Im Stau

Was für ein prächtiges Wetter, dachte Beate und genoss den Fahrtwind in der Sommersonne, während sie durch die grüne Landschaft fuhr. Sie freute sich an ihrem gelben Cabrio, und noch mehr war sie von der Idee begeistert, heute Abend bei ihrer früheren Studienfreundin Dragica in Maribor anzukommen und mit ihr ein paar Tage Urlaub zu machen.
Da vorn blinkten Warnlichter an den Autos! Beate bremste langsam, ließ den Wagen ausrollen und kam hinter einer langen Schlange von Wagen zum Stehen. Sie stellte das Radio an, um die Staumeldungen zu hören und schaute sich um: Rechts neben ihr stand ein älteres Ford-Modell mit einem jungen Pärchen, die freundlich zu ihr herüber lächelten.
Da wurde die Musiksendung unterbrochen: „Auf der Autobahn von Graz nach Maribor kurz vor der österreichisch–slowenischen Grenze Vollsperrung wegen eines brennenden Lastzugs! Der Brand ist gelöscht. Die Bergungsarbeiten haben begonnen. Mit einem länger dauernden Stau muss trotzdem gerechnet werden. Der Stau beträgt zehn Kilometer.“
Ach du meine Güte, auch das noch!, schoss es Beate durch den Kopf. In diesem Moment drehte der junge Mann im Auto nebenan die Scheibe herunter: „Haben Sie die Verkehrsmeldung gerade gehört?“ – „Ja!“, antwortete Beate. „Da können wir nicht einmal die Autobahn verlassen, die nächste Ausfahrt ist zehn Kilometer entfernt.“
Sie sah, wie die junge Frau etwas zu ihrem Partner sagte, er nickte und drehte sich zu Beate: „Wir trinken jetzt einfach Kaffee. Karin hat eine volle Thermoskanne dabei, und ein paar Stückchen Kuchen können wir auch anbieten. Dürfen wir Sie einladen?“ „Ja, gern“, antwortete Beate, stellte den Motor ab und während die junge Frau einen Korb vom Rücksitz hob, stellte der Mann einen Klapptisch und einfache Hocker aus dem Kofferraum neben dem Auto auf die Straße auf. Offensichtlich hatten auch andere Autofahrer die Meldung gehört. Es wurden Türen geöffnet, Menschen stiegen aus, vertraten sich die Beine und sprachen miteinander.
Der junge Mann stellte sich und seine Partnerin vor: „Ich heiße Frieder, und das ist Karin!“ Während Karin den Tisch deckte, fragte Frieder: „Wo willst du denn hinfahren?“ – „Nach Maribor zu einer Freundin. Ich hoffe, ich schaffe das heute noch bei dem Stau! Und ihr?“ „Wir besuchen Karins Schwester in Slowenien!“
Er deutete auf den Tisch: „Lass uns jetzt mal Pause machen, wenn es schon nicht weiter geht.“ Karin und Frieder setzten sich so, dass Beate auf ihrem Hocker die Ford-Autotür als Lehne benutzen konnte. „Na, das ist ja bequem! Schon bin ich im Urlaub!“, sagte sie und genoss die Sonne! – Sie plauderten miteinander, tranken Kaffee, aßen Apfelkuchen, und Beate machte sich Gedanken über die beiden Gastgeber. Frieder und Karin schätzte sie auf Anfang dreißig. Beide trugen blaue verwaschene Jeans, bunte Hemden und leichte Lederstiefel. Sie hatten strähnige Haare, die eine Wäsche verdient hätten – genauso wie die Hemden und Jeans.
In der Nachmittagswärme krempelte Frieder die Ärmel hoch, und Beate sah blaue Flecken in der Ellenbeuge, sagte aber nichts dazu. Sie störte sich eher an den ungepflegten Händen mit den schwarzen Fingernägeln, die bei Karin von schrill bemalten Fingernägeln überdeckt waren. Ziemlich schmuddelig, schoss es Beate durch den Kopf. Frieder stand öfters auf und machte sich an seinem Auto zu schaffen, und Beate war mit Karin im Gespräch vertieft, die sich genau erklären ließ, was Beate an der Uni in Graz arbeitet.
„Ja“, seufzte Karin, „ich hab auch mal Germanistik studiert, aber nach zwei Semestern habe ich aufgegeben, weil ich krank wurde.“
So verging mit Plaudern eine Stunde, bis Frieder plötzlich sagte: „Schaut mal, da vorn bewegt sich die Schlange! Wir sollten einpacken.“
Frieder verstaute den Tisch und die Hocker, sie verabschiedeten sich, und Beate bedankte sich für den Kaffee und die Unterhaltung. Nach ein paar Minuten setzte sich die Autoschlange langsam in Bewegung. Frieder überholte bei der ersten Möglichkeit rasch die vorderen Autos und verschwand aus Beates Blick.
Auf dem Weg kam sie an dem ausgebrannten Lastwagen vorbei und erreichte nach einer Viertelstunde die Grenze. Dort war sie überrascht, wie viele Zöllner auf der österreichischen Seite der Grenze standen, dazu noch mit Maschinenpistolen bewaffnet. Sie fuhr im Schritttempo weiter. Als sie kurz vor dem Grenzhäuschen angekommen war, versperrten ihr zwei Zöllner den Weg, und ein dritter, neben dem ein Polizeihund stand, stellte sich neben sie und sagte mit scharfem Ton: „Hände hoch! Steigen Sie aus!“ Sie erschrak über den schroffen Befehlston. Der Zöllner öffnete ihre Autotür, sodass sie mit erhobenen Händen aus dem Wagen steigen konnte.
„Was wollen Sie von mir? Ich bin doch keine Verbrecherin!“, sagte sie verängstigt.
„Das werden Sie gleich hören und sehen!“, schnarrte er zurück. „Stellen Sie sich zwei Meter vom Auto weg, und schauen Sie zu, was jetzt geschieht.“
Sie gehorchte und sah, wie zwei Zöllner mit raschen Griffen ihren Koffer und zwei Taschen vom Rücksitz nahmen und einen kleinen blauen Reisebeutel zwischen ihren Gepäckstücken hervor zogen. Diesen schwenkte er vor Beates Augen hin und her und sagte: „Und was ist das?“ –
Beate erschrak: „Das gehört mir nicht!“ antwortete sie mit fester Stimme.
„Kommen Sie mal mit!“, forderte sie der Zöllner mit einer schwenkenden Bewegung seiner Maschinenpistole zum Zollhaus auf. Beate folgte ihm verwirrt.
Im Haus klappte die Tür hinter ihr zu, ein Zöllner versperrte ihr den Weg, ein anderer legte die blaue Tasche auf den Tisch, öffnete sie und zog mehrere kleine weiße Beutel und ein Handy heraus.
„Hasso, was sagst du denn dazu?“, fragte der Zöllner den Schäferhund und ließ ihn an den Beuteln schnuppern. Der Hund setzte sich auf die Hinterbeine und begann laut zu bellen.
„Möchten Sie gleich ein Geständnis ablegen, oder sollen wir Sie verhören?“ Der Zöllner blieb ruhig und sachlich. Das machte Beate Angst.
„Das ist Rauschgiftbesitz in erheblichem Ausmaß. Ausführen wollten sie die Drogen auch, Das ist eine typische Dealermenge, die Sie mit sich führen! Sie hätten damit richtig Geld gemacht in Slowenien. Da hat der Staatsanwalt in Graz lohnende Arbeit!“
Beate schnappte nach Luft, so wütend war sie über die ungerechte Anschuldigung. „Der Beutel gehört mir nicht, glauben Sie mir doch!“
„Das erzählen Sie dem Richter!“
Der Zöllner schaute sie unerbittlich an. Beate spürte plötzlich, in welche ausweglose Situation sie geraten war. Sie konnte nicht beweisen, dass der Beutel nicht ihr gehört. Sie spürte ihren trockenen Mund, den Schweiß auf ihrem Rücken. Sie bekam einen roten Kopf. Sie wollte nur raus hier! Aber der Schäferhund stand neben dem bewaffneten Zöllner vor der Tür und zeigte ihr knurrend seine langen Fangzähne. Die nackte Angst kroch in ihr hoch. Sie begann zu weinen.
„Na, dann setzen Sie sich mal hier hin!“, sagte der Zöllner plötzlich freundlich und deutete auf einen Stuhl: „Sie haben Glück gehabt!“ –
„Wie das denn?“, fragte Beate wütend, „Glück nennen Sie das, hier angeklagt zu sitzen wegen eines Rauschgiftdeliktes, das ich nicht begangen habe?“
„Nein, weil sie zwei Helfer haben!“
„Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Zwei Helfer? Hier sind doch alle gegen mich!“ Beate schüttelte den Kopf.
Er öffnete die Tür, zwei sportlich gekleidete Männer kamen herein, die Beate auf etwa Mitte dreißig schätzte. Sie lächelten freundlich und begrüßten Beate mit Handschlag.
„Erkennen Sie uns wieder?“, fragte der eine.
Beate zögerte, musterte die Männer von oben bis unten und schüttelte den Kopf: „Nein, ich habe Sie noch nie gesehen!“ Und nach einer kleinen Pause fügte sie aufgeregt hinzu: „Was machen Sie hier mit mir?“
„Wir helfen Ihnen! Schauen Sie mal, was wir hier haben.“ Er zog eine kleine Videokamera aus der Tasche und schaltete sie ein.
Da sah Beate in dem kurzen Videoclip, wie sie mit Frieder und Karin am Straßenrand sitzt, Kaffee trinkt, mit Karin plaudert und Frieder aufsteht und hinter ihrem Rücken aus seinem Auto den kleinen blauen Beutel nimmt, sein Handy hinein legt und den Beutel unter ihre Taschen auf dem Cabriorücksitz steckt.
Sie schrie entsetzt: „Die haben mich reingelegt! Das ist ja eine üble Schweinerei!“
„Stimmt genau! Und wir haben das Ganze gefilmt.“ –
Sie fragte verwundert: „Wie konnten Sie so schnell reagieren, das zu filmen?“
Der Mann lächelte: „Wir sind zivile Drogenfahnder und hatten das Pärchen schon länger im Visier. Deshalb sind wir ihnen auf die Autobahn gefolgt, blieben im Stau hinter Ihnen ihm Auto sitzen und warteten nur darauf, dass den beiden kurz vor der Grenze irgendein Trick einfällt, um ein krummes Ding zu drehen. Die Kamera hatten wir schon schussbereit. Die beiden, die Sie so freundlich zum Kaffee eingeladen haben, ließen gezielt den Hocker für Sie frei, wo Sie mit dem Rücken zu dem Ford sitzen mussten und nicht sehen konnten, was der Mann machte, während die Frau sie im Gespräch ablenkte.“
Beate schüttelte den Kopf: „Das ist ja unglaublich!“ Sie brauchte eine ganze Weile, bis sie erkannte, dass die beiden Männer tatsächlich ihre Retter waren.
Der Fahnder erzählte weiter: „Von unterwegs haben wir hier den Grenzposten verständigt. Meine Kollegen haben das Pärchen schon abgefangen und verhaftet. Die beiden Gauner hätten das Handy im Beutel über die Handyortung hinter der Grenze rasch gefunden und Ihnen den Stoff wieder abgenommen. Ihnen wollten wir nur zeigen, was passiert, wenn man zu gutgläubig ist. Sie dürfen natürlich sofort weiterfahren. Ihre Personalien haben wir schon über die Autonummer ermittelt. Zeigen Sie mal Ihren Ausweis, ob Sie auch die Beate Schöntag sind, der das Auto gehört. Dann sehen wir uns bei dem Prozess wieder!“
Jetzt lachten alle Männer, und Beate wusste nicht, ob sie wütend oder dankbar sein sollte. Ihr gelang nur ein gezwungenes Lächeln und ein erleichtertes „Danke!“
Als sie wieder in ihrem Auto saß und das Zollhaus aus ihrem Rückspiegel verschwunden war, flog ein zufriedenes Lächeln über ihr Gesicht. Welch ein Glück, dass die Zöllner unter der Abdeckplatte in ihrem Kofferraum die russischen Ikonen nicht gefunden hatten!

 

Die Geschichte entstand in der Schreibwerkstatt. Das Thema für die Hausaufgabe lautete „Im Stau“.

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