Gerichtsmedizin

In manchen Vorlesungen gibt es mehr zu bemerken und zu lernen an der Art, wie ein Dozent vorträgt, als an dem Inhalt, den er sachlich vermittelt.

Besonders eindrucksvoll und schrecklich habe ich die Szenen aus meiner Wiener Studienzeit im Gedächtnis, als ich in der Gerichtsmedizin saß und zuhörte, wie Verbrechen begangen und aufgeklärt werden. Es war oft spannend wie im Kriminalfilm, den detaillierten Ausführungen zu folgen und gedanklich den medizinischen, chemischen und kriminologischen Schlüssen nachzugehen, die vor uns mit Tatsachenberichten ausgebreitet wurden. Ich las zu dieser Zeit auch einige gute Bücher von berühmten Gerichtsmedizinern, die fesselnd über die vielseitigen Detektivarbeiten und oft schauerlichen Ereignisse und ihre manchmal völlig verblüffende Aufklärung berichteten.

Aber so packend diese Schilderungen waren, so sehr haben mich die unübertrefflich zynischen Bemerkungen eines Dozenten angewidert, die sehr deutlich werden ließen, wie er die Grausamkeit und eiskalte Berechnung einiger entsetzlicher Verbrecher nur durch eine groteske Berichterstattung ausgleichen und ertragen konnte.

Ich erinnere mich, wie der Dozent großformatige Dias auf die Leinwand warf von einem Säuglingsmord, den ein Metzgerlehrling begangen hatte. In Nahaufnahmen waren die kleinen Leichenteile aufgenommen, und der Dozent sagte mit einer klirrenden Stimme zynisch-bewundernd: „Beachten Sie bitte, wie fantastisch genau er das Kind zerlegt hat. Also hier hat er wirklich ein hervorragendes Gesellenstück hingelegt. Gezielte Schnitte genau in den Gelenkspalten! Und vollständige Arbeit hat er geleistet, er hat alle Extremitäten einzeln und seitengleich zerlegt, richtig exakt symmetrisch! Deshalb habe ich das auch so schön drapiert und fotografiert, damit sie die anatomische Kunst unseres Helden auch angemessen bewundern können. Ist das nicht großartig?“

Bei allem Verständnis für geistige Abwehrmechanismen, aber dieser Zynismus war wirklich entwürdigend und geschmacklos! Mir wurde schlecht, und ich war so mit mir beschäftigt, dass ich gar nicht bemerkte, wie es meinen Kollegen im Hörsaal erging.

In derselben Vorlesung folgte danach eine Bilderserie von einem Mann, der sich selbst mit einer Axt so lange auf einem Hackblock in der Werkstatt auf den Hinterkopf geschlagen hatte, bis er tot war. Geradezu genüsslich genaue Detailfotos von dem zertrümmerten Schädel und dem blutbespritzten Raum brachten den Dozenten zu der Bemerkung: „Ja, da möchte ich doch mal die Kolleginnen hier im Hörsaal fragen, welches Putzmittel sie hier empfehlen würden.“

Das war meine letzte Gerichtsmedizinvorlesung, die ich in Wien besuchte. Als ich wieder in Tübingen war, machte ich in der Vorlesung von Professor Mallach noch einen Versuch und erlebte eine angenehme Überraschung. Er konnte mit der schwierigen Problematik überlegen umgehen, und seine Erklärungen und Schilderungen waren dem Ernst der Lage und des hochinteressanten Faches und der Würde des Menschen angepasst.

Ihm verdanke ich auch eine sehr sympathische Begegnung. Beim mündlichen Staatsexamen mussten wir uns von ihm prüfen lassen. Wir hatten am frühen Nachmittag den Termin, und der Sommer war sehr heiß. Wie sich das damals gehörte, traten wir vier Prüflinge aus der Gruppe 13 (das war unsere Glückszahl!) natürlich im dunklen Anzug mit Krawatte an und hofften sehr, dass wir rasch wieder ins Freie kommen würden, um uns umzuziehen und Erleichterung in der Kleidung zu haben.

So standen wir pünktlich dem Herrn Professor gegenüber, und sicherlich hatte auch die Prüfungssituation und nicht nur die abgestandene Sommerhitze in der Innenstadt etwas damit zu tun, dass uns Schweißperlen auf der Stirn standen. Uns war in mehrerlei Hinsicht heiß, denn wir wussten aus Erzählungen von Kollegen, dass Professor Mallach ein sehr scharfer Prüfer sein konnte.

Ich war sehr überrascht, dass er uns mit weit offenem, bunt geblümtem Freizeithemd, lockerer heller Hose und barfuß auf ausgetretenen Sandalen entgegenkam. Er begrüßte uns freundlich, und in seinem ersten Satz hörten wir den gespielt ernsten Befehlston: „Also zuerst mal Jackett aus, Krawatte runter, Ärmel hoch und Hemd auf! Hier gibt´s was zu trinken!“ Mit diesen Worten stellte er Apfelsaft und Sprudel und große Gläser auf den Tisch, lachte und setzte sich mit übereinander geschlagenen Beinen zu uns an den Tisch.

Die Spannung war verflogen, und die Prüfung verlief sachlich, freundlich und unkompliziert.

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht

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