Auch Krankheiten haben Vorteile – Der sekundäre Krankheitsgewinn

 

Alles hat zwei Seiten. Das ist das Gute am Schlechten und das Schlechte am Guten.

Paul Watzlawick (*1921), amerikanischer Psychiater und Kommunikationsforscher österreichischer Herkunft

Ich habe keine Zeit, müde zu sein.

Kaiser Wilhelm I., am 8.3.1888, im Alter von 89 Jahren, einen Tag vor seinem Tod

Beim richtigen Umgang mit Kranken müssen wir die wichtigsten Vorteile kennen, die bei jeder Krankheit auftreten und mehr oder weniger bewusst von den Patienten genossen und als Wünsche oder Forderungen geäußert oder ausgespielt werden. Ich will dabei ausdrücklich betonen, dass es prinzipiell nichts Schlechtes ist, wenn der Kranke Vorteile aus seiner Krankheit wahrnimmt und genießt. Entscheidend ist in Bezug auf den richtigen Umgang mit ihm, dass er die ihn betreuenden Menschen nicht überfordert oder gar im Extremfall terrorisiert. Wir können davon ausgehen, dass unser Unterbewusstsein uns dann krank werden lässt, wenn es eine Warnung an uns für notwendig -die Not wendend!- hält. Wir erhalten die Vorteile im Rahmen der Krankheit, weil wir es nicht geschafft haben, sie auf gesunde und erwachsene Art und Weise zu erreichen oder gar auf sie zu verzichten.14 Diese Krankheitsgewinne lassen sich in vier Gruppen einteilen:

5.1. Die Zuwendung

Die meisten Menschen sehnen sich nach Aufmerksamkeit, Geselligkeit, Zuneigung, Zärtlichkeit, Nähe, Wärme und Geborgenheit und bekommen sie bei einer Krankheit in erheblich stärkerem Maß als sonst. Das ist normal, weil wir Mitgefühl mit einem Kranken haben und wollen, dass er schnell wieder gesund wird. Wichtig ist auch, dem Patienten die Chancen bewusst zu machen, dass er sich in der Krankheit mit anderen Dingen beschäftigen kann, für die er vorher keine Zeit oder kein Interesse hatte wie zum Beispiel mit Lesen, Basteln, Meditation, Beten, Musik und vielen anderen Dingen.

Also geben Sie dem Patienten, was er möchte, wenn es Ihrer Einstellung entspricht und es Ihnen und dem Kranken gut tut. Die Kehrseite des Vorteiles kann den Helfer in die Situation bringen, dass der Patient so viel Zuwendung verlangt, dass der Helfer keine Zeit mehr bekommt, um für sich aufzutanken und seine eigenen Bedürfnisse zu stillen. Dann wird aus der ursprünglich gern gegebenen Zuwendung stille Aggression der Helfer, die von diesen meist nicht ausgedrückt wird. Denn sie haben ein schlechtes Gewissen, eigene Interessen und Wünsche anzumelden und den Kranken in gewissem Sinne zurückzuweisen, indem sie Zuneigung verweigern oder wenigstens begrenzen. Dazu sollten Sie das Kapitel über das Helfer-Syndrom noch einmal lesen.

Davon sorgfältig zu unterscheiden ist eine seltene Entwicklung, die wir bei Menschen beobachten, die in den Jahren vor der Krankheit nach außen sehr hart geworden sind und keinen oder nur sehr spröden und distanzierten Kontakt mit anderen Menschen hatten und jetzt im Rahmen der Krankheit wieder weicher und empfänglicher für Gefühle und körperliche Nähe werden. Hier handelt es sich um einen Reifeprozess, der unbedingt erkannt und unterstützt werden muss. Dazu gehören auch Menschen, die ein Leben lang nur gegeben und für andere gesorgt haben und nie Nähe und Hilfe von anderen annehmen konnten.

Diese Menschen sind im allgemeinen gewohnt gewesen, sich selbst als unterlegen, nicht liebenswert und minderwertig einzustufen. Sie hatten Schwierigkeiten, Liebe, Zärtlichkeit und Nähe anzunehmen und haben deshalb in ablehnender Form darauf reagiert, wenn ihnen diese Gefühle entgegengebracht wurden. Die Krankheit bringt sie als Bettlägerige oder in anderer Weise Abhängige in die Lage, Hilfe annehmen zu müssen.

Bei diesen Kranken ist es wesentlich, ein natürliches Verhältnis zu körperlicher Nähe und zu Zärtlichkeiten zu empfinden und zu zeigen. Ein leichtes Streicheln über den Arm, ein Halten der Hand, eine liebevolle Umarmung, ein freundlicher Blick und ein ehrliches „bitte“ und „danke“ sind Zeichen einer sich wandeln-den Einstellung und Persönlichkeit. Für die Patienten ist dies oft eine Wohltat, und sie können sich innerlich öffnen für einen Lebensbereich, dem sie sich aus verschiedenen Gründen in der Vergangenheit verschlossen haben und den sie jetzt wieder oder zum ersten Mal in ihrem Leben genießen können.

Hier können eine neue Herzlichkeit und ein stilles Einverständnis entstehen. In dieser Phase werden oft Gespräche möglich, die vorher undenkbar waren und jetzt eine wohltuende Klärung in die Beziehung bringen und lange unausgesprochene Konflikte lösen können. Deshalb sollten die Angehörigen und die Besucher diese Zeichen wahrnehmen und frei und offen beantworten. Diese Einstellung und Verhaltensweise können zu einer völlig neuen Beziehung zwischen den Betroffenen führen und stellen eine echte Bereicherung und ein sehr wichtiges Geschenk für alle Beteiligten dar.

Wenn der Schwerkranke sterben wird, sind damit bedeutende Lasten und unerledigte Geschäfte sinnvoll und gültig beseitigt. Wenn der Patient gesund wird, kann er befreiter und mit einer neu gestalteten Beziehung leben. Dann war die Krise ein wahrer Gewinn, weil sie die Beteiligten zu einer Klärung des Konfliktes geführt hat.

Hier bedeutet der Krankheitsgewinn der Zuwendung einen Zuwachs an Reife und Menschlichkeit im besten Sinne, eine neu erworbene Fähigkeit, Nähe zu geben und zu empfangen. Solche Entwicklungen sind eine Gnade, die der Kranke auf seinem schweren Weg als Trost und Segen erleben darf. Und nicht zu vergessen: Es ist ein kostbares Geschenk, solche Ereignisse und Begegnungen als Angehöriger oder Freund, Pfleger oder Therapeut mit wachem Auge und offenem Herzen wahrnehmen zu dürfen.

5.2 Schonung 

Durch die Krankheit kann sich der Patient schonen. Er muss weniger oder nicht mehr arbeiten. Er kann seine häuslichen, beruflichen und sozialen Pflichten an andere abgeben, ohne dabei eine mögliche Überforderung, Frustration oder / und Aggression zeigen zu müssen. Der Patient braucht kein Alibi für seine Bettlägerigkeit, denn die Krankheit wird vom Arzt bescheinigt und ist damit nicht anzuzweifeln und wird auch von missgünstigen Familienangehörigen und Arbeitgebern meistens akzeptiert. Das beginnt beim einfachen Schnupfen, der einen Tag „Kurzurlaub“ bringt, bis zu schweren Krankheiten, die eine längere Arbeitsunfähigkeit bewirken.

Ein klassisches Beispiel dazu habe ich in meinem Buch „Wenn der Herbst zum Frühling wird“15 ausführlich beschrieben. Es handelt sich dabei um den leitenden Angestellten Achim Krüger, der in seiner Position überfordert war, dadurch zusätzliche Konflikte in der Familie bekam und diese Überbelastung nicht zugeben und angemessen verändern konnte. Schließlich ersehnte er sich eine schwere Erkrankung, die ihn aus seiner ausweglosen Lage herausholen würde, damit er selbst nicht um eine Veränderung seiner Situation kämpfen musste. Er bekam eine Krebserkrankung, an der er auch starb.

5.3      Macht

Einige Kranke benützen ihre Krankheit bis zum Tod, um auf andere Menschen, besonders auf Familienmitglieder Macht auszuüben und eigene Interessen „im Auftrag der Krankheit“ durchzusetzen. Die Methode hat System und wird nicht selten in Form eines Familienterrors von den Angehörigen erlebt. Helfer mit Schuldgefühlen zu „motivieren“ und zu beeinflussen, stellt eine besonders wirksame Möglichkeit dar, Macht über Krankheit auszuüben. Sie führt deshalb häufig zu schweren Zerwürfnissen zwischen dem Kranken und den Helfern. In diesen Fällen wird die Krankheit als Waffe verwendet. Oft werden diese Krisen nicht ausgetragen und nicht geklärt, da „der Kranke nicht verärgert, aufgeregt oder zurechtgewiesen werden darf, denn sonst geht es ihm ja noch schlechter!“

Solche Machtspielkonstellationen sind nach meiner Beobachtung leider häufig anzutreffen und ein Ausdruck ungelöster Beziehungskonflikte in der Partnerschaft und Familie. Die unbewusste oder absichtliche Flucht in die Krankheit ist hier ein Zeichen dafür, dass der Patient keine bessere Möglichkeit hat, Dominanz und / oder direkte Abwehr in der Familie zu erreichen. Sowohl die Angehörigen als auch der Therapeut müssen diese Mechanismen kennen und wenn irgend möglich mit dem Patienten erörtern und nach Lösungen für diesen Konflikt suchen.

Der Asthma- oder Schmerzanfall, der gerade „zufällig“ dann auftritt, wenn jemand von den Angehörigen das Zimmer des Patienten verlassen will, um eigenen Interessen nachzugehen, ist ein typisches Beispiel, wie durch Krankheit Macht ausgeübt und die Verantwortung dafür auf die Krankheit geschoben wird. Die Lösung des Konfliktes könnte darin bestehen, dass der Patient lernt, seinen Wunsch klar zu äußern, dass der Helfer dableiben soll. Dann kann der Helfer auch seine Gedanken mitteilen. Damit würde jeder der beiden Beteiligten die Verantwortung für sein Verhalten übernehmen, und der Konflikt könnte auf einer erwachsenen Ebene und nicht auf einer Ersatzebene der Krankheit ausgetragen werden.

5.4    Geld

In unserem Sozialsystem spielt das Geld eine große Rolle, das der Kranke vom Arbeitgeber und von Versicherungs- und Rentenanstalten erhält. Häufig ist es noch so viel, dass manche Arbeitnehmer lieber den etwas geringeren Lohn akzeptieren und dafür den Vorteil haben, nicht arbeiten zu müssen.

Als in Schweden die Lohnkürzung bei Krankheit eingeführt wurde, weil das Gesundheitssystem nicht mehr bezahlbar war, verwandelte sich die schwedische Be-völkerung rein statistisch über Nacht vom Land mit den meisten Kranken zu einem der gesündesten Völker der Welt: Die Zahl der Krankmeldungen sank drastisch. Auch in Deutschland erkennen wir zur Zeit den Trend, dass viele Arbeitnehmer sich wegen der gekürzten Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall nicht mehr so leicht krankschreiben lassen. Ich habe die Beobachtung gemacht, dass ganz überwiegend die wirklich Kranken trotz meiner Einwände weiter arbeiten wollen, während viele Menschen mit Baga-tellerkrankungen eine Krankmeldung regelrecht verlangen. Aber nicht alle Ärzte geben solchen Ansinnen nach, sondern sie fühlen sich verpflichtet, so weit wie möglich objektive Kriterien der Arbeitsunfähigkeit zu berücksichtigen und einen Missbrauch dieser Bescheinigung einzudämmen.

Nahezu alle ärztlichen Gutachten und Atteste haben das Ziel, für den Kranken in irgendeiner Form Geld oder geldwerte Vorteile zu beschaffen. Zu den geldwerten Vorteilen gehören Vergünstigungen wie Fahrpreisermäßigungen, Erlass der Rundfunkgebühr, reduzierte Eintrittspreise, Kuren, Sonderbehandlungen, Gebührenerlass oder frühzeitige Rente. Die Konsequenz und Energie, mit der viele Kranke um diese Vorteile kämpfen, sind in der Alltagspraxis beeindruckend. Das zeigt, wie wichtig diese Vorteile sind und wie viel Energie der Kranke immer noch hat.

Es klingt schlimm, aber es ist so: Manche Menschen haben die Krankheit als Lebenszweck gewählt, beschäftigen sich nur damit und verdienen dadurch auch ihren Lebensunterhalt. Ich kenne Rentner, die mit erheblicher Beschwerdeintensität ihre Rentenanträge durchgesetzt haben und schlagartig gesund und beschwerdefrei waren, als sie den gültigen Rentenbescheid auf dem Tisch hatten.

Es ist tragisch, dass unser im Grunde sehr sinnvolles Gesundheitssystem von denen, die daran teilhaben können, in manchen Fällen ausgebeutet und zum Selbstbedienungsladen degradiert wird. Es verlangt aber gerade von allen ein solidarisches Verhalten, weil es auf dem Solidaritätsprinzip aufgebaut ist.

5.5  Die Helfer müssen Kräfte tanken! 

Die Interessen der Familienmitglieder sind genauso wichtig wie die Motive des Kranken! Deshalb muss geklärt werden, wie die verschiedenen Interessen gewahrt werden können. Wenn die Wünsche der Gesunden ganz zurückgestellt werden, führt dieses Verhalten letztlich zur Ablehnung des Patienten durch diese Helfenden, die ihre Interessen wegen des Kranken nicht mehr verfolgen können. Es ist aber grundlegend wichtig, dass in der Familie weiterhin eine lebensbejahende Stimmung den Alltag prägt.

Ich möchte es wiederholen: Da ein guter Helfer stark sein muss, ist es nötig, dass er für sich und seine eigene Stabilisierung und Kräftigung regelmäßig etwas tut. Es ist also in Ordnung, wenn er zum Beispiel sich Zeit für Sport oder Musik oder Besuche bei Freunden nimmt. Diese Aktivitäten müssen mit dem Kranken und dem betreuenden Team offen besprochen werden, damit sie von allen unterstützt werden können. Nur ein in sich ruhender und starker Helfer kann ein guter Helfer sein! Nur ein Helfer, der aktiv am vollen Leben teilnimmt, kann Hoffnung und Lebenswillen verbreiten und vermitteln. Es gibt sicherlich nur sehr wenige Menschen, die sich bewusst und gerne vollständig aufopfern, gar keine eigenen Interessen mehr verfolgen und dabei gesund und leistungsfähig bleiben. Das setzt eine übermenschliche Motivation und weit überdurchschnittliche geistige Einstellung voraus.


 

 

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