Warum eigentlich nicht?

Warum eigentlich nicht

Schon als Kind hat Peter unter den gnadenlosen Hänseleien seiner Mitschüler gelitten. Bei jeder Gelegenheit verspotteten sie ihn wegen seines Übergewichts. Er versuchte, seine Vorliebe für Marzipan zu verbergen. Aber einmal, als er kurzatmig hinter dem Fußball herlief, rief ein Klassenkamerad, „du brauchst noch ein paar Marzipankugeln, dann wirst du schneller!“

So hatte Peter seinen Spitznamen weg. Und als dann auch noch einer der Kameraden mit ihm in die Hotelfachschule ging und Peters empfindlichsten Punkt preisgab, wurde Peter dort nur Marzipankugel oder, in der Hektik des täglichen Betriebs, Marzipan gerufen.

Peter aß Marzipan in allen Variationen, um sich nach den Kränkungen wohler zu fühlen. Dieser weich schmelzende Geschmack verschaffte ihm ein wonnevolles Gefühl der Zärtlichkeit und inneren Ruhe, wenn die geifernden Kollegen und die jungen Mädchen ihn mit abschätzigen Blicken und provozierenden Bemerkungen beleidigten.

Deshalb hatte er sich eine besonders freundliche, ja fast unterwürfige Art des Umgangs angewöhnt, nicht nur die Höflichkeit, die zum alltäglichen Geschäftsgebaren in der Gastronomie gehört. Er spürte jeden Tag, wie er sich mit der frisch gestärkten Kellnerjacke die dringend nötige Sicherheit anzog und mit der gebügelten weißen Schürze seine Beleibtheit bedeckte, um mehr Beliebtheit zu gewinnen. Er versteckte den angegessenen Schutzpanzer, der ihn vor den Schlägen der Mitmenschen bewahren sollte, so gut es ging. Mit dieser hohen Empfindsamkeit für Schwächen und Verletzlichkeit betreute er auch die Gäste in dem vorzüglichen Lokal, zu dessen Oberkellner er mittlerweile aufgestiegen war.

Seit einem Jahr kam regelmäßig samstags ein älterer Herr mit seiner jungen Frau zum Abendessen. So attraktiv sie war mit ihren schlicht-eleganten und eng anliegenden Kleidern, der verführerischen Figur und den weich gewellten, schulterlangen Haaren, die Peters Fantasie zu kühnen Tag- und Nachtträumen verleitete, so demütigend verhielt sich der Mann ihr gegenüber. Bei jeder Gelegenheit nörgelte er an ihr herum, wies sie beim Essen zurecht, kritisierte ihre Aussprache und machte sich über das kesse Lächeln lustig, das Peter verzaubert hatte.

Diese groben Unhöflichkeiten waren für Peter schwer zu ertragen. Er tarnte seine Wut über den Mann und seine heimliche Zuneigung für dessen Frau hinter einer antrainierten Fassade von Höflichkeit und Dienstbereitschaft.

Was er jedoch nicht verbergen konnte, war das Leuchten in seinen Augen, wenn die Dame ihn beim Kommen und Gehen mit einem geradezu herzlichen Blick grüßte. Peter musste darauf achten, dass seine Freude darüber nicht allzu offensichtlich und verräterisch wurde.

Und war es Zufall, dass diese sonst so achtsame und wohl erzogene Dame die Serviette vom Schoß ihres elegant geschnittenen Kleides rutschen ließ? Sie berührte Peter im flüchtigen Vorbeigleiten mit ihren schlanken Fingern an der Hand, als er eilig die Serviette vom Boden aufhob und ihr mit leicht errötetem Gesicht reichte. War das ein Zeichen der zarten Annäherung? Täuschte er sich auch nicht? Es konnte doch gar nicht sein, dass diese vornehme Dame – und dazu noch in Gegenwart ihres Mannes! – ihm, dieser abstoßenden Marzipankugel, Sympathie zeigte! Und doch schwankte er zwischen Hoffen und Selbstzweifel. Er spürte ihre Zärtlichkeit, sah ihren kurzen und doch innigen Blick, der sofort kalt wurde, wenn er in die trägen Augen des Ehemannes traf.

Immer wenn die Sekretärin des Mannes einen Tisch für das Paar reservierte, begann Peter auf den sanften Wolken der Vorfreude zu schweben, weil er wusste, dass er wieder seinen weiblichen Lieblingsgast am angestammten Platz bedienen und ihre Nähe genießen durfte. Peter hatte mehrfach gehört, wie der Mann seine Frau mit Helene ansprach. Und Peter bemerkte, dass er in Gedanken längst nur von Helene sprach. Zu der offiziellen Anrede musste er sich im Restaurant ganz bewusst überwinden, um keine Indiskretion oder Unhöflichkeit zu begehen.

Eines Tages, als Peter an der Kasse etwas buchte, hörte er einen leisen, aber scharfen Wortwechsel zwischen dem Paar. Er spitzte seine Ohren, aber er hörte nur, wie Helene ihren Mann anzischte, „dann eben nicht!“

Der Ehemann verlangte kurz angebunden die Rechnung, bezahlte, und das Paar verließ rasch das Lokal. Dabei eilte der Mann achtlos voraus, sodass Peter Helene den Mantel reichen, galant die Tür öffnen und sich besonders freundlich verabschieden konnte.

„Es war sehr schön, Sie wieder als Gast zu haben!“, sagte er mit einer kleinen Verbeugung und war sich bewusst, dass er nur Helene und nicht ihren Mann meinte. Offensichtlich hatte sie das auch so verstanden, denn sie nickte, lächelte in ihrer unwiderstehlichen Art und flüsterte: „Ich komme auch gern zu Ihnen!“ Und ganz leise, sodass Peter es gerade noch hören konnte, fügte sie hinzu: „Tut mir leid wegen gerade!“ Dann drehte sie sich um und folgte ihrem Mann in die klirrende Januar-Kälte hinaus.

Peter blieb etwas verwirrt zurück. Sie kommt gern zu mir! Sie hat meine Hand berührt! Und dieser Blick!

Peter lag lange wach in dieser Nacht und wollte seiner Fantasie freien Lauf lassen, aber die anerzogene Disziplin hemmte ihn, sich Wunschbilder auszumalen oder hoff-nungsvolle Gefühle zuzulassen.

Dann geschah etwas Unerwartetes. Das Paar kam nicht wieder. Peter empfand Helenes Ausbleiben als schwer zu ertragende Trennung. In ruhigen Momenten schaute er das Telefon an und erwartete mit dem nächsten Anruf die Reservierung für Samstag. Er versuchte immer, den Platz für Helene freizuhalten. So vergingen Monate, in denen Peter sich nur mit Erinnerungen an sie tröstete.

Eines Tages, als er im warmen Frühsommer beim Einkaufen war, sah er sie auf dem Gehsteig entgegenkommen. Das lange Haar mit rotem Stirnband zusammengefasst, ein roter, eng anliegender Sommerpulli, ein weißer weiter Rock und die schlanken Beine in passend roten, halbhohen Schuhen. Eine weiße Tasche hing locker über der Schulter.

Sein Herz schlug schneller, seine Schritte beschleunigten sich. Er spürte, wie eine Welle der zärtlichen Freude seinen ganzen Körper überrollte und erwärmte. Dann ging er entschlossen auf Helene zu und sah ihren erfreuten Blick, als sie ihn wahrnahm. Sie blieben voreinander stehen. Nach einem kurzen Moment der Stille, in der nur die beiden Augenpaare ein Glückslied sangen, hörte Peter wie von fern seine eigene Stimme:

„Es ist wunderbar, dass ich Sie sehe. Ich habe Sie sehr vermisst.“

Helene neigte den schlanken Kopf zur Seite und lächelte in ihrer charmanten Art, die Peter immer verzückt hatte.

„Ich freue mich auch!“ Dann deutete sie auf ihren rechten Ringfinger, wo Peter keinen Ehering mehr sah und fragte, „können Sie es so verstehen?“

Peter holte etwas erschrocken Luft. Es klang wie ein erleichterter Seufzer.

„Oh ja, das kann ich gut verstehen.“

Bevor er darüber nachdenken konnte, deutete er auf die freien kleinen Tische des Straßencafés neben sich.

„Darf ich Sie zu einem Cappuccino einladen?“

Sie strahlte ihn an. „Ja gern, warum eigentlich nicht!“

 

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Copyright Dr. Dietrich Weller

Diese Geschichte entstand als Hausaufgabe in der Schreibwerkstatt. Grundlage war ein Bild, das einen sehr beleibten kleinen Kellner und eine schlanke, große Frau zeigte. Das Thema war vorgegeben: „Warum eigentlich nicht?“

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