Die einfache Frage

Es gibt Tatsachen, die so banal sind, dass man leicht in Versuchung kommt, sich von ihnen verwirren zu lassen und sie falsch zu berichten. Meine Anatomieprüfung im Physikum, der ärztlichen Vorprüfung, brachte mir diese paradoxe Weisheit zum Bewusstsein.

In Anatomie wurden wir von zwei Professoren nacheinander geprüft. Alles lief gut, auch mit ausgefallenen Fragen, bis wir bei Professor Hinrichsen ganz am Ende der fast zweistündigen Sitzung angelangt waren. Wir kannten ihn aus vielen Vorlesungen, bei denen ich immer seinen druckreifen, sprachlich kunstvollen und doch natürlichen Stil geschätzt habe. Er meinte: „Sie wissen ja, ich muss noch eine embryologische[1] Frage stellen. Also, Herr Weller, wie lange dauert eine Schwangerschaft?“

Na, dachte ich, nichts einfacher als das und begann locker: „Also grob kann man sagen 9 Monate, das sind 9 mal 30, 9 mal 30, das sind …“ Und da verließ mich mein Kopfrechnen. Ich registrierte mein völliges Unvermögen, diese einfache Rechnung zu schaffen. Ich setzte mehrfach an und gab auf, mit hochrotem Kopf, völlig verwirrt über meinen Zustand.

Professor Hinrichsen, sonst ein sehr strenger Prüfer, erkannte meine peinliche Situation und blieb ruhig, wahrscheinlich, weil er in der ganzen Prüfung vorher erkannt hatte, dass ich sonst gut vorbereitet war. Er sagte: „9 mal 30 sind 270 Tage, aber dürfen Sie denn mit 30 Tagen rechnen?“ –  „Nein,“ stammelte ich und erkannte in meiner Verblendung überhaupt nicht, welche Brücke er mir zur richtigen Antwort bieten wollte.

Er fuhr fort: „Also, mit welchem Monat rechnen Sie dann?“ Ich schluckte und wußte nicht weiter. Da sah ich, wie mein Freund Hami mir gegenüber langsam und bedeutungsvoll zum Fenster hinaus und an den Himmel schaute. Er wollte mir helfen, das bemerkte ich, aber was wollte er mir sagen? Die Panik packte mich eiskalt im Genick. Die Katastrophe aus der Zoologieprüfung stand plötzlich höhnisch lachend mitten im Raum und schüttelte mich.

Nach einigen Momenten peinlicher Stille fragte der Professor: „Mit mehr als 30 oder mit weniger?“ Jetzt hatte ich fünfzig Prozent Chance, wenigstens richtig zu raten, da mich mein antrainiertes Wissen im Stich ließ. Ich sagte: „Mit weniger!“ Ich war gar nicht so überzeugt, ob das stimmte. „Na also, mit welchem Monat rechnen Sie dann?“ hakte er nach. Er schien sich zu freuen, dass ich wenigstens auf der richtigen Spur ging. Noch einmal versuchte er gutwillig, mich zu schieben: „Mit welchem Naturvorgang haben denn unsere Vorfahren die Schwangerschaft verglichen und berechnet?“

Wenn ich heute darüber nachdenke, ist es mir immer noch unendlich peinlich, wie verblendet ich war und dass ich all diese wohlgemeinten Tipps nicht verstehen und nützen konnte. Ich war so mit dem berühmten Brett vor dem Kopf vernagelt, dass ich das Naheliegendste nicht begriff. Also sagte ich wieder ratend, denn es musste ja ein Monat unter 30 Tage sein: „Mit dem Februar.“

Das Gesicht des Professors verzog sich zu einer schrecklichen Grimasse, die ich noch nie gesehen hatte. Ich erwartete ein riesiges Geschrei und einen heftigen Rausschmiss. Ich befürchtete, meine letzte Stunde als Student sei gekommen. Wir kannten den Professor aus vielen Vorlesungen und kleineren Prüfungen als einen nüchternen und beherrschten Mann aus Deutschlands Norden. Ich war total erschrocken darüber, dass er sich plötzlich kräftig auf die Schenkel schlug. Erst nach einer Schrecksekunde hörte ich, dass er lachte!

Sein lautes und schallendes Gelächter muss im Nachbarraum und auf der Straße zu hören gewesen sein. Vielleicht spielt mir mein Gedächtnis verbrämend einen Streich, aber ich kann mich nicht erinnern, je einen Menschen lauter vor Lachen brüllen gehört zu haben. Wellenförmig stieß er die Salven aus seinem weit geöffneten Mund, sein ganzer Körper bebte und entlud sich in heftigen und rhythmischen Zuckungen. Langsam wurde er ruhiger, und seine entgleisten Gesichtszüge fanden ihren Platz wieder auf dem gewohnten Gleis. Er brauchte eine Weile, bis er sich einigermaßen gebändigt hatte und normal sprechbereit war.

Dann prustete er noch einmal los, mit einer von den Lachschreien geschwächten Stimme, halb weinend, halb lachend, mit Tränen in den Augen und einem tiefen Seufzer der Erleichterung: „Das ist der beste Physikumswitz, den ich je erlebt habe! Herr Weller, mit dem Lunarmonat[2] müssen Sie rechnen, neun mal einen Mondzyklus dauert die Schwangerschaft und nicht neun Februare lang! Sie haben Glück, dass der Februar 28 Tage dauert wie der Mondzyklus. Jetzt könnte ich Sie 9 mal 28 rechnen lassen, aber das schaffen Sie nicht in Ihrer momentanen Verfassung.“

Er war ruhiger geworden, und das Rot der Lachsalve war der normalen Gesichtsfarbe gewichen. Auch ich hatte langsam meine Fassung wiedergewonnen, vielleicht hatte sein berstendes Gelächter mich aus meiner fesselnden Blockade gelöst. Ich war mir plötzlich klar, welch einen zum Himmel schreienden Blödsinn ich geredet hatte. Und ich erkannte, dass Hami zum Mond hinausschauen wollte, um mich auf den Mondzyklus aufmerksam zu machen! Und weil da doch die Sonne am blauen Himmel stand, habe ich in meiner Verbohrtheit den guten Hinweis nicht kapiert. Das war eine der blamabelsten Situationen meines Lebens, ein Moment, in dem ich einen Goldsack für den erlösenden Zauberstab gegeben hätte, um im Nichts zu verschwinden.

Wie würde der Professor jetzt reagieren? Er lächelte milde, und mit einem gewissen Sinn für Dramaturgie und Spannung beschäftigte er sich zuerst mit meinen drei Freunden, denen er ihre Noten zuteilte. Sie freuten sich, und ich konnte in diesem Moment ihre Freude gar nicht teilen, weil ich viel zu sehr mit meiner angstvollen Erwartung auf mein Schicksal beschäftigt war. Ich wagte kaum zu atmen, als Professor Hinrichsen sich zu mir wandte und dann lächelnd meinte: „Das war grandios, danke für diesen Witz! Glücklicherweise haben Sie davor alles gewusst. Sind Sie mit einer Zwei zufrieden?“

Und ob ich das war! Diese Note akzeptierte ich gerne nach dieser verheerenden Schlappe. Ich empfand die Zwei als sehr, sehr gnädig! Alle Last fiel zentnerschwer von mir ab. Ich war gerettet, bedankte mich aufatmend, und wir verließen erleichtert das Zimmer.

[1] Embryo: der Mensch in den ersten drei Monaten nach der Emp-
fängnis

[2] luna = lat. der Mond

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

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