Die nächtliche Prüfung

In all den Jahren des Studiums hatten wir die angenehme Erfahrung gemacht, dass Professoren so pünktlich zur Prüfung erscheinen wie ihre Studenten. Aber Warten kann auch eine besondere Form der Prüfung sein.

Vier Tage waren allein für die Prüfung in Innerer Medizin angesetzt, und zwei Prüfer sollten sie unabhängig voneinander vornehmen. Wir wurden mit unserer Gruppe bei Professor Heni und Professor Eggstein eingeteilt. Beide waren als gefürchtete Prüfer bekannt.

Wie üblich hatten wir bei jedem Professor zuerst einen Patienten am Krankenbett zu untersuchen und das Krankheitsbild mit allen dazugehörigen Fragen zu besprechen. So lief es an jenem Maimorgen auch bei Professor Eggstein. Die anschließende Fragerunde brachten wir gut hinter uns und erhielten dann einen weiteren Termin für die theoretische Prüfung am selben Tag um 14 Uhr.

Wir standen pünktlich wenige Minuten vor der verabredeten Zeit vor dem Zimmer des Professors, aber er war nicht in seinem Zimmer. Nachdem eine halbe Stunde vergangen war, fragten wir bei einer Sekretärin nach und erfuhren, dass der Professor mit einem Notfall beschäftigt sei und bestimmt bald komme. Wir verbrachten die Zeit auf dem Flur und überlegten, was wir jetzt da draußen in diesem herrlichen Frühlingswetter alles tun könnten. Dann tauchten wieder medizinische Fragen auf, und wir bemühten uns, die Zeit einigermaßen sinnvoll hinter uns zu bringen. Nervosität, Ungeduld und einiger Ärger über die Unpünktlichkeit des Professors und die lästige Warterei wechselten einander ab.

Da kam der Professor schließlich um halb vier den Gang entlang geeilt und war verblüfft, dass wir noch da waren. Er hatte uns vergessen: „Ach, ich soll Sie ja prüfen! Aber das geht jetzt nicht, ich muss noch mal was Dringendes erledigen. Können Sie noch eine Weile warten? Ich komme wieder!“

Wir stimmten zu, und er rauschte davon. Eine weitere Zeit auf dem kahlen Flur tickte monoton wie die Uhr an uns vorbei. Halb fünf, halb sechs wurde es, und kein Professor kam. Ein langer Spaziergang beschäftigte uns. Zehn Meter hin, zehn Meter her. Die fünf langweiligen Kalenderdrucke in den billigen Kaufhausrahmen an den Flurwänden hatten wir mittlerweile so gründlich studiert, dass wir sicherlich eine haargenaue Beschreibung hätten abliefern können. Wir kamen uns vor wie im Gefängnis, wo die Zelle oder der Hof die große weite Welt darstellten. Meine Freunde hatten am offenen Fenster die Zigarettenschachtel leer geraucht und trauten sich nicht, den Flur zu verlassen, um am Automaten Nachschub zu holen. Was hätte das für einen Eindruck gemacht, wenn gerade in diesem Moment der Professor gekommen wäre?

Schließlich kurz vor sechs tauchte er wieder auf, hektisch und mit wehenden Mantelschößen, blieb kurz bei uns stehen und sagte eilig: „Also bitte warten Sie noch eine Weile, es ist mir ja auch nicht recht, aber ich muss noch mal weg.“ Und fort war er.

Was hätten wir auch sagen sollen? Wir hatten lange darüber diskutiert und waren schließlich übereingekommen, dass irgendein Widerspruch von uns nur die Chancen in der ohnehin gefürchteten Prüfung verringern könnte. Und so war uns klar, daß wir die Wartezeit aushalten und gute Miene zum lästigen Spiel machen müssen. Die Minuten tropften in den Nachmittag wie das Wasser aus dem lecken Hahn ins Waschbecken. Zu trinken hatten wir auch nichts!

Wir spielten auf dem Flur Fußball mit einem kleinen Steinchen, dass einem Vorbeilaufenden aus der Schuhsohlenrille gefallen war. Selten kamen Menschen vorbei, denn der Professor hatte sein Zimmer in einem abseits gelegenen Trakt des Hauses. Wir waren ganz auf uns gestellt. Wenn wir das gewusst hätten, wären wir sicherlich auf die eine oder andere Idee gekommen, etwas zum Zeitvertreib mitzubringen. Aber wir hatten nichts zum Lesen dabei und mussten die ganze Zeit stehend verbringen, weil es keine Stühle auf dem Flur gab. Auf den Boden zu sitzen, war angesichts der Lage und unseres schwarzen Anzugs auch nicht ratsam. Natürlich hatten wir angenommen, sofort zur vereinbarten Zeit dran zu kommen wie bei allen anderen Prüfern in den Wochen davor auch.

Die Zeit zog sich in die Länge wie gedehnter Kaugummi, und die häufigen Blicke auf die Uhr ließen sie auch nicht schneller laufen. Wir stellten uns vor, wie gut jetzt unter einem schattigen Baum im Garten ein leckerer Eiskaffee schmecken würde. Dort könnten wir in der Badehose liegen statt hier in diesem kahlen und ungastlichen Flur im dunklen Anzug herumzustehen und auf den großen Meister zu warten. Zwischendurch unterhielten wir uns über einige medizinische Fragen, um geistig „sprungbereit“ zu sein, falls der Herr Professor geruhen sollte, plötzlich aufzutauchen.

Die Stunden verrannen wie Sand im Uhrglas, viel zu langsam und ohne besondere Ereignisse. Je länger es dauerte, umso nerviger wurde die Situation. Die Sonne stieg zum Horizont hinunter, und durch das geöffnete Fenster zog ein kühlere Luft. Die Dämmerung ließ die Konturen des Flures gemächlich grauer und verschwommener werden, und dann entschlossen wir uns, das ungemütliche Flurlicht einzuschalten. Unsere Phantasie von einem kühlen Bierchen und einem ordentlichen Vesper unterhielt uns zwar eine Weile aber verbesserte unsere Stimmung nicht gerade. Wir hatten Hunger und Durst und waren sauer, weil es einfach nicht vorwärts ging und wir außerdem keine neuen Nachrichten hatten, ob wir denn heute überhaupt noch geprüft werden würden. Wir trösteten uns mit der rein theoretischen Überlegung, dass mit fortschreitender Zeit die Wahrscheinlichkeit immer größer wird, dass der mittlerweile ersehnte Professor tatsächlich kommt.

Da hörten wir etwa um zehn Uhr abends wieder Schritte den Gang entlang eilen. Sie kamen auf uns zu, wurden lauter und brachten den Professor mit. Wir waren gespannt auf seine Botschaft. Würde er uns jetzt endlich prüfen oder auf morgen vertrösten? Oder würde er noch einmal wegrennen und nachher vielleicht wiederkommen?

Er sagte freundlich: „Es tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten. Es ging wirklich nicht anders. Also, was machen wir jetzt? Ich will nach Hause, Sie sicher auch, und die Prüfung sollten wir auch hinter uns bringen. Ich weiß, dass Sie das Recht haben, unter diesen Bedingungen nach der langen Wartezeit die Prüfung jetzt zu verweigern, und wir müssten einen neuen Termin vereinbaren. Das müsste ich akzeptieren. Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag: Wenn Sie einverstanden sind, prüfe ich Sie jetzt! Wollen Sie?“

Wir schauten einander an und nickten. Bringen wir´s hinter uns! Morgen müssen wir vielleicht wieder warten. Also Augen auf und durch!

Der Professor öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer, und mich traf fast der Schlag! Das war das chaotischste Zimmer eines Chefarztes, das ich je vorher und nachher gesehen habe! Vor lauter Büchern, Zeitungen, Diakästen, Krankenakten und anderem Papierkram sahen wir kaum Möbel. Alle Sitzflächen waren belegt. Das Zimmer sah aus, als hätte eine Einbrecherbande den Goldschatz gesucht und aus lauter Zorn, ihn nicht gefunden zu haben, die Bude verwüstet.

„Jetzt müssen wir zuerst Platz schaffen. Legen Sie die Sachen einfach auf den Boden, dann können wir hinsitzen!“ meinte er und fing an, seinen Kram vom Sessel am Schreibtisch zu schaufeln. Er zog sich seinen Stuhl zu der kleinen Sitzgruppe, die wir freigeräumt hatten. Dafür musste er aber zuerst eine Straße auf dem Boden freipflügen.

Erwartungsvoll beobachteten wir, wie der Professor mit gezieltem Griff ein dickes Buch aus dem überfüllten und unordentlich eingerichteten Schrank zog, sich auf den Sessel fallen ließ, die Beine übereinander schlug und anfing, auf dem oberen Bein in dem schweren Wälzer zu blättern. Ein Blick genügte, um uns klar zu machen, dass wir dieses Buch mit seinen weit über 2000 Seiten sehr gut kannten: Es war der Gross-Jahn, das berühmte Tübinger Lehrbuch der Inneren Medizin. Nach diesem Buch hatten wir gelernt, weil wir wussten, dass fast alle Internisten, die als Prüfer für uns in Frage kamen, auch in diesem Buch als Autoren vertreten waren, so auch Professor Eggstein, der jetzt offensichtlich nach Themen für seine Fragen suchte.

Er ließ wahllos die Finger zwischen den Seiten entlang laufen, überflog Überschriften und stieß dann wie ein Adler auf die Maus zu: „Da!“ sagte er und deutete auf eine Seite, die wir nicht sehen konnten. „Das wär doch was! Also, wer fängt an? Ach, machen wir´s einfach von links nach rechts!“ Und schon schoss er die erste Frage ab wie einen Pfeil, der verwunden, töten oder vorbeifliegen kann. Sein waches Auge beobachtete die Wirkung der knappen Frage wie ein konzentrierter Golfspieler, der dem abgeschlagenen Ball hinterherschaut, um ihn ohne Suchen weiterspielen zu können.

Der erste von uns fing den Ball, Verzeihung: die Frage auf und antwortete kompetent. Der Professor blätterte weiter, fand wieder ein Stichwort, das ihm passte, und schaute auf: „Die nächste Frage! Der nächste Kollege!“ Auch damit konnte mein Freund, der jetzt dran war, gut umgehen. Er antwortete ebenso gut wie sein Vorgänger. Inzwischen hatte ich Zeit, über die Art der Fragen nachzudenken. Mir fiel auf, dass nur Raritäten gefragt wurden, und ich wusste ganz genau aus dem umfangreichen Buch, dass die extrem seltenen Krankheitsbilder, die der Professor wissen wollte, dort mit höchstens zehn Zeilen erwähnt waren. Das war sehr gefährlich!

Ich dachte, wenn der Professor nur „Fußnoten“ aus dem überdimensionalen Buch abfragt, dann spielen wir hier verschärftes Russisches Roulette, nämlich mit fünf scharfen Kugeln und sechs möglichen Schüssen! Ich war gespannt, wie die Qualität der Fragen sich weiter entwickelte, denn ich war der letzte in der ersten Fragerunde. Jeder von uns bekam nur eine Frage in dieser ersten Runde, dann ging das Zielrohr des Professors weiter zum nächsten Kandidaten.

Auch die dritte Frage betraf wieder eine Rarität, und der Dritte in unserem Bunde konnte auch richtig antworten. Dann kam ich dran und erhielt auch eine „Fußnotenfrage“! Aber ich war vorbereitet und schaffte die Runde so gut wie meine Freunde. Wir atmeten auf: Soweit war der Einstieg prima gelaufen. Wie würde es jetzt weitergehen?

Da lehnte sich der Professor zurück und lächelte: „Sie wundern sich wahrscheinlich, warum ich so ausgefallene Fragen stelle. Wissen Sie, ich will nach Hause und Sie auch, und bei der Prüfung am Krankenbett waren Sie alle sehr gut. Ich prüfe Sie jetzt einfach auf eine Eins. Das schaffen Sie oder eben nicht!“ So einfach ist das, dachte ich: Er hatte die Messlatte gleich ganz oben aufgelegt, das konnte ja noch eine heiße Nacht werden! Meine innere Anspannung stieg spürbar.

Professor Eggstein ließ uns keine Zeit zur Erholung: „Also, noch eine Runde!“ Sein suchender Finger und sein rasches Blättern führten ihn zu den nächsten Fragen wie in der ersten Runde auch, und wir spielten mit. Auch bei seinen wenigen Zwischenfragen blieben meine Freunde ihm keine Antwort schuldig. Dann war ich wieder der letzte in diesem Durchgang. Er schlug das Buch zu.

„Herr Weller, was sind chologene Durchfälle?“ Die Frage traf mich wie ein Keulenschlag. Den Begriff kannte ich nicht, und ich war mir sehr sicher, dass dieses Krankheitsbild nicht in unserem Lehrbuch stand.

Wie von einem grellen Blitzlicht beleuchtet schoß mir helfend ein Erlebnis meines Vaters durch den Kopf, das er mir prägend erzählt hatte. Seiner Gruppe war in der Inneren Medizin ein Wiederholer angehängt worden, der bei der ersten Prüfung durchgefallen war. Professor Bock, der frühere Direktor der Tübinger Medizinischen Klinik, fragte diesen Kollegen: „Stellen Sie sich vor, dort auf dem Sofa liegt ein bewusstloser Patient. Sie kommen dazu. Was machen Sie?“

Der Prüfling suchte das Sofa, das nur in der Phantasie des Professors existierte. Nach einer ganzen Weile, in der der Kandidat ratlos und nervös im Raum herumschaute und nach der Antwort suchte, fragte Professor Bock: „Herr Kollege, brauchen Sie ein Buch?“ Froh über den angebotenen Strohhalm griff der Prüfling danach: „Ja, bitte!“ Der Professor zeigte großzügig auf seine überdimensionale Bibliothek, die eine ganze Wand von oben bis unten füllte: „Alles steht zu Ihrer Verfügung!“ Der Prüfling stand auf und begann oben links zu suchen, während der Professor ruhig auf seine Uhr schaute. Nach einer Weile sagte Professor Bock: „Herr Kollege, jetzt sind fünf Minuten um. Der Patient ist tot. Wir brauchen Sie nicht mehr.“

Der Kollege verließ geschlagen den Raum, wohl wissend, dass er nicht nur in dieser Prüfung, sondern wegen der nicht bestandenen Wiederholung endgültig im ganzen Staatsexamen durchgefallen war.

Als die Tür wieder geschlossen war, ließ Professor Bock seinem Ärger freien Lauf: „Wir können keine Ärzte gebrauchen, die in einer Notsituation nicht reagieren und die sich ein solches Gedankenspiel nicht einmal vorstellen können! Ich hätte jede Variante eines Bewusstlosen mitgespielt. Er hatte alle Möglichkeiten, irgendeine Ursache für Bewusstlosigkeit anzunehmen! Selbst das Buch hätte ich ihm noch aus dem Schrank geholt, wenn er mir gesagt hätte, nach welchem er sucht. Denn dass er ´sein Buch´ in meiner riesigen Bibliothek nicht sofort findet, ist logisch!“

Mir war klar: Ich musste mein Wissen um diese Frage herum einsetzen, wenn ich das Zentrum der Frage nicht beantworten konnte. Jetzt war ich hellwach und voll einsatzfähig. Dies war die Stunde der Wahrheit.

Ich begann bedächtig und scheinbar überlegen: „Also chologen bedeutet, dass es von dem griechischen Wort chole = die Galle  kommt. Die Durchfälle werden von der Gallenflüssigkeit hervorgerufen.“ Das war doch ein guter Einstieg.

„Richtig,“ meinte Professor Eggstein, „und wie funktioniert das?“ Ich holte Luft, packte mein ganzes biochemisches und pathophysiologisches[1] Wissen über die Gallensäuren und Erkrankungen der Gallenblase aus und leitete eine Ursachenkette her, die in sich logisch und von deren Richtigkeit ich überhaupt nicht überzeugt war. Ich machte einige Randbemerkungen über verwandte Krankheiten und deren Therapien und versuchte, so viel Wissen wie möglich in meine Antwort hineinzufügen.

Nach einer ganzen Weile beendete ich meine Ausführungen mit einem zusammenfassenden Satz. Wie würde der gestrenge Prüfer reagieren? Ich spürte, dass ich inzwischen schweißnasse Hände und am Rücken ein feuchtes Hemd hatte, und mein Herz raste.

Professor Eggstein lächelte zum zweiten Mal an diesem Abend: „Also, Herr Weller, ich habe gleich gemerkt, dass Sie es nicht wissen, aber es hat mir imponiert, dass Sie sich nicht haben drausbringen lassen. Es war gut, wie Sie Ihr umfassendes Wissen benutzt haben, um die Antwort zu erklären. Die biochemische Kette war in sich völlig logisch, aber Sie sind ganz oben in der Kette in die falsche Stelle eingestiegen. Alles, was Sie über andere Krankheiten erzählt haben, war auch folgerichtig, deshalb weiß ich jetzt, dass Sie logisch und umfassend  medizinisch  und pathophysiologisch denken und kombinieren können, und das ist mir am wichtigsten.

Ich erkläre es Ihnen kurz: Gallensäuren sind hygroskopisch, also wasseranziehend, und wenn der Mensch zu viele Gallensäuren produziert und in den Dünndarm ausscheidet, ziehen sie viel Wasser aus dem Darm und dem umgebenden Gewebe nach sich und verursachen so sehr wässrige Stühle. Chologene Durchfälle sind sehr selten, deshalb habe ich danach gefragt.“

Ach, du meine Güte, das war ja einfach, und ich hatte im Vergleich dazu eine riesige Geschichte hergeleitet! Wie würde Professor Eggstein jetzt weitermachen? Noch eine Fragerunde oder Schluss der Prüfung? Er schaute auf die Uhr: „Oje, schon elf! Machen wir Schluss! Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen allen eine Eins gebe und Sie freundlich rauswerfe, damit wir endlich alle nach Hause kommen?“ Erleichtert stimmten wir zu: „Ja gerne! Danke!“ Wir waren uns natürlich einig: mit der Eins und dem freundlich gemeinten Rauswurf. Wir verabschiedeten uns in guter Stimmung, weil die Prüfung zwar schwierig aber doch sehr sachlich, fair und wesentlich schneller vorüber war als sonst üblich.

Als wir schon die Tür geöffnet hatten und dabei waren hinauszugehen, sah ich, wie Professor Eggstein aus seinem überquellenden Papierchaos auf dem großen Schreibtisch zwischen unzähligen Blättern von losem Papier mit spitzen Fingern ein Dia hervor zog und begeistert ausrief: „Halt, noch eine Frage!“

Wir erschraken! Noch eine Falle?! Was kommt jetzt? Aber da sahen wir sein freundliches Gesicht und hörten, wie er ganz interessiert berichtete: „Heute morgen habe ich ein ganz tolles Dia bekommen, das ich neulich aufgenommen habe. Das will ich Ihnen noch zeigen. Sie verstehen das. Also, keine Angst, die Prüfung ist vorbei, Sie bekommen Ihre Eins, aber trotzdem außer Konkurrenz die Frage: Wer weiß, was das ist?“

Jeder von uns schaute das Bild an, gegen das ungemütlich kalte Licht an der Decke gewandt. Ich sah verwaschene Strukturen, die ich nicht zuordnen konnte. Vielleicht innere Organe? Aber welche? dachte ich und reichte das Dia kopfschüttelnd weiter. Der Professor hatte ja keinerlei Angaben zu der Art der Aufnahme oder dem Patienten gemacht. Drei aus unserer Gruppe wussten keine Antwort. Nur Hami, unser Spezialist für die extrem seltenen Krankheitsbilder, sagte fast sicher und ohne wesentliches Zögern: „Ist das ein Cruveilhier-Baumgarten-Syndrom[2]? Dann müsste es eine Laparoskopie-Aufnahme des Nabels bei Ascites sein, bei der von innen gegen die Bauchwand geschaut wird.“

Professor Eggstein war total überrascht und begeistert über diesen Volltreffer und zeigte seine ehrliche Anerkennung sofort: „Was, das erkennen Sie?! Es ist ja phantastisch! Ich hätte nicht gedacht, dass einer von Ihnen diese Diagnose rauskriegt! Das habe ich hier auch zum ersten Mal im Leben gesehen!“ Er war sichtlich hocherfreut, gar nicht mehr der strenge Professor, sondern der faszinierte Entdecker einer Seltenheit, der sich an der Kennerschaft eines Kollegen mitfreute. Ich war schon beruhigt, dass ich das Syndrom, auch wieder eine „Fußnote“ in unserem Gross-Jahn, genau hätte erklären können, aber ich habe es auf dem Bild nicht identifiziert.

„Also, raus jetzt!“ lachte Professor Eggstein und öffnete die Tür: „Gute Nacht, und weiter alles Gute bei den nächsten Prüfungen!“ Er schickte uns mit einem wohlgemeinten Gruß nach Hause.

Bei aller Erleichterung, diese schwierige Hürde der Prüfung so gut überwunden zu haben, waren wir in unserer Freude sehr aufgewühlt und konnten nicht einfach ins Bett gehen und schlafen. Also schlug ich vor, zu mir zu fahren, denn meine Wirtin war wie oft schon in den Jahren davor für einige Wochen zu Bekannten nach Lübeck gereist, und da durften mein Zimmernachbar Helge und ich auch das große Wohnzimmer benutzen. Das wollten wir heute zur Feier des Tages auch nützen.

Als wir dort ankamen, telefonierte ich trotz der vorgerückten Stunde meinen Eltern, um ihnen von der nächtlichen Prüfung zu berichten. Sie waren noch wach und freuten sich mit uns. Dann öffneten wir die Weinflasche und genossen unseren Sieg, der ja eigentlich nur ein Etappensieg war, denn die meisten der Prüfungen standen uns noch bevor.

Als wir gerade dabei waren, uns noch einmal die Geschichte dieses Nachmittags und Abends zu erzählen, klingelte das Telefon, ich hob ab, und meine Mutter sagte: „Ich will euch nur berichten, dass der Vater so begeistert war von eurer Geschichte, dass er aufgestanden ist und gesagt hat: ´Mit denen muss ich jetzt feiern, da fahr´ ich hin.´ Dann ist er in den Keller gegangen und hat ein paar Flaschen Wein hoch geholt, ein großes Stück Käse eingepackt und einen Laib frisches Brot, den er heute von einem Bauern geschenkt bekommen hat. Jetzt ist er unterwegs zu euch. Er will mit euch ein Viertele trinken und dann wieder heimkommen. Ihr könnt noch nicht ins Bett gehen! Er ist in etwa zwanzig Minuten bei euch!“

Tatsächlich fuhr mein Vater durch die Nacht zu uns, und wir empfanden es wie ein willkommenes Fest, als er hereinkam, seine Gaben auf den Tisch stellte und mit Blick auf die mitgebrachten Weinflaschen schmunzelte: „Ihr müsst sie ja nicht alle sofort austrinken!“ Wir freuten uns, dass er bei uns saß und wir unsere Geschichten erzählten und ihm bei seinen Erinnerungen zuhörten. Nebenbei konnten wir unseren Hunger und Durst stillen. Und das im Holzofen gebackene, würzige Bauernbrot mit der knusprigen Rinde und der frischen Butter, dazu der gespendete Württemberger Trollinger und der große Laib Käse aus jener Nacht sind mir immer noch als Delikatesse in lebhafter Erinnerung. Es wurde für uns eine fröhliche Nacht, auch als mein Vater nach seinem Viertele -oder waren es vielleicht doch zwei?- nach Hause aufgebrochen war.



[1] Pathophysiologie: die Lehre von den krankhaften Stoffwechselvor-
gängen

[2] Nach den Entdeckern benannte Form der Leberzirrhose, die mit an
geborenen offenen Nabelvenen im Bauchraum bei sonst normalem
Nabel verbunden ist. Diese Venen verschließen sich normalerweise
nach der Geburt und stellen in der geschilderten Kombination eine
extreme Rarität dar, die nur bei Operationen oder einer Bauchspie-
gelung (= Laparoskopie) gefunden werden kann. Sehr häufig ent-
steht bei einer fortgeschrittenen Leberzirrhose eiweißhaltiges Was-
ser im Bauch (= Ascites). Es war also, wie wir Ärzte salopp sagen,
eine „Unterwasseraufnahme“ im Bauchraum.

 

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

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