Späte Abbitte

Ich durfte schon als kleiner Junge oft bei Oma das Wochenende oder später während der Schulferien auch mehrere Wochen in Herrenberg verbringen. Ich hatte einige Freunde in der Nachbarschaft, mit denen ich spielen konnte. Außerdem war Opas Eisenwarenhandlung ein wunderbares Entdeckungs- und Spielfeld mit dem großen Lagerhaus direkt neben dem Wohnhaus, in dem der Laden im Erdgeschoss untergebracht war. Opa war früh gestorben, und Oma hatte die Leitung des Geschäfts übernommen.

Als ich etwa sechs war, hatte Oma an einem Winternachmittag Tante Wig und Tante Bertel zum Kaffeekränzchen eingeladen. Tante Wig hieß eigentlich auch Hedwig wie meine Oma, aber alle sagten Wig zu ihr. Ich war zum Spielen auf der Straße und kam zurück ins Wohnzimmer, um ein Stück von Omas wunderbarem Käsekuchen zu essen. Natürlich wollte ich auch schauen, was da geschieht. Es konnte doch gar nicht sein, dass die drei Frauen nur reden und Kaffee trinken! Aber sie erzählten sich Geschichten, die für mich langweilig waren, während ich meinen Kuchen genoss: Wer war bei welchem Friseur, was kosten die Kartoffeln, und wie teuer war das neue rote Kleid der Nachbarin? Da passierte aber etwas Neues: Oma bat Tante Wig und Tante Bertel ins Nebenzimmer, weil sie ihnen eine neue Tischdecke zeigen wollte. –

Das brachte mich auf eine Idee. Ich nützte den Moment und rief: „Ich geh wieder runter!“ und wartete, bis Oma antwortete: „Ja, ist gut!“ Dann öffnete ich die Tür zum Flur, schloss sie mit deutlich hörbarem Klicken wieder und täuschte dadurch vor, das Zimmer zu verlassen. Stattdessen schlich ich im Zimmer auf Zehenspitzen in ein Versteck, das mir plötzlich einfiel: Neben dem schwarzen, wuchtigen Eichenschrank im Wohnzimmer mit den wertvollen alten Zinnkrügen aus Opas Sammlung gab es zwischen Fenstervorhang, Wand und Schrank eine Lücke, in die ich gut hineinpasste. Von der Sitzgruppe aus konnte man in diese Ecke nicht hinein sehen. Außerdem verdeckte der lange Vorhang den breiten Spalt. Ich zog mich in den hintersten Winkel zurück und wartete ab.

Bald kamen die Damen aus dem Nebenzimmer wieder zurück,  verzehrten bei der nächsten Tasse Kaffee die letzten Kuchenstücke und unterhielten sich lebhaft. Weil die Sitzgruppe ganz in meiner Nähe stand, hörte ich alles sehr gut. Nach einer ganzen Weile sagte Oma: „Der Dietrich sollte jetzt mal hochkommen, es wird langsam dunkel!“ Sie öffnete das Fenster und rief nach mir. Meine Freunde, die auf der Straße Fußball spielten, riefen zurück: „Der ist nicht da!“ – „Ja, wo ist er denn?“ – „Das wissen wir nicht!“

Ich spürte, wie Oma unsicher wurde: „Oje, der Junge ist doch sonst immer in der Nähe.“ – Sie bat die Jungs, mich zu suchen. Sie selbst rief immer wieder zum Fenster hinaus nach mir. – Ich hörte es gut, blieb aber still in meiner Ecke. Die Tanten begannen zu überlegen, wo ich sein könnte. „Er ist bestimmt bei der Frau Vieten im Laden, wo er wieder Bonbons geschenkt bekommt.“ – „Nein, er ist sicher im Lager und holt sich einen Hammer!“ – Oma schlug vor: „Er kann natürlich auch bei Helmut im Adler sein!“ – Der Adler war die Wirtschaft  gegenüber, in dem mein Freund Helmut wohnte.

Oma schlug vor: „Jetzt sollen die Angestellten mal im Lager nachschauen.“ Sie verließ das Wohnzimmer, um den Auftrag zur Suche zu erteilen. Dann kam sie zurück und telefonierte mit einigen Nachbarn. Mit jeder neuen Gewissheit, dass ich auch dort nicht war, wurde Oma ängstlicher und wählte hektisch die nächste Nummer. Tante Bertel spekulierte inzwischen weiter, wo ich sein könnte: „Neulich war doch der Schwarze auf der Straße, hoffentlich hat der den Dietrich nicht …. – Oje, das wäre ja nicht auszudenken!“ Ihre Stimme zitterte. Tante Wig wusste noch etwas Schreckliches: „Ja, ich habe gehört, neulich hat in Stuttgart ein Schwarzer ein Kind entführt! Und jetzt ist es schon ganz dunkel. Wie sollen wir denn finden?“ Dann gab Oma am Telefon auf, weil sie keine nächste Nummer mehr hatte, die sie anrufen konnte: „Jetzt weiß ich überhaupt nicht mehr, wo ich suchen soll!“

Na, die kriegen alle richtig Angst, dachte ich in meiner Ecke und freute mich an meiner tollen Idee. Aber ich fühlte mich auch sehr unwohl, und mir wurde ganz mulmig, weil ich spürte, wie sich Oma Sorgen um mich machte. Dann überlegte ich: Wenn ich jetzt aus meinem Versteck komme, schimpft sie sicher schrecklich mit mir, das war ich mir klar. Ich wagte nicht, meinen sicheren Platz zu verlassen. Oma hatte eine aufgeregte Stimme, die ich gar nicht kannte. „Wie soll ich das denn der Sigrid und dem Gustav klar machen, dass ihr Bub nicht mehr da ist? Ich hab doch die Verantwortung! Das ist ja eine Katastrophe! Es wird ihm doch nichts zugestoßen sein!“ –

„Na ja, so ganz sicher können wir ja nicht sein!“, fügte Tante Bertel hinzu und merkte gar nicht, wie sie weiter Öl ins Feuer goss. Oma und Tante Wig waren schrecklich aufgeregt: „Wir müssen jetzt sofort die Polizei rufen, die müssen ihn suchen!“ Sie wollte gerade nach dem Telefonhörer greifen, da klopfte es an der Tür. Ein Angestellter trat ein und war ganz außer Atem: „Also im Laden und im Lagerhaus ist er auch nicht. Wir haben jetzt in den Nachbarhäusern gefragt. Überall Fehlanzeige. Wir suchen weiter!“ Er schloss die Tür und lief wieder davon.

Dann klingelte es an der Haustür. Oma ging hinaus und kam nach einem kurzen Moment zurück und sagte mit zitternden Stimme: „Die Buben haben ihn auch nicht gefunden!“ Die drei Frauen redeten wirr durcheinander. Die Stimmen schnappten über und wurden lauter. Ich hörte noch Wortfetzen: „Entführung – Misshandlung – Autounfall – im Adlerbrunnen ertrunken!“

Omas Stimme stockte, ich hörte, wie sich in den Sessel fallen ließ. Dann brach ihre ganze Angst aus ihr heraus, und sie begann bitterlich zu weinen. Ihr Stimme war kaum mehr zu verstehen. Diese immer beherrschte tapfere Frau schluchzte hemmungslos. Tante Wig und Tante Bertel versuchten mit leiser, weinender Stimme, Oma zu beruhigen. Aber Omas Weinen wurde immer heftiger.

Oma dachte, ich sei tot! – Das war zu viel für mich. Sie tat mir plötzlich richtig leid, und ich wollte nicht, dass sie so verzweifelt ist. Ich schob den Vorhang langsam zur Seite und kam vorsichtig aus meinem Versteck. Da sah ich die Bescherung, die ich angerichtet hatte: Drei Frauen mit Tränen in den Gesichtern umarmten einander in unendlicher Hilflosigkeit. Ich blieb neben dem Schrank stehen, unschlüssig, was ich jetzt tun sollte.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Tante Wig mich bemerkte. Sie deutet auf mich und stieß einen leisen Schrei aus: „Da ist er!“ – Oma schaute auf. Sie sah mich an, ihr Mund stand im Schluchzen plötzlich offen, ihre Augen vor Schreck geweitet, die weinende Stimme brach ab. Eine Sekunde lang war absolute Stille im Raum. Oma deutete stumm auf mein Versteck mit dem fragenden Blick: Da warst du die ganze Zeit? –

Ich nickte. Mir steckte ein Kloß im Hals. Ich konnte nichts sagen und fühlte, wie mir Tränen den Blick verschleierten. Plötzlich war Oma klar, welches böse Spiel ich ihr aufgezwungen hatte. Ihr Gesicht wurde schlagartig wutrot, dann blass, ihr Körper war starr aufgerichtet. Dann löste sich die Spannung, und sie sank wie in Zeitlupe ganz langsam vom Sessel mit den Knien auf den Teppich, breitete die Arme aus und nahm mich weinend vor Erleichterung in ihre Arme. Ich weiß noch, dass wir beide bei der Berührung unserer Wangen ganz nasse Gesichter hatten.

Als Oma sich beruhigt hatte, hielt sie mich an beiden Armen ein Stück weg von sich, schaute mich aus ihren geröteten Augen durch den Tränenschleier an und sagte leise und mit mühsam beherrschter Stimme, jedes Wort betonend: „Hörst du: Mach nie wieder so was! Hast du das verstanden?!“ Das war die ganze Strafpredigt.

Wenn ich heute an diesen Nachmittag denke, schäme ich mich noch immer für meine Gemeinheit. Das hatte Oma wirklich nicht verdient.

Copyright Dr. Dietrich Weller

Die Geschichte entstand als Hausaufgabe in der Schreibwerkstatt

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