Veronika hat ihren eigenen Willen

„Herr Doktor, heute können Sie Veronika untersuchen. Wir waren neulich schon mal im Wartezimmer, aber da wollte sie nicht zu Ihnen ins Sprechzimmer. Dann sind wir wieder gegangen. Aber für heute habe ich sie gut vorbereitet, sie läßt sich bestimmt untersuchen. Sie ist jetzt dreieinhalb und soll in den Kindergarten gehen, und da brauchen wir doch dieses Attest von Ihnen!“

Die junge Mutter war ganz zufrieden mit ihrer Vorbereitungsarbeit und lächelte zuversichtlich. Ich kannte Veronika gut, diese zierliche Dame, die durch die Männerwelt schritt wie eine Frau, die weiß, was sie will. Sie fesselte meinen Blick mit ihrem und lenkte ihn zielsicher von ihrem korrekten Pagenschnitt im pechschwarzen Haar an dem rot-weiß-blauen Rüschenkleidchen hinunter zu den roten Lackschuhen mit den weißen Söckchen. Den rechten Fuß stellte sie langsam und kokett einen Zentimeter weit vor und ließ ihre schwarzen Augen gefällig darauf ruhen. Dann vergewisserte sie sich mit einem kontrollierenden Blick auf mein Gesicht, ob ich auch gesehen hatte, was sie mir zeigen wollte. Ich fragte bewundernd: „Sind die neu?“ Veronika schaute mich an und hielt mich einer Antwort wohl nicht für würdig. Sie schwieg. Eilig bemühte sich die Mutter um Klärung: „Ja, ja, die haben wir vorhin gekauft, und jetzt wollte sie Ihnen die Schuhe zeigen.“

Veronika war nicht oft krank gewesen. Da ich sie längere Zeit nicht mehr gesehen hatte, wollte ich sie für das Attest gründlich untersuchen. Ich begann die Untersuchung wie gewohnt, während ich zu Ohrspiegel und Mundspatel griff: „Veronika, du weißt ja, dass ich jetzt in deinen Mund und in deine Ohren schauen möchte. Das kennst du.“

Veronika hörte aufmerksam zu, schaute mich mit ihren pfiffigen Augen prüfend an und verzog keine Miene. Sie ließ mich gewähren, hielt die Ohren hin, öffnete den Mund und ließ sich auch Herz und Lunge abhören. Und sie schwieg. Das war sehr verdächtig! Ich wußte doch, dass Veronika sonst mit mir plauderte und auch ihre Mutter ständig mit Reden auf Trab hielt. Was war los mit ihr? Ich wurde noch neugieriger. Aber ich ließ mir nichts anmerken und untersuchte weiter. Veronika bewegte sich, wie ich wollte, kletterte auch gewandt auf die Untersuchungsliege und behielt mich aufmerksam im Blick.

Schließlich, ganz am Ende der Untersuchung, sagte ich interessiert zu ihr: “Du redest heute gar nicht mit mir. Warum nicht?“ Sie schaute mich offen an – und schwieg. Ohne daß ich es merkte, hatte ich an ihrer Angel angebissen. Also machte ich noch einen freundlichen Versuch:

„Aber Veronika, im Kindergarten musst du doch auch reden. Willst du nicht mehr mit mir sprechen?“

Keine Antwort. Ich spürte, wie die Spannung stieg. Veronika sprühte ihren starken Willen aus ihren Augen, die mich so warnend und lockend anschauten, als wollten sie sagen: „Na, mach nur so weiter, du wirst schon sehen, was ich mit dir vorhabe!“

Ich spielte mit, denn jetzt wollte ich es wissen! Dieses Duell wollte ich gewinnen. Mein Ehrgeiz war geweckt. Ich nahm die Herausforderung an und stellte noch eine Frage:

„Wenn die Kindergartentante dich etwas fragt, was sagst du dann?“ – Wieder keine Antwort. Veronika blieb stur auf ihrem Kurs. Offensichtlich hatte sie hervorragende Nerven und einen klaren Plan. Ich kam mir vor, als ob ich den festsitzenden Korken einer Sektflasche langsam und doch mit festem Griff befreien wollte, um endlich das köstliche Getränk genießen zu können.

„Ich muss aber schon hören, dass du sprechen kannst, sonst kann ich das Zeugnis für den Kindergarten nicht schreiben. Dann kannst du nicht in den Kindergarten gehen!“ Ich blieb immer noch freundlich und bekam nur einen ihrer provozierenden Blicke als Antwort. Da kam mir eine Idee. Ich sagte mit gespieltem Ernst:

„Jetzt weiß ich es, du hast vergessen, wie man spricht. Du kannst es gar nicht mehr!“

Blitzartig und sehr bestimmt schoss sie zurück: „Doch!“

Ich hatte gewonnen! Der Sektkorken hatte geknallt! Ich hatte sie zum Sprechen gebracht! Mein Berufsstolz hatte gesiegt! Ach, wie kam ich mir gut vor! Und in diesem lächerlichen inneren Triumph machte ich den entscheidenden Fehler. Statt zufrieden zu sein, ging ich genau einen einzigen Schritt zu weit. Ich spielte den Überraschten und fragte: „Schau mal, es geht! Was kannst du denn sagen?“

Ihre Augen blitzten auf, sie strahlte mich an und flötete: „Arschloch!“ Wenn ein Reporter mich in dieser Sekunde fotografiert hätte, wäre mein Gesicht als Musterbeispiel der Verblüffung in allen Zeitungen auf der Titelseite erschienen. Aber ich hatte meine Gesichtszüge rasch wieder auf den passenden Gleisen.

Ich lachte herzlich: „Jawohl, Veronika, du hast die Prüfung bestanden, du kannst dich wehren, du bekommst dein Zeugnis für den Kindergarten.“

Dann drehte ich mich zum Schreibtisch mit dem peinlichen Gefühl, mich vor mir blamiert zu haben, und mit der heiter-betroffenen Gewissheit, dass natürliche Kinder ihre Wahrheit mutig und experimentierfreudig auf den Punkt bringen. Ich unterschrieb schmunzelnd das Attest.

Die Mutter bekam ein puterrotes Gesicht und stammelte eine Entschuldigung: „Das habe ich ihr aber nicht beigebracht!“ Veronika triumphierte wortlos wie eine Kaiserin, die mit ihren weiblichen Waffen und einem einzigen Wort in der richtigen Sekunde ein Heer von Generälen entmachtet hat. Sie schwebte hinaus mit hoch erhobenem Haupt und strahlte ihren Sieg aus ihren Funkelaugen.

Copyright Dr. Dietrich Weller

Ich habe diese Geschichte in dem Buch Als Schiffsarzt – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

 

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