habe dich gewählt. Das ist doch einzig entscheidend! Oder nicht? Du bist meine beste Wahl! Mit dir hat sich in den Monaten nach dem Ausflug eine wunderbare Liebesbeziehung entwickelt. Und wir sind doch in unserer Ehe sehr glücklich.”

Der Regen wird kräftiger, und ein heftiger Donner rollt über das Tal den Berghang hinauf. Frank spürt die Schwingung der feuchten warmen Luft, die in seine Kapuze bläst und sie wieder herunterreißt. Frank und Hanna stehen zwischen niedrigen Büschen und mageren Gräsern auf steinigem Grund.

Hanna fasst ihren Mann an den Händen und sagt mit fester Stimme: „Frank, ich möchte es jetzt wissen, auch wenn es hier stürmt. Wir werden in jedem Fall fürchterlich nass. Also können wir auch das Thema besprechen. Was war mit Natalie?”

Frank spürt die Entschlossenheit seiner Frau. Und es ist ihm klar, dass er jetzt Farbe bekennen muss. Er steht hier wie ein begossener Pudel im wahrsten Sinne des Sprichwortes im strömenden Regen weit ab von jeglichem Schutz.

Der Himmel verdunkelt sich und taucht die Natur rund herum in schmutzig nasses Grau und Schwarz. Die Welt erbebt in Aufruhr. Der gischtende Regen prasselt vom Wind gepeitscht in Franks Gesicht, als wolle er ihn schlagen für das, was er noch verheimlicht. Über Hannas Stirn fließt das Wasser in Strömen, als stünde sie unter der Dusche. Ihr Haar klebt in Strähnen am Kopf, und die Locken haben die Form von triefenden Korkenziehern angenommen, die das kühle Nass in Hannas Blusenkragen lenken. Sie zittert vor Kälte und innerer Erregung. Die Jacke und die hellblaue Jeans haften unangenehm feucht am Leib.

Es gibt keinen Ausweg. Frank kennt Hanna. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, erreicht sie ihr Ziel. Wozu also soll er jetzt noch Verzögerungstaktik oder Schwindeleien benützen. Es ist ja sowieso alles mehr als zwanzig Jahre lang her!

Er fasst seinen Mut zusammen und sagt langsam: „Als du damals morgens mit Pierre Küchendienst hattest und ich mit Natalie die Zimmer gerichtet habe, hat Natalie mich dazu verführt, mit ihr das zu tun, was ich in der Nacht mit dir genossen habe. Reicht dir das?”

Der Regen prasselt auf den Berg und die beiden Wanderer. Rollende Donnerwagen rattern mit grollendem Getöse durch den schwarzen Himmel. In die Dunkelheit dieser Endzeitstimmung schießen gleißende Zacken ihre gefährliche Ladung. Die Moose saugen das kühlende Wasser auf wie trockene Schwämme. Bäche bilden sich, rinnen zwischen den Kieseln und Wurzeln talabwärts und reißen Erde und Schlamm mit sich.

Auch aus Hannas schreckgeweiteten Augen schießen plötzlich Tränen hervor und spülen den letzten Rest ihres Lidschattens in schmierigen schwarzen Bächen über ihr Gesicht. Sie schlägt die Hände vor ihre Augen, holt Luft, als wollte sie schreien, dann schaut sie Frank an, und er hört sie nur wimmern: „Du hast …?”

Er nickt wortlos. Es scheint, als kehre trotz des Aufruhrs in der Natur eine gefährliche Ruhe auf dem donner- und sturmumtosten Hügel ein. Sie stehen einander gegenüber. Frank schaut betreten auf den Boden. Hanna lässt ihren Tränen freien Lauf. Sie klammert ihre Hände zusammen, knetet die Knöchel, die weiß und tropfnass aus den Jackenärmeln ragen, dreht sich, als wolle sie weglaufen, bleibt stehen, wendet sich zurück, tritt von einem Bein auf das andere. Sie weiß im Moment nicht, was sie tun soll.

Erst nach einer Minute, die Frank wie eine Viertelstunde erscheint, rafft sie sich im berstenden Sturm zusammen, schaut Frank mit traurig wütendem Gesicht an und presst heraus: „Das war eine riesige Gemeinheit von dir, auch wenn es mehr als zwanzig Jahre her ist! Das hätte ich nicht von dir gedacht: Nach unserer schönen Nacht gleich die nächste Frau im selben Haus! Pfui Teufel!”

Sie spuckt verächtlich auf seine Schuhe. Dann schreit sie ihn an: „Lass mich jetzt allein! Hau ab!”

Er versucht, sie anzufassen und zu beschwichtigen: „Aber Hanna…!” Sie reißt sich los und brüllt ihm ihre ganze Verzweiflung entgegen: „Lass mich in Ruh! Ich brauche Zeit, um darüber wegzukommen und einen Entschluss zu fassen.” Und wie zur Bestätigung deutet sie mit einer heftigen Handbewegung in die Richtung, wo sie die Hütte vermutet: „Geh endlich! Ich kann dich nicht mehr sehen!”

Frank weiß, dass er zumindest für den Moment verloren hat. Er weiß aus Erfahrung, dass sie später miteinander den Konflikt besprechen werden, wenn Hanna ihre erste Empörung und tiefe Verletzung überwunden hat. Auch er braucht Zeit, um wieder einmal die Wahrheit zu verdauen, die so jäh aus der längst verdeckt geglaubten Vergangenheit gerissen wurde.

Er dreht sich langsam zu dem Weg, den er beschreiten soll und sagt leise zu Hanna: „Bitte, komm nach. Ich warte auf dich. Verzeih mir. Es tut mir leid.” Er zieht die nasse Kapuze wieder über den Kopf und hält sie fest, damit der Wind sie ihm nicht wieder vom Kopf weht.

Dann geht er über den Trampelpfad Richtung Hütte. Hanna sieht durch ihre verweinten Augen und den dichten Regenschleier, wie Frank mit schleppenden Schritten über den aufgeweichten Boden stapft und die Kleidung schlaff an seinem Körper klebt und trieft. Sei spürt in ihrem rasenden Schmerz nicht mehr, dass sie selbst genau so tropfnass und jammervoll aussieht wie Frank.

Der Himmel hat alle Pforten geöffnet. Die Umgebung ist in ein tiefes Dunkelgrau getaucht. Die Blitze tauchen nur Sekunden lang die karge Bergwelt in grellgelbes Giftlicht. Hanna schaut Frank weinend nach und sieht, wie der nächste Blitz vom Himmel schießt, Frank in eine leuchtend weiße Lichtkugel taucht und mit einem grausigen Zischen genau auf den Metalldruckknopf trifft, der in Franks Nacken blank liegt und die Kapuze befestigt. Eine Stichflamme zuckt über Franks Rücken und brennt ein großes Loch in die Jacke, den Pullover und das Hemd. Aber der strömende Regen löscht das Feuer sofort.

Wie durch einen Schleier nimmt Hanna wahr, dass der Mann vor ihr wie ein gefällter Baum nach vorn kippt und regungslos mit dem Gesicht nach unten in die Mischung aus Kies, Wasser, Schlamm und Moos klatscht und regungslos liegen bleibt.

Hanna ertappt sich bei dem zornigen und selbstgerechten Gedanken: „Das geschieht dir gerade recht!” Und sie hört wie aus der Ferne ihre Stimme schreien: „NEIN!” gellt es in das nächste Donnerrollen. „NEIN! FRANK!”

Gleichzeitig rennt sie los, stolpert über eine glitschige Wurzel, rafft sich hoch, hastet weiter, wirft sich neben Frank auf den Boden, dreht ihn an der verkohlt riechenden Jacke um, blickt in sein Gesicht, das völlig verschmutzt durch sie hindurch schaut.

Sie ruft mit angstvoller Stimme: „Frank! So sag doch was!” und tätschelt sein Gesicht, wischt mit ihren nassen Händen den Dreck von Stirn, Wangen und Lippen, küsst ihn auf den erdigen Mund, presst ihren heißen Atem in seinen Rachen und seine aufgeschürfte Nase, drückt zwischendurch rhythmisch auf seinen Brustkorb, reißt seine Jacke auf, wirft sich mit dem Ohr über sein Herz, hört doch nur ihr eigenes Herz rasen, schreit “HILFE!” in den schwarzen Himmel gegen die tobende Sturmwand, glaubt, dass jemand sie hört und weiß doch, dass sie völlig allein auf weiter Flur vergeblich kämpft.

Sie ruft, fleht, jammert. Hanna ist völlig außer sich vor Verzweiflung und Hilflosigkeit. Ihre unbeholfenen Wiederbelebungsversuche sind ohne Erfolg. Frank ruht im heftigen Gewitter mit gebrochenem Blick zwischen Flechten, Baumwurzeln und Moos.

Der strömende Regen lässt langsam nach. Der Donner und die Blitze entfernen sich und werden seltener.

Hanna liegt neben Frank, sie liebkost seine leblose Wangen, seinen kalten Mund, streichelt über sein schmutzig nasses Haar. Sie schluchzt vor sich hin: “So hab ich es nicht gemeint. Bitte, vergib mir! Ich wollte nur eine Weile meinen Schmerz verdauen und dich nicht in den Tod schicken.”

Es dauert lange, bis sie sich gefasst hat und ihre Lage klar einschätzt. Sie bemerkt erst spät, dass es inzwischen aufgehört hat zu regnen. Die Umgebung leuchtet wieder heller, in der Ferne taucht die Sonne hinter den schwarzen Wolken auf. Die nassen Gräser blinken glitzernd mit ihren Tropfen.

Hanna ordnet Franks nasse Kleider, faltet seine Hände über der Brust, drückt ein wasserpralles Mooskissen aus und legt es auf Franks Brust. Sie reinigt sein Gesicht so gut es geht. Dann steht sie auf, schaut weinend an sich hinunter, strafft ihre verdreckte Bluse und Jacke, lockert ihre triefende und mit Erde und Moos verschmierte Jeans am Körper, kippt das Wasser aus ihren Wanderschuhen und streicht ihre klebenden Haare zurück.

Während die ersten warmen Sonnenstrahlen über die nasse Landschaft huschen, spricht Hanna ein stilles Gebet, zeichnet Frank ein Kreuz auf die Stirn und das Herz und verharrt noch ein paar Minuten kniend neben ihm.

Dann steht sie auf, streicht Frank über das Gesicht und sagt mit fester Stimme: „Ich werde jetzt Hilfe holen. Ich komme ganz bestimmt zurück und bringe dich nach Hause!”

Hanna geht langsam wie in Trance zur Hütte. Sie spricht in Gedanken mit ihren Kindern, ihren Eltern, ihren Freunden. Sie versucht zu erklären, was geschehen ist, ohne das intime Geheimnis auszuplaudern. Als sie nach einer guten halben Stunde bei der Hütte ankommt, begrüßen die drei Menschen, die vor der Hütte den Platz von den Folgen des Unwetters reinigen, sie freundlich. Sie erkennen Hannas seltsam versteinerten Gesichtsausdruck und fragen besorgt: „Madame, Sie sind in das Gewitter geraten, können wir Ihnen helfen?”

Nach einigem Zögern antwortet Hanna mit Tränen in den Augen: „Mir wäre es lieber, Sie würden meinem Mann helfen. Er liegt dort draußen. Vom Blitz erschlagen!”

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Das Geständnis veröffentlicht.

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