Macht und Ohnmacht in der Medizin

Selten liegen Beispiele für unsere Macht und Ohnmacht so vielzählig und offen zutage wie in der Medizin, wenn es um unsere Gesundheit und Lebensqualität und unser Sterben geht. Vor der technologisch bestimmten Zeit halfen sich die Menschen mit Gebeten, Opfergaben und mehr oder weniger sinnvollen Verhaltensregeln, eine kranke Person auf den Weg der Gesundung zu bringen oder ihr Linderung beim Sterben zu spenden. Später entdeckten sie Kraft der Naturheilkunde, die auch heute die Schulmedizin in einzelnen Bereichen ergänzen, weil sie manche nachprüfbare Erfolge ermöglicht.

Bei dem Diabetes mellitus können wir mit Medikamenten und sorgfältiger Blutzuckerkontrolle, verbunden mit genau dosiertem Insulin die Spätfolgen vermeiden oder zumindest hinausschieben. Noch als junger Arzt erlebte ich auf meiner Station einen 25-Jährigen Diabetiker, der fast blind wegen einer Netzhautgefäßschädigung und mit einer schweren Nierengefäßschädigung in der Urämie starb, weil er seinen Diabetes nicht behandelt hatte. Manche Patienten sind sogar ohne Medikamente erfolgreich, wenn der Diabetes durch unvernünftige Ernährung und Lebensweise im Rahmen eines metabolischen Syndroms entstanden ist. Ich kenne bewundernswerte Patienten, die durch Umstellung ihrer Lebensweise und ihres Speiseplans wieder ihr Idealgewicht erreicht haben und so ganz auf die Fettsenker, Antidiabetika und Antihypertonika verzichten können.

Unsere Macht der Gedanken und des Willens ist beeindruckend. Es ist bewiesen, dass Menschen mit positiver Lebenseinstellung weniger Nebenwirkungen von Medikamenten, auch von Chemotherapie!, haben als negativ eingestellte. Wir wissen durch psychoneuroimmunologische Forschungsergebnisse, dass negative Gedanken messbar schlechten und positive Gedanken messbar guten Einfluss auf unser Immunsystem haben. Das zeigt sich schon nach Anschauen eines Horrorfilms und eines Naturfilms. Und wie viele Horrorfilme drehen sich die Menschen ständig, wenn sie Angst haben?! Sie versorgen ihr Unterbewusstsein dauerhaft mit Katastrophenbildern. Und da das Unterbewusstsein Verneinungen nicht kennt, sondern das anstrebt, was es „sieht“, ist Angst eine hochwirksame Suggestion, die zur Erfüllung der Angstvisionen führt. Das ist die Grundlage der selbsterfüllenden Prophezeiung. – Diese Macht der Gedanken ist ein außerordentlich wichtiger und wirksamer Faktor bei der Lebensführung und natürlich auch beim Verlauf von Erkrankungen.

Bei den Malignomen verzeichnet die Forschung zunehmende Fortschritte. Mit frühzeitigen Operationen, Chemotherapie und Bestrahlungen – je nach histologischem Typ und entsprechend der Ansprechbarkeit des Tumors – gibt es immer mehr Erfolge. Dabei ist es mir sehr wichtig, nicht nur von Erfolg zu sprechen, wenn der Patient Lebenszeit gewinnt. Die Lebensqualität ist meines Erachtens mindestens ebenso wichtig. Was nützt es dem Menschen, wenn er reanimiert wird und dann im Wachkoma weiterlebt? Was hilft es ihm, wenn er einen Monat länger, aber mit qualvollen Schmerzen und anderen stark beeinträchtigenden Symptomen lebt?

Biopharmazeutika, die sogenannten Biologicals, werden mit großem technologischen Aufwand sowie aufwändigen Entwicklungs- und Fertigungsmethoden hergestellt. Sie sollen gezielt in die Vorgänge des Körpers und speziell in die Genetik des Tumors eingreifen. Produziert werden Proteine und Nukleinsäuren. Diese können in der Diagnostik und für die Therapie eingesetzt werden, so z.B. in der Krebsbekämpfung. Es können auch veränderte menschliche Zellen dazu gerechnet werden, z.B. wenn eigene Blutzellen im Zuge eines adoptiven Zelltransfers dem Körper entnommen, im Labor genetisch verändert, vermehrt und wieder verabreicht werden, z. B. die CAT-Lymphozyten bei Behandlung von bestimmten Leukämien.[1] Patienten mit chronisch myeloischer Leukämie werden keine Stammzellen mehr transplantiert, sondern sie erhalten die neuen biologischen Medikamente mit gutem Erfolg.

Wir dürfen gespannt sein, welche Entwicklung die Genetik in der Medizin macht, wenn schon jetzt die Präimplantationsdiagnostik mit ihren guten und schlechten Möglichkeiten hohe Wellen der moralisch-ethischen Diskussion auslöst. Und wenn man seit Jahren schon Schafe klonen kann – Dolly lässt grüßen! -, wird es sicherlich bald auch geklonte und genetisch verbesserte Menschen geben. – Wohlgemerkt, das wird unabhängig von gesetzlichen oder ethischen Diskussionen stattfinden. Das Murphy´sche Gesetz[2] gilt auch in der Genetik und im Umgang mit ihren Möglichkeiten.

Der Nobelpreis für Medizin ging 2018 an den US-Wissenschaftler James P. Allison und den japanischen Forscher Tasuku Honjo. Die Forscher hatten entdeckt, dass bestimmte Proteine als eine Art Bremse auf das Immunsystem wirken und dieses von der Bekämpfung von Tumorzellen abhalten. Löst man die Bremse, attackieren die Immunzellen die Krebszellen. Erste Therapien, die auf diesem Konzept basieren, sind als sogenannte Checkpoint-Therapien für verschiedene Krebsarten bereits im Einsatz und besonders erfolgreich beim metastasierenden Melanom und beim fortgeschrittenen Bronchialkarzinom.

Das gefürchtete Ovarialkarzinom ist sogar bei einem Befall des Bauchfells (Peritonealkarzinose) mit Chemotherapie recht gut behandelbar. Aber bei dem Pankreaskarzinom haben nur die Patienten eine echte wenn auch kleine Heilungschance, bei denen der Krebs extrem früh entdeckt und radikal operiert wird. Sogar in der Neurochirurgie können die Spezialisten viele Tumoren und Aneurysmen kurativ operieren. Aber das Glioblastom ist immer noch ein sicheres Todesurteil, weil die infiltrierenden Mikrometastasen nicht entdeckbar sind und das weitere Wachstum sichern.

Das ganze Drama zwischen Macht und Ohnmacht zeigt sich am folgenden realistischen Beispiel. Der Patient wird mit einem Schädel-Hirntrauma in eine sehr gut eingerichtete Klinik eingewiesen. Die Ärzte stellen rasch die richtige Diagnose, versorgen in der Neurochirurgie die Hirnverletzung, der Patient erleidet auf der Intensivstation einen Herzstillstand, die Reanimationsversuche scheitern. Die professionellen und gezielten Handlungen der Ärzte und des Pflegepersonals stoppen, aber nur für eine Sekunde, in der die Ohnmacht der Ärzte, diesem Patient zu helfen, klar wird und sich wie ein lähmender Teppich in den Raum zu senken droht. Aber die Ärzte und das Personal funktionieren im antrainierten Handlungsschema. Sie haben gelernt, in dieser Situation ihre lähmende Ohnmacht auf die Seite zu schieben.
Der Narkosearzt fragt in die Stille: „Ist der Patient Organspender? Hat er einen Ausweis?“
Der Patient ist noch an die Beatmungsmaschinen angeschlossen. Der Blutkreislauf wird künstlich aufrecht gehalten. –
Ein Arzt eilt zu den Angehörigen, die vor dem Operationsraum warten und überbringt die Nachricht vom Tod des Patienten. Die Verwandten sind überwältigt vor Entsetzen und isoliert in ihrer Trauer, unfähig zu sprechen, sie umarmen einander in ohnmächtigem Schmerz. Erst nach einer ganzen Weile wagt der Arzt, sie erneut anzusprechen und stellt der Ehefrau die scheinbar völlig unpassende, aber für den potenziellen Organempfänger überlebenswichtige Frage. „Hat Ihr Mann einen Organspendeausweis?“ – Stille. – Nach einer kurzen Pause trocknet die Ehefrau ihre Tränen und nickt: „Ja, mein Mann hat einen Ausweis. Er wollte seine Organe spenden.“- Aus der Ohnmacht gegenüber dem Tod heraus übernimmt jetzt wieder die Macht der Medizin die Oberhand. Der Tote wird zum Lebensspender. Nach wenigen Telefonaten mit Eurotransplant steht fest, welche Organe dem Verstorbenen entnommen werden sollen und wohin sie transportiert werden. Ein dem Tod naher Mensch kann geheilt werden, vielleicht können auch mehrere seiner Organe mehreren Menschen das bedrohte Leben retten. –

Aber die Ohnmacht bleibt bedrohlich, denn es gibt viel zu wenige Menschen, die bereit sind, ihre Organe zu spenden. Mehr als 9.500 Menschen stehen in Deutschland auf der Warteliste für eine Organtransplantation. 2018 wurden etwa 5.000 Personen neu auf die Warteliste aufgenommen. Etwa 9 Prozent (genau: 901) der Patienten auf der Warteliste sind 2018 verstorben. Im Vergleich zu anderen Mitgliedsstaaten des Eurotransplant-Verbunds ist Deutschland das Land mit den meisten Patienten auf der Warteliste. (Wikipedia)

Ein anderes wesentliches Problem der Behandlung ist die Frage: Wann ist es richtig, eine Therapie zu beenden? Wann müssen wir einsehen, dass es besser ist, unsere Ohnmacht anzuerkennen statt unsere Macht der forcierten Therapie durchzusetzen? Nicht das Beginnen einer Therapie ist schwierig, sondern das Aufhören! Dazu bedarf es klarer und nachvollziehbarer Fakten, einer erheblichen Entschlusskraft und Konsequenz. Palliativmediziner sind sich einig, dass es beispielweise nicht sinnvoll ist, einem dementen Patienten eine Magensonde durch die Bauchdecke (PEG) zu legen, da die Komplikationen des Verschluckens und der Aspirationspneumonie nicht vermieden und die Lebensqualität nicht verbessert werden.

Und wenn die PEG schon liegt, wann soll die Ernährung dann beendet werden? Schließlich gehört diese Form der Ernährung zur ärztlich zu verantwortenden Therapie und zu den lebensverlängernden Maßnahmen. Die Indikation für jeden einzelnen Beutel Nahrung muss genauso regelmäßig überprüft und begründet sein wie bei einem Antibiotikum oder einer Tablette gegen Bluthochdruck.

Die wichtigen Fragen dazu sind:
1. Nützt dieser Beutel dem Patienten jetzt?
2. Würde der Patient diesen Beutel jetzt wollen, wenn er entscheiden könnte?

Dabei muss klar sein, dass es nicht um die unbezweifelbare Wirkung der Nahrung geht, sondern um den Nutzen, den nur der Patient beurteilen kann. Nützt die Nahrung für seine Lebensqualität und für sein Therapieziel? Wenn der Patient keine lebensverlängernden Maßnahmen wollte, widerspricht jeder Beutel dem Wunsch nach dem Lebensende unter natürlichen Bedingungen. Also ist es konsequent, diesen nächsten Beutel nicht zu verabreichen und der Erkrankung unter palliativer Pflege den natürlichen Verlauf zu lassen. Um den Willen des Patienten klar und unmissverständlich dazustellen, gibt es die Patientenverfügung, an die Ärzte und Angehörige gebunden sind. Dieses Dokument ist auch für Angehörige eine wichtige Hilfe bei anstehenden Entscheidungen, weil ihnen lebenswichtige Entscheidungen vom Patienten vorsorglich abgenommen werden.

Die rechtlichen Grundlagen sind in Deutschland eindeutig!

Der BGH hat den Abbruch einer lebensverlängernden Maßnahme (PEG-Ernährung) „ausnahmsweise“ auch dann für zulässig erklärt, wenn der Sterbevorgang noch nicht eingesetzt hat (Patientin im Wachkoma).[3]

Der Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen ist ethisch und rechtlich zulässig, wenn dies dem ausdrücklichen oder mutmaßlichen Patientenwillen entspricht.[4]

Die Richtlinien der Bundesärztekammer erlauben den Abbruch der PEG-Ernährung, wenn sie das Leiden / Sterben nur verlängert.

Wenn wir im Spannungsfeld zwischen Macht und Ohnmacht leben, müssen wir erkennen, dass nicht das technisch Machbare immer das Richtige ist, sondern im Allgemeinen das menschlich und ethisch Vertretbare den erstrebenswerten Weg zeigt. Es muss immer in Betracht gezogen werden, das Therapieziel von Heilung zur palliativen Begleitung zu verändern. Wenn nichts mehr zu machen ist, gibt es noch viel zu tun. Das ist der Titel eines lesenswerten Buchs[5] über das Sterben alter Menschen.

Die Ethiker Tom Beauchamps und James Childress haben vier Kriterien aufgestellt, die helfen, in extremen Lebenskonflikten eine ethisch und medizinisch gut vertretbare Lösung zu finden:

  1. Der Respekt vor der Selbstbestimmung (Autonomie) des Patienten ist eine Grundlage der Entscheidung.
  2. Dem Patienten nicht zu schaden ist Voraussetzung jedes Vorgehens.
  3. Wir sollen dem Patienten Gutes tun und fürsorglich handeln.
  4. Das Vorgehen soll in möglichst vielen Aspekten gerecht sein.

Die Hoffnung, im entscheidenden Moment selbst entscheiden können, was mit uns geschieht, ist nur für die Menschen groß, die entscheidungswillig sind. Selbst wenn wir aus irgendwelchen Gründen eine Entscheidung aufschieben, haben wir in diesem Moment entschieden, dass es so bleibt, wie es ist. Es ist nur die Frage, ob wir uns das bewusst machen. Viele Menschen legen die Entscheidung über das Vorgehen am Lebensende lieber in die Hände der Ärzte oder traditionsgemäß in Gottes Hand. Selbst wenn es einen Gott geben sollte: Woher wissen wir sicher, was er will? –

Die vielen Glaubenskriege, die in der Menschheitsgeschichte mehr Tote gefordert haben als alle Kriege, um Landraub  durchzusetzen, und die ständigen Auseinandersetzungen um die Auslegung der religiösen Standartwerke beweisen, dass der Wille Gottes sehr umstritten und keineswegs klar ist. Es gibt viele Menschen, die sich berufen fühlen, Gottes Meinung zu kennen und durchsetzen zu müssen. Ich habe den Verdacht, dass viele Menschen den angeblichen Willen Gottes vorschieben, um eigene Interessen durchzusetzen.

Wer sein Schicksal in Gottes Hände legt und seinem Willen vertraut, hat sicherlich ein ruhigeres und zufriedeneres Sterben, das zur inneren Ruhe und zu seelischem Frieden führt. Wer nicht an die Existenz Gottes glaubt, kann hoffentlich trotzdem die individuelle Grenze zwischen Macht und Ohnmacht erkennen und sein Lebensende akzeptieren.

Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht. (Václav Havel)

Cicely Saunders, die Begründerin der Hospizidee in England, sagte: „Es gibt Zeiten, da ist es gesund zu sterben.“

 

[1] Wikipedia: Biopharmazeutika

[2] „Wenn es mehrere Möglichkeiten gibt, eine Aufgabe zu erledigen, und eine davon in einer Katastrophe endet oder sonstwie unerwünschte Konsequenzen nach sich zieht, dann wird es jemand genau so machen.“ Kurzform: „Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen.“ (Wikipedia)

[3] 1 StR 357/94 – NJW 1995, 204

[4] BGH-Urteil 08.06.2005

[5] Herausgegeben von Andreas Heller, Katharina Heimerl und Stein Husebø, Lambertus-Verlag

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