Vertragen Sie die Wahrheit, die Sie vermitteln sollten?
Die Wahrheit ist rätselhaft und hat manchmal nichts mit der Realität zu tun.
Oliver Sacks (*1933), amerikanischer Neurologe
Mit der Hoffnungslosigkeit beginnt der wahre Optimismus.
Jean-Paul Sartre (1905-1980), französischer Philosoph und Schriftsteller
Ein Mensch ist immer das Opfer seiner Wahrheit.
Albert Camus (1913-1960), französischer Schriftsteller und Philosoph
8.1. Ein negatives Beispiel
Die Frage, ob wir einem Kranken und besonders einem Schwerkranken die Wahrheit über seine Diagnose und ihren Schweregrad sagen sollen, ist eine uralte Konfliktsituation. Ich habe in meinem beruflichen Alltag viele Momente erlebt, in denen ich für mich die Frage klar und eindeutig beantworten musste. Ich erinnere mich an manches komplizierte Gespräch, in dem ich gerne gekniffen hätte. Ein typisches und für mich immer noch bedrückendes Beispiel will ich gleich zu Beginn berichten.
Als Assistent in der Kinderklinik hatte ich auch die Aufgabe, mit dem Frühgeborenen-Rettungswagen zu Risikogeburten in benachbarte Krankenhäuser zu fahren, um dort das Neugeborene sofort nach der Geburt zu versorgen und bei Bedarf mit in die Kinderklinik zu nehmen. Eines Nachts wurde ich mit der diensthabenden Schwester von der Frühgeborenen-Intensivstation zu der Geburt eines Kindes in der 28. Schwanger-schaftswoche gerufen. Per Telefon waren wir schon informiert, dass mehrere schwere Risikofaktoren für die Mutter und das Kind bestanden.
Kurz nach unserem Eintreffen im Kreissaal wurde das Kind mit einer schweren Schädel- und Hirnmissbildung und mit 900 g Gewicht geboren. Es war sehr lebensschwach, atmete kaum, hatte einen viel zu langsamen Puls, bewegte sich nicht und war schwer zyanotisch17. Ich konnte für das Kind nicht mehr tun, als ihm Sauerstoff zu geben und zu hoffen, dass es bald sterben darf. Selbst bei intensivster Therapie mit allen Segnungen der modernen Medizin hätte das Kind keine Lebenschance gehabt. Auch wenn es kurze Zeit überlebt hätte, wäre eine normale Entwicklung durch die Missbildung ausgeschlossen gewesen. Wenige Minuten nach der Geburt verstarb das Kind. Ich war froh, dass es schnell gegangen war.
Da die Mutter von den Frauenärzten stark mit Medikamenten beruhigt worden war, konnte ich nicht mit ihr sprechen. Auch darüber war ich froh. Die Schwester und ich packten unsere Instrumente zusammen und fuhren mit dem leeren Säuglingswärmekasten auf den spärlich erleuchteten Klinikgang hinaus. Ich er-innere mich noch genau, dass ich möglichst schnell in die Kinderklinik zurückkehren wollte, um von dem beklemmenden Erlebnis wegzukommen. Da sah ich auf einer Bank vor dem Kreissaal einen jungen Mann sitzen, der erwartungsvoll zu uns hinschaute aber uns nicht ansprach. Es konnte eigentlich nur der Vater des verstorbenen Kindes sein, der hören wollte, wie es seiner Frau und seinem Kind ging. Ich spürte intuitiv seine sorgenvolle Erwartungshaltung und meine Angst vor diesem Gespräch. Ich war damals noch nicht so weit, mich in diesen Situationen sicher zu fühlen. Deshalb grüßte ich beiläufig und schob den Wagen mit dem Wärmekasten rasch vorbei zum Aufzug, der glücklicherweise schon offen stand.
Heute bereue ich meine damalige Reaktion, und wenn ich jetzt eine Möglichkeit hätte, mit dem Vater über mein unprofessionelles Verhalten zu sprechen, würde ich es tun. Es war mir eine Lehre, und ich habe wissentlich mich in Zukunft jedem Gespräch gestellt, weil ich mich nach dieser nächtlichen Begegnung oft mit einem sehr schlechten Gewissen an meine Flucht erinnert habe.
Ich denke heute noch oft an Situationen, mit denen ich nicht richtig umgehen konnte und nur teilweise die Wahrheit gesagt habe, weil ich mir nicht zugetraut habe, mich mit den Folgen einer wahren Antwort auseinanderzusetzen. Meine Gespräche mit Kollegen in all den Jahren haben mir gezeigt, dass auch sie solche Konflikte hatten und haben. Es ist sicherlich normal, einen Ausweg aus unangenehmen Situationen zu suchen. Ich meine aber, dass es zu unserem Beruf als Arzt gehört, eben gerade in diesen berufsbedingten Schwierigkeiten sicher und standhaft, einfühlsam und klar reagieren zu können. Leider wird solch ein Verhalten weder an den Universitäten noch in den Klini-ken gelehrt. Es handelt sich eigentlich ja auch um ein rein menschliches Problem und nicht um ein medizinisches, wie man mit zwischenmenschlichen Konflikten umgeht. Wir Ärzte können froh und dankbar sein, wenn wir ältere Kollegen und Vorgesetzte finden, die uns im Alltagsleben der Klinik zeigen, wie wir sprechen und zuhören müssen, um dem Patienten das Gefühl zu geben, verstanden zu sein.
8.2. Die positive Lösung
Kurz vor meiner Niederlassung als Allgemeinarzt fragte ich einen bei Kollegen und Patienten sehr hoch geschätzten Oberarzt, der in einer chirurgischen Klinik jahrelang eine Sprechstunde für Brustkrebspatientinnen abhielt, ob er allen Frauen die Wahrheit sage. Er antwortete:
„Ich sage allen Frauen die Wahrheit. Denn ich bin erstens Christ und meine schon deshalb, dass man nicht lügen sollte. Und zweitens habe ich solch ein schlechtes Gedächtnis, dass ich morgen nicht mehr wüsste, welcher Frau ich die Wahrheit gesagt und welche ich angelogen habe. Das würde mich sehr schnell in eine schlimme Situation bringen.“
Was hätten Sie geantwortet? Mir hat diese schlichte und klare Antwort sehr zu denken gegeben, und seither verfahre ich sicher und innerlich ruhig in dieser Weise. Die meisten Patienten wissen ohnehin intuitiv, was mit ihnen los ist. Mehrere umfangreiche Unter-suchungen haben ergeben, dass mindestens 90 Prozent aller Patienten mit bösartigen Krankheiten im Verlauf der Erkrankung auch ohne Aufklärung ihre Diagnose erfahren. Sie verhalten sich häufig zurückhaltend und geben an, sie wüssten die Diagnose nicht, um niemanden in der Umgebung zu belasten. Das bedrückt aber den Patienten und alle Beteiligten noch viel mehr. Dieses Verhalten führt zu Scheingefechten und hinterlässt am Schluss das schlechte Gewissen, nicht ehrlich gewesen zu sein und wirklich wichtige Dinge nicht abgeschlossen und besprochen zu haben.
Durch umfassende Studien konnte festgestellt werden: Der Arzt kann davon ausgehen, dass 80 Prozent der Krankenhauspatienten eine offene Information über die Diagnose und Prognose der Krankheit wünschen, lediglich drei bis fünf Prozent nicht über die Art der Erkrankung und die übrigen nicht über deren Unheilbarkeit informiert werden möchten. Werden informierte Patienten mit bösartigen Krankheiten im weiteren Verlauf der Krankheit befragt, so begrüßen 90 Prozent dieser Kranken auch im Rückblick die offene Information.
Die Patienten sind durch ihre Gefährdung besonders empfindsam und holen ihr Wissen überwiegend aus drei Quellen:
Erstens nehmen sie kleinste Verhaltensveränderungen der Umwelt wahr und schließen daraus auf ihre Diagnose und Prognose. Das besorgte Gesicht des Arztes bei der entscheidenden Untersuchung oder die ausweichende Antwort der Schwester oder das betont beschwichtigende Verhalten von Angehörigen sind für den beunruhigten und verunsicherten Patienten ein Beweis für eine schwerwiegende Diagnose.
Zweitens schließen sie aus der angewendeten Therapie auf die Ernsthaftigkeit oder Bösartigkeit der Krankheit. Inzwischen wissen alle Patienten, dass eine Bestrahlung oder eine Chemotherapie etwas mit Krebs zu tun hat. Dass dies durchaus nicht immer so ist und deshalb eine solche Schlussfolgerung zu verhängnisvollen Missverständnissen führen kann, wissen allerdings wenige.
Drittens fühlen sich viele Patienten in ihrer Vermutung, eine bösartige Krankheit zu haben, dadurch bestätigt, dass sie sich nicht gut oder ausdrücklich genug informiert fühlen. Dagegen gibt es eine ebenso banale wie selten angewandte Methode: Wenn wir eine klare Antwort haben wollen, müssen wir eine klare Frage stellen und auf eine Antwort bestehen. Viele Patienten fragen nicht oder geben sich mit einer halben Antwort zufrieden.
Dieses Vorwissen der Patienten (im Amerikanischen ganz treffend als middle knowledge -mittleres Wissen- bezeichnet) kann als Möglichkeit zur weiteren Information einerseits und als Abwehr gegen das Bewusstwerden der Bedrohung andererseits aufgefasst werden. Dabei müssen die aktiven Abwehrvorgänge und die innerseelischen Mechanismen gegen das Bewusstwerden der Gefahr berücksichtigt werden.
Hier gilt der Grundsatz: Nur ein informierter Patient kann kooperativ sein.
Wenn nicht offen über die Wahrheit geredet wird, gibt es auch keine Chance für eine angemessene Therapie und schon gar nicht für einen gangbaren Weg für einen zielbewussten und aufgeklärten Patienten.
8.3 Der positive AIDS-Test
Eine dramatische und vielseitig beleuchtbare Geschichte betrifft Herrn Moser, den ich seit Jahren kenne. Er war verheiratet, Vater von 2 Kindern, leitender Angestellter, erfolgreich, und nach außen schien alles gut und üblich, bis er bemerkte, dass er seine homosexuellen Neigungen immer unterdrückt hatte. Er gab ihnen schließlich nach, gestand es auch seiner Frau, die anfänglich Verständnis zu zeigen versuchte, dann aber immer hilfloser und aggressiver wurde. Nach einigen schweren Konflikten kam es zur sehr komplizierten Scheidung. Herr Moser fand schließlich nach vielen Krisen, die ihn auch in Alkoholprobleme brachten, seinen Weg, zu der Homosexualität offen zu stehen. Er lebt seither mit einem festen Lebenspartner zusammen. Das gab ihm so viel Stabilität, eine Alkoholentziehungskur zu machen, und seither ist er trocken. Unter großen inneren Kämpfen und mit erheblichen und ständigen Auseinandersetzungen mit der geschie-denen Ehefrau meisterte er seine anspruchsvolle Arbeitsstelle, stieg in seinem Betrieb auch zum Prokuristen auf und kümmert sich intensiv um seine Kinder. Dies war unter anderem auch deshalb nötig, weil die Ex-Ehefrau viele Monate in der Psychiatrischen Klinik zubrachte.
Eines Tages fand ich im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung bei ihm einen positiven AIDS-Test und musste ihm natürlich diese Diagnose mitteilen. Im ersten Moment war er völlig entsetzt, vor den Kopf geschlagen und fassungslos. Aber nach wenigen Au-genblicken glättete sich sein schreckverzerrtes Gesicht, und er sagte ganz ruhig: „Eigentlich bin ich froh darüber!“ Jetzt war ich verblüfft und fragte nach dem Grund. Er meinte ganz schlicht: „Jetzt kann das ganze Versteckspielen, die Heimlichkeit aufhören, und hoffentlich bringt mich diese Krankheit endlich von dem Konflikt mit meiner Ex-Frau weg. Ich kann es oft nicht mehr ertragen.“ – Eine Woche später hatten wir auch das positive Ergebnis von Herrn Mosers Partner.
Ein Jahr später fragte ich Herrn Moser wieder einmal nach seinem Befinden. Er war sehr gefasst und positiv und hoffnungsvoll gestimmt trotz aller massiven finanziellen und psychischen Bedrohungen, die seine Ex-Frau immer noch mit Hilfe eines Anwaltes gegen ihn richtet. Herr Moser meinte in dem Gespräch auch ganz klar: „Ich kann gut sehen, dass die Krankheit mir wesentliche gute Seiten gebracht hat. Ich bin viel ruhiger geworden und gelassener. Vieles ist nicht mehr so wichtig, und ich erkenne, was wirklich entscheidend ist. Und unsere Partnerschaft hält uns zusammen und aufrecht.“
Hier haben ständige und offene Gespräche zwischen Herrn Moser und seinen engsten Vertrauten ihn unterstützt, mit seiner Krankheit und seinen Lebenskrisen bewusster, besser und hoffnungsvoller umzugehen.
8.4 Die Notlüge
Andererseits gibt es auch Umstände, wo eine barmherzige Lüge vorübergehend weitreichende positive Folgen hatte. Eines der berühmtesten Beispiele aus der Literaturgeschichte stellt das Leiden von Theodor Storm dar. Er erkrankte in seinem 69. Lebensjahr mit schweren Magenschmerzen und schrieb das folgende Gedicht:
Ein Punkt ist es nur, kaum ein Schmerz,
Nur ein Gefühl, empfunden eben.
Und dennoch spricht es stets darein,
Und dennoch stört es dich zu leben.
Wenn du es andern klagen willst,
So kannst du’s nicht in Worte fassen.
Du sagst dir selber: „Es ist nichts!“
Und dennoch will es dich nicht lassen.
So seltsam fremd wird dir die Welt,
Und leis verlässt dich alles Hoffen.
Bis du es endlich, endlich weißt,
Dass dich des Todes Pfeil getroffen.
Da Storm offensichtlich Bescheid wusste und stark genug wirkte, mit der Wahrheit umzugehen, sah sein Hausarzt keinen Grund, ihm die Diagnose eines Magenkrebses zu verschweigen. Wider Erwarten wurde Storm aber tief depressiv und eine Last für seine Familie. Diese wiederum wusste keinen anderen Ausweg aus der hoffnungslos erscheinenden Lage, als einen anderen Arzt zu bitten, die Diagnose zu wider-rufen und als Irrtum darzustellen.
Storm fasste neuen Mut, entwickelte seine alte Schaffenskraft und war dadurch imstande, die abgebrochene Arbeit an der Novelle „Der Schimmelreiter“ fortzusetzen und das Werk zu beenden. Er feierte noch seinen 70. Geburtstag unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und verstarb schließlich ein paar Monate später.
Dieses Beispiel kann zweierlei zeigen. Es stellt die ärztliche Fähigkeit in Frage, die wirkliche Belastbarkeit eines Patienten zu erkennen. Außerdem könnte die Illusion, gesund zu sein, im Unterbewusstsein eine kreative Leistungsfähigkeit stimulieren, die an der Realität der Krankheit vorbei Reserven mobilisiert, die möglicherweise unter anderen Bedingungen nicht aktiviert werden würden.
8.5 Falsch verstandenes Mitlied und seine Folgen
Das häufig zitierte Mitleid ist oft nichts anderes als eine peinliche Betroffenheit von einem Zustand oder einem Schicksal, mit dem wir schlecht umgehen können. Deshalb vermeiden wir solche Situationen am liebsten oder wollen sie unter dem Vorwand, anderen zu helfen, rasch für uns beseitigen. Wenn wir den Patienten im Unklaren lassen, um ihn angeblich zu schonen, müssen wir bedenken, dass ungewisse Situationen für viele Menschen viel schlechter zu ertragen sind als eine eindeutige und schlechte Nachricht.
Wie sollte ein Patient all die Therapieschritte verstehen und aktiv mitmachen und die vielen Medikamente mit den möglicherweise unangenehmen Nebenwirkungen einnehmen, wenn er doch angeblich gar nicht so krank ist? Hier entsteht eine sehr schwierige Misstrauenssituation zwischen Arzt und informierten Angehörigen einerseits und Patienten andererseits, die mit Sicherheit die Genesung des Patienten und die menschliche Qualität seiner Betreuung hemmt.
Wenn Sie einem Freund oder Familienmitglied bei einer wichtigen Kaufentscheidung raten sollten und Sie mehr und negative Informationen über das Kaufobjekt haben als der potentielle Käufer, würden Sie ihm doch alle Informationen geben, die zu der Ent-scheidung „kaufen oder nicht kaufen?“ wertvolles beitragen könnten! Und welchen Grund haben Sie dann noch, bei einer Situation wichtige Information vorzuenthalten, die das Allerwichtigste, nämlich das Leben des Patienten entscheiden soll?
Außerdem müssen wir bedenken, dass jede emotionale Lüge das Selbstwertgefühl vermindert. Wenn wir also aus rein emotionalen Gründen etwas anderes sagen als wir denken, werden wir uns bewusst, dass wir nicht zu unserer Meinung stehen. Und was halten Sie von einem Menschen, der etwas anderes sagt als er weiß, fühlt und denkt?
Wer anderen etwas vorspielt, begibt sich der Chance, an dieser Krankheit und in dieser Beziehung mit dem Kranken etwas zu lernen und sich selbst weiterzuentwickeln. Gerade eine schwere Krankheit ist auch eine Bewährungsprobe für eine Beziehung und birgt die große Gelegenheit, durch die Krankheit die Partnerschaft auf eine neue Ebene hin zu entwickeln. Wenn die letzten Monate einer schweren Krankheit damit verbracht werden, einander wechselseitig eine heile Welt vorzuspielen, fühlt der Kranke sich verlassen und belogen. Er merkt, dass er gerade in einer Lebenskrise vom Partner nicht ehrlich behandelt wird, sich also in tatsächlich entscheidenden und scheidenden(!) Momenten nicht auf ihn verlassen kann.
Herr Schwer, der im Sterben lag, sagte zu mir: „Es war so schlimm, dass wir uns beim Sterben meiner Frau bis zuletzt angelogen haben, nur um einander zu schonen, und heute quält’s mich!“
8.6. Die ideale Lösung
Ich fragte die Ehefrau von Herrn Basler, einem schwerkranken Patienten, von dem wir wussten, dass er sterben würde, ob sie denn die letzten Dinge mit ihrem Mann bereits besprochen habe und ob sie beide auf die Trennung vorbereitet seien. Sie verneinte und brachte ihre Bedenken zum Ausdruck, ihrem Mann weh zu tun, wenn sie seinen bevorstehenden Tod ansprechen würde. Ich riet ihr, diese letzten Tage zu einem oder mehreren Gesprächen in günstigen Momenten zu nützen, weil gerade diese Sterbephase eine äußerst wichtige Gelegenheit sei, in der sich die Partnerschaft bewähren und einer Wandlung und Entwicklung unterziehen könne.
Bereits am nächsten Tag berichtete die älteste Tochter von Herrn Basler ganz erleichtert, dass ihre Eltern in den frühen Morgenstunden ein sehr vertrauensvolles und intensives Gespräch über den bevorstehenden Tod des Vaters geführt hatten. Frau Basler erzählte mir bei meinem Besuch am selben Tag, wie erleichtert sie sei. Ihr Mann habe mit ihr alles ganz offen und liebevoll besprochen, und sie seien beide sehr befreit. Er wäre zu solch einem ausführlichen Gespräch bereits am nachfolgenden Tag nicht mehr fähig gewesen. Eine Woche später starb Herr Basler.
In der Unsicherheit und Unklarheit über die Diagnose oder die Chancen für eine Gesundung kann man nichts unternehmen, und damit sind der Fantasie für Angst und Panik Tür und Tor geöffnet. Auch diese Umstände stehen einer Heilung oder einer guten seelischen Entwicklung zum Sterben hin entgegen. Wer die Krankheit kennt, kann sich wappnen, vorbereiten und aktiv werden. Wer sich mit der Krankheit intensiver auseinandersetzt, kann seine tiefsten Motive besser erkennen und im idealen Fall den Helfer für die Erfüllung des eigenen Schicksals entdecken. Das ist Erlösung in dieser Lage. Auch ein schwerst kranker Mensch kann in der Stille seines Bettes seelisch und geistig so sehr aktiv sein, wie wir es uns kaum vorstellen können.
8.7 Mein Vorschlag
Ich denke, in Bezug auf die „Wahrheitsfrage“ ist dieser Grundsatz eine annehmbare Lösung:
„Alles was wir sagen, muss wahr sein, aber nicht alles, was wahr ist, müssen wir sagen. Wir müssen alles sagen, was der andere wissen muss, um verständnisvoll und in voller Verantwortung für sein Leben handeln zu können.“
Das ist sicherlich das Äußerste, was wir uns bei einem Schwerkranken erlauben können und müssen. Sollen wir ihm zu seiner ausgesprochenen Krebsdiagnose auch noch erzählen, dass er Lebermetastasen hat? Es ist sicherlich nötig, wenn daraus Konsequenzen zu ziehen sind wie eine Veränderung der Therapie oder eine Vorbereitung auf das Sterben. Und ich denke, wir sollten es ihm sagen, wenn er gezielt danach fragt. Vielleicht ist es ja für ihn eine Testfrage an uns, um zu erfahren, wie ehrlich und offen wir sind und wie ernst wir ihn, den Patienten, als mündigen Menschen nehmen, der Informationen haben will, um sein Leben richtig einzuschätzen und zu planen.
Wir müssen uns bewusst sein: Wenn wir einem Menschen eine wichtige oder gar lebensentscheidende Information vorenthalten, entmündigen wir ihn. Das gilt auch dann, wenn wir es im guten Vorsatz tun, ihm Aufregung und Kummer zu ersparen.
Ich denke, es kommt darauf an, wie und wann wir etwas sagen. Wir müssen uns auf die Bedürfnisse des Patienten einstellen und den Patienten „dort abholen, wo er steht“. Es hat möglicherweise verheerende Folgen, wenn wir ihm eine Information aufzwingen, nur damit wir unseren eigenen inneren Druck loshaben. Manche Menschen wollen die Wahrheit hören und gleich darüber diskutieren. Andere brauchen an-schließend Zeit, um in Ruhe darüber nachdenken und dann erst nach außen reagieren zu können. Gerade bei Kranken, die gelernt haben, dass sie nur „schöne und angenehme“ Gefühle zeigen dürfen, sollten wir Rücksicht nehmen und ihnen für kurze Zeit die Möglichkeit eines Rückzugs geben. Dabei ist es sehr wichtig, ständige Gesprächsbereitschaft und Anteilnahme zu sig-nalisieren, um den Patienten zur Rückkehr in die Gemeinschaft zu ermuntern. Dadurch können wir weitgehend vermeiden, dass der Patient sich zu sehr allein gelassen fühlt. Das ist ganz besonders wichtig, wenn die schwerwiegende Diagnose dem Patienten ohnehin das Gefühl vermittelt, in seiner Hilflosigkeit aus dem gewohnten Alltagsleben und seinem sozialen Netz von Beziehungen und Kontakten verstoßen zu sein.
Wir müssen auch die individuelle Bedeutung einer Diagnose für den einzelnen Patienten beachten. Wenn eine Frau einen Knoten in ihrer Brust spürt und den Sterbeprozess der eigenen Mutter mit einem Brustkrebs erlebt und durchlitten hat, wird sie ihren eigenen Tastbefund ganz anders erleben, als wenn sie keine persönliche Erfahrung mit dieser Diagnose hat. Damit ist für sie als „erfahrene“ Patientin der Verlauf bereits in ihrer Vorstellung festgelegt. Es wird schwierig sein, sie für ein neues Erleben zu öffnen, das möglicherweise ganz anders verläuft.
8.8. Die Verdrängungsmechanismen
Wenn wir dem Kranken eine ernste Diagnose und / oder Therapiemethode eröffnen und erklären müssen, sollten wir unbedingt auf seine spontane Reaktion achten. Ich habe sehr häufig bemerkt, dass unmittelbar nach dem entscheidenden Wort „Operation“ oder „Krebs“ oder „Spritze“ bei den Patienten die weitere Wahrnehmung blockiert war und sie in ihrem Schock überhaupt nicht mehr aufnehmen konnten, was anschließend gesprochen wurde. Das hat sehr viel mit der Erwartung zu tun, die in den Patienten vor dem Gespräch besteht. Dabei ist zu bedenken, dass die häufigste Erwartung mit Angst beladen ist. Sie ist mit sehr intensivem Gefühl über lange Zeit enorm stark in unser Unterbewusstsein eingeprägt worden. Deshalb ist sie auch so kraftvoll und stellt eine sehr mächtige Beeinflussung des Unterbewusstseins dar, durch die genau das geschieht, wovor wir uns ängstigen.
Wenn die befürchtete Erwartung der Krebsdiagnose eintritt, wird eben die Gefühlslawine ausgelöst, die in all der vorangegangenen Zeit im Unterbewußtsein gespeichert worden ist. Sie überwältigt den Patienten und verschließt ihn gegenüber verstandesmäßigen Botschaften und Reaktionen und bewirkt dadurch oft überschießende gefühlsgesteuerte Handlungen. Das können deutlich sichtbare Gefühlsäußerungen wie Verzweiflung, Tränen oder Klagen sein. Oder es tritt nach außen eine Blockade zutage, die es dem Pati-enten unmöglich macht, seine in ihm tobenden Gefühle zu zeigen. Diese Menschen wirken seltsam unbeteiligt, als habe sie die Botschaft gar nicht erreicht. Der Ver-drängungsmechanismus schützt sie sozusagen gegen das Überborden der Gefühle nach außen.
Und die dritte Gruppe der Patienten baut sofort eine aktive Abwehr gegen die ängstigende Diagnose auf, indem sie die Diagnose als falsch, harmlos oder verwechselt ablehnen. So gibt es Patienten, die es trotz jahrelanger Therapie und Operationen nicht wahrhaben wollen, dass sie zum Beispiel krebskrank sind. Ich kenne eine Frau, die drei Jahre lang mehrere Brust- und Metastasenoperationen und eine Chemotherapie durchgemacht hatte und kurz vor dem Tod entsetzt behauptete, die Ärzte hätten ihr erst jetzt erzählt, sie habe Krebs.
Frau Weiler, eine andere Patientin, kam mit einem großen, geschwürig zerfallenen Brustkrebsknoten und einem massiven Lymphknotenpaket in der Achselhöhle in die Praxis und fragte mich, was das sei. Als ich wissen wollte, wie lange sie denn das schon beobachte, meinte sie, das habe schon vor acht (!) Jahren begonnen. Aber sie sei sich immer sicher gewesen, dass das gutartig sei, deshalb habe sie nichts unternommen. Und die Hausärztin habe ihr bei der Vorsorgeuntersuchung so in den Ohren gelegen, sie solle das genau im Krankenhaus untersuchen und operieren lassen, dass es ihr auf die Nerven gegangen sei. Seither war sie schon lange nicht mehr beim Arzt gewesen. Auch mein vorsichtiger Versuch, ihr die Ernsthaftigkeit der Lage zu verdeutlichen, prallte an ihrem „sicheren Wissen über die Gutartigkeit“ ab. Sie kam nicht wieder zu mir in die Praxis. Wenige Monate später hörte ich von der Hausärztin, Frau Weiler sei verstorben.
Wer weiß, vielleicht war es für Frau Weiler nur mit diesem massiven Verdrängungsmechanismus über all die Jahre zu ertragen, mit dem wachsenden Knoten zu leben. Es ist eine Art Totstellreflex, den wir bei Hasen erleben, wenn sie sich bedroht fühlen und sich ducken und reglos verharren.
Ich denke, es ist falsch, in solchen Situationen den Patienten mit Gewalt die Maske oder den Schutzschild herunterzureißen, denn sie können möglicherweise mit der Wahrheit und ihren Konsequenzen nicht umgehen. Aber wir müssen bereit sein, uns einem solchen Gespräch immer wieder zu stellen und Fragen der Patienten sorgfältig zu hören und besonders die eigentlichen Fragen zwischen den Zeilen zu verstehen und richtig zu beantworten. Eine große Schwierigkeit in solchen Konfliktsituationen besteht darin, mit unserer auf uns begrenzten Vorstellungs- und Erfahrungskraft zu erkennen, was unser Gegenüber wirklich weiß und sich überlegt.
Wenn wir in der Absicht, es wieder einmal ganz richtig zu machen und „weil man da doch etwas tun muss!“ dem Patienten die Diagnose voll ins Gesicht schleudern, ist das eine gefährliche Situation, da sich der Gefühlsstau unkontrolliert entladen und in heftigen und selbstzerstörerischen Aktionen äußern kann.
Eine andere Form von Verdrängungsmechanismus verschließt dem Patienten die Öffnung gegenüber der tatsächlichen und erfreulichen Botschaft. Denn das Unterbewusstsein ist schon so sehr auf die erwartete und angstbeladene Nachricht fixiert, dass das Bewusstsein gar nicht mehr erkennen kann, dass die eigentliche Information viel besser ist als die befürchtete.
Ein Beispiel aus meiner Zeit als Klinikarzt soll das veranschaulichen. Die 65-jährige Frau Lehmann lag auf meiner Station zur Abklärung von Oberbauchschmerzen. Mit einer Magenspiegelung hatten wir ein Magengeschwür und mit der Ultraschalluntersuchung einen großen Gallenblasenstein gefunden. Das Magengeschwür hatte in den letzten Monaten zunehmende Schmerzen gemacht. Der Gallenstein war bis zu diesem Zeitpunkt nicht bemerkt worden, weil er nie Beschwerden verursacht hatte.
Ich setzte mich zu Frau Lehmann ans Bett, zückte einen Notizblock und zeichnete eine kleine Skizze, um ihr zu zeigen, wo das Geschwür saß. Frau Lehmann unterbrach mich nach meinem ersten Satz und fragte, ob wir Gallensteine gefunden hätten. Ich bejahte die Frage und erklärte ihr, dasnicht die Gallensteine ihre Beschwerden verursacht hätten, sondern das Geschwür im Magen. Es sei deshalb notwendig, das Geschwür mit Medikamenten zu behandeln. Dann wollte sie wissen, wann wir die Gallenblase entfernen würden. Ich beschrieb ihr mehrfach ganz geduldig, dass es überhaupt nicht um eine Gallenblasenoperation gehe und dass sie mit diesem einen großen Stein sicherlich ohne Schmerzen sehr alt werden könne.
Immer wieder kam sie auf die Gallenblasenoperation zurück, und ich hatte große Mühe, ihre Aufmerksamkeit auf die medikamentöse Magentherapie zu lenken. Deshalb fragte ich Frau Lehmann sicherheitshalber am Schluss der etwa zwanzigminütigen Unterredung, ob sie noch Fragen habe. Sie verneinte, und ich verließ zufrieden über meine gelungene Aufklärungsarbeit das Krankenzimmer.
Kurze Zeit später kam die Tochter von Frau Lehmann ganz aufgeregt zu mir und fragte mich, was ich denn um Himmels willen mit ihrer Mutter gemacht habe. Sie sitze in Tränen aufgelöst im Bett, weil sie eben von mir erfahren habe, dass sie morgen an der Gallenblase operiert werden würde.
Ich war wie vor den Kopf geschlagen, denn ich war ja überzeugt, dass ich die Gallenblasenoperation sorgfältig ausgeschlossen und ausführlich von der medika-mentösen Magentherapie gesprochen hatte. Die Patientin allerdings war angstvoll auf die Operation fixiert gewesen, und mit meiner Bemerkung, dass in der Gallenblase ein Stein sei, war für sie die Operation besiegelt. Ich hatte gar keine Chance mehr, mit meiner wei-teren Erklärung zu ihr durchzudringen. Aber das hatte ich nicht bemerkt. Erst ein nochmaliges Gespräch mit Vermittlung der Tochter konnte die Lage schließlich für Frau Lehmann klären.
8.9 Die Missverständniskette
Bei informativen Gesprächen müssen Sie als Angehöriger auf ein schrittweises Vorgehen achten und den Patienten nicht auf einmal überschütten mit dem, was Sie für wichtig halten. So wie es eine bedrohliche Medikamentenüberdosis gibt, ist auch eine Informationsüberdosis gefährlich. Glücklicherweise halten die Menschen eine Menge Medikamente aus. Sie haben ebenso Mechanismen entwickelt, damit umzugehen, wie sie zu viele, unnötige, gefährliche oder als bedrohlich empfundene Informationen einfach nicht wahrnehmen oder auf andere Weise verdrängen.
Das Beispiel von Frau Lehmann zeigt auch für Sie als Patient oder Angehörigen eines Patienten einen Grundsatz der Kommunikation:
Wahr ist nicht, was A zu B sagt, sondern was B wahrnimmt.
Konrad Lorenz, der Verhaltensforscher und Medizin-Nobelpreisträger, fasste die Missverständnisse in einer Kette von möglichen und häufigen Trugschlüssen zu-sammen:
Gesagt bedeutet nicht gehört.
Gehört bedeutet nicht verstanden.
Verstanden bedeutet nicht einverstanden.
Einverstanden bedeutet nicht gemacht.
Gemacht bedeutet nicht beibehalten.
Beibehalten bedeutet nicht Erfolg gehabt
Deshalb ist es so wichtig, Ihre Stimmungen und Aufnahmemöglichkeiten als Patient oder Angehöriger zu beachten. Dazu gehören eben auch Ihre Erwartungen, Ängste und Hoffnungen, die Ihre Wahrnehmung prägen. Wenn Sie etwas Bestimmtes wahrgenommen haben oder auf eine spezielle Sache aufmerksam gemacht wurden, werden Sie beim nächsten Mal anders beobachten und werten. Das erklärt den Satz:
Unsere Wahrnehmung verändert unsere Wahrnehmung.
Dazu ein Beispiel. Wenn Sie ein Mensch sind, der sehr besorgt um seine Gesundheit ist und dazu hin Angst vor einem Herzinfarkt haben und dann hören, dass ein Schmerz über dem Herzen ein Zeichen für einen Herzinfarkt sein kann, werden Sie mit großer Angst jedes Ziehen im Brustmuskel über dem Herzen beachten und vielleicht als sicheres Zeichen für Ihren befürchteten Infarkt ansehen. Bei Ihnen schreibe ich ein EKG mit den Worten: „Ich will Ihnen zeigen, dass das Herz gesund ist.“ Das ist wesentlich besser formuliert als „Ich schreibe ein EKG, um Ihnen zu zeigen, dass das Herz nicht krank ist.“
Der amerikanische Krebsarzt Dr. Simonton sagt:
„Es ist einfach gesünder, über Gesundheit zu reden als über Krankheit, weil damit die Gedanken auf Gesundheit gerichtet werden statt auf Krankheit.“
Anders formuliert: Negative Gedanken an Krankheit machen auf die Dauer hilflos, angstvoll und lähmen auch noch die gesunden Anteile im Kranken. Gerade diese gesunden Eigenschaften, Möglichkeiten und Kraftquellen müssen aber in der Krankheit entdeckt, gepflegt und bestärkt werden. Sie sind sozusagen die Strickleiter, an der sich der Kranke wieder aus seiner Notlage heraus hangeln kann.
Wenn ich Ihnen als Patienten anschließend mit einem tastenden Finger die schmerzhaften Punkte auf der Brustmuskulatur aufzeige und damit klarmache, dass der Schmerz außerhalb des Brustkorbes auslösbar ist, erkennen Sie auch, dass das kein Herzschmerz ist. Ihre Wahrnehmung wird also verändert, Ihre Angst wird nachlassen, weil Sie durch die praktische Aufklärung die Zusammenhänge verstanden haben und selbst etwas klären können. Beim nächsten Schmerz werden Sie versuchen, selbst zu testen, ob der Schmerz von einer verspannten Brustmuskulatur herrührt oder un-beeinflussbar innerhalb des Brustkorbs sticht.
Im Alltag gibt es viele andere Beispiele für den zitierten Satz. Wenn Sie ein neues Auto kaufen wollen, sehen Sie nur noch neue Autos. Wenn Sie in den Urlaub fahren wollen, entdecken Sie plötzlich besonders viele Berichte über Ihr Ziel und Menschen, die auch dort waren. Wenn Sie schwanger sind, sehen Sie auf den Straßen viele schwangeren Frauen.
8.10 Der unterschiedliche Wortgebrauch bei Arzt und Patient
Natürlich müssen wir Ärzte bei einem aufklärenden und informierenden Gespräch auch auf den Wortschatz des Patienten achten. Es kann sein, dass Sie die Bedeutung einiger Wörter nicht kennen und es nicht äußern. Dann werden Sie den Rest der Unterhaltung nicht verstehen, und das wird Ihre Angst erhöhen, dass etwas mit Ihnen geschieht, was Sie nicht beeinflussen können. Sie werden sich möglicherweise ausgeliefert oder nicht ernst genommen fühlen. Deshalb habe ich mir weitgehend Fremdwörter im Umgang mit Patienten abgewöhnt, und wenn welche auftauchen, erkläre ich sie so einfach wie möglich.
Ein häufiger Grund für ein Missverständnis ist der für Mediziner übliche Satz: „Der Befund war negativ.“ Für uns Ärzte ist klar, dass das ein normales Ergebnis darstellt. Wenn etwas Krankhaftes bei dem Labortest oder der Gewebeprobe herausgekommen ist, gilt der Befund für uns Ärzte als „positiv“. Das widerspricht unserem im Alltag üblichen Wortgebrauch und bringt deshalb oft erhebliche und weitreichende Missverständnisse. Oder um es am Beispiel zu sagen: Der positive AIDS-Test ist ein sehr negatives Ergebnis, denn der Patient ist infiziert. Der negative Krebsabstrich ist ein sehr positives Ergebnis, denn die Frau ist gesund.
Ähnlich schwierig ist die Situation, wenn der Arzt Ihren sehr stark schmerzenden Bauch untersucht und sagt: „Da ist nichts!“ Er meint damit, dass er nichts Krankhaftes gefunden hat. Sie fühlen sich aber dann möglicherweise nicht ernst genommen oder gar als Simulant hingestellt, denn für Sie ist da ja „etwas“, nämlich ein quälender Schmerz. Viel besser wäre es zu sagen: „Ich kann jetzt nichts Krankhaftes finden, der Tastbefund ist normal. Deshalb muss ich weiter nach der Ursache Ihrer Schmerzen suchen.“
Auch wenn der Arzt Ihre Laborwerte anschaut und sagt: „Da ist nichts!“ hat er objektiv etwas Falsches und etwas sprachlich Ungeschicktes dazu hin gesagt. Denn er hat in Wirklichkeit normale Befunde festgestellt, und das ist doch etwas sehr Wichtiges für Sie und eine durchaus bedeutende Erkenntnis, die Sie beruhigen würde, wenn man sie Ihnen richtig erklärt. Eigentlich müsste der Arzt sagen: „Die Befunde sind normal.“ Ich habe mir aus diesem Grund angewöhnt, den Patienten die Laborkarte zu zeigen und die Werte und die dazugehörigen Normwerte zu erklären. Das kostet nur wenig mehr Zeit und gibt Ihnen als Patienten das Gefühl, gut beraten worden zu sein.
Wenn wir Patienten und Angehörige informieren, werden wir Ärzte oft nach Einzelheiten gefragt. Dabei hat sich mir die Regel bewährt:
Beantworten Sie die Frage, nicht mehr und nicht weniger. Sagen Sie alles, was der Patient braucht, um verständnisvoll mitarbeiten zu können.
Dann kann ich immer noch fragen: „Möchten Sie noch etwas wissen?“ oder „Haben Sie Angst?“ oder „Fühlen Sie sich ausreichend informiert?“ Auch wenn wir aus der Vermutung heraus, der Patient habe Angst vor der Diagnose, ihn nicht informieren, ist noch lange nicht gesagt, dass er wirklich Angst hat und mit der Diagnose nicht umgehen kann. Vielleicht haben Sie als Angehöriger Angst vor dem Gespräch und projizieren Ihre Angst auf den Patienten. Angst ist kein guter Ratgeber und macht in jeder Beziehung eng und hilflos. Das Wort Angst kommt vom lateinischen angustus = eng. Eine angemessene Konfrontation mit den Tatsachen stellt eine Chance dar, an der Aufgabe zu wachsen, indem wir uns der Angst stellen.
8.11 Wir müssen Hoffnung vermitteln!
Wir sollten berücksichtigen, dass die Patienten seelisch oft stärker sind als die Angehörigen und besser mit den Diagnosen umgehen können als vermutet. Dann bewährt sich, dass wir die Patienten richtig und umfassend informiert haben. Entscheidend ist die Hoffnung, die mit der Diagnose vermittelt wird.
Der bekannte Krebsspezialist Dr. Bernie Siegel sagt in seinem lesenswerten Buch „Prognose Hoffnung“ (ECON-Verlag):
„Im Zweifelsfall ist Hoffnung immer richtig.“
8.12. Wie lange noch?
Grundsätzlich falsch finde ich es, wenn wir die oft gestellte Frage, wie lange denn der Kranke noch zu leben habe, mit einer klaren Zahl von Tagen, Wochen oder Monaten beantworten. Ich habe so viele Fehler bei den Antworten erlebt, bei mir selbst und den Kollegen, dass ich es wirklich für unverantwortlich halte, wesentlich mehr zu sagen als „Ich weiß es nicht!“
Es gibt viele Beispiele, wo die Frist wesentlich zu kurz oder zu lang vom Arzt bestimmt wurde. In beiden Fällen stellen sich Patient und Angehörige darauf ein, und dann kommt mit Sicherheit die Ent-Täuschung. Das ist eine Wegnahme der Täuschung, der sich alle bis dahin sicher waren. Die Enttäuschung klärt die Lage, und das tut oft sehr weh. Eine Enttäuschung kann es nur geben, wenn eine Erwartung besteht.
Wer etwas Richtiges erwartet, ist klug. Wer nichts erwartet, ist weise. Wer das Falsche erwartet, wird enttäuscht.
Auch wenn wir nach medizinischem Ermessen davon ausgehen können, dass der Patient in den nächsten Tagen sterben wird, kann das falsch sein. Er kann in den nächsten Minuten zum Beispiel an einer Lungenembolie sterben oder noch wesentlich länger als vorhergesagt leben. Nicht ohne Grund sagt der Volksmund: „Totgesagte leben länger“.
Ich will gerne gestehen, dass es für einen Arzt so etwas wie eine verlockende Machtfunktion darstellt, wenn er etwas über den Todeszeitpunkt aussagt. Deshalb will ich Ihnen mein Schlüsselerlebnis berichten, bei dem ich endgültig gelernt habe, mich bei dieser Frage nicht mehr festzulegen.
Kurz vor meiner Niederlassung als Allgemeinarzt wurde mir Frau Seiler, eine über 80-jährige Dame aus dem Altenheim wegen akuter Herzschwäche auf die Station gelegt. Wir behandelten sie mit den üblichen Mitteln und sahen, dass es ihr zunehmend schlechter ging. Eine Komplikation nach der anderen kam dazu und damit auch ein Medikament nach dem anderen. Schließlich war Frau Seiler tief bewusstlos, und nach allen medizi-nischen Befunden, die wir erheben konnten, war mir klar, dass sie in den nächsten Tagen sterben würde.
Im Olgahospital hatte ich gelernt, über Patienten, bei denen wir keine Hoffnung auf Weiterleben hatten, mit dem Oberarzt und dem Chefarzt zu sprechen, ob wir die Medikation und Intensivmaßnahmen absetzen und nur noch Flüssigkeit in die Vene geben, um den Menschen einen ruhigen und friedlichen Tod zu ermöglichen. Da meine Meinung über Frau Seiler klar war, bat ich den Oberarzt und den Chefarzt zu einem Ge-spräch und erklärte die Situation und meine Vorstellung. Dann gingen wir gemeinsam zu Frau Seiler, waren uns über ihre unrettbare Lage einig und beschlossen schließlich einstimmig, alle Medikamente abzusetzen und sie nur noch mit Flüssigkeit intravenös zu ernähren. Ich machte eine entsprechende Bemerkung in die Karteikarte und war der Meinung, ein gutes Werk getan zu haben. So war es dann auch wirklich, nur ganz anders, als ich es gedacht hatte.
Von diesem Moment an ging es Frau Seiler von Stunde zu Stunde besser! Die Nierenfunktion setzte wieder ein, die Lunge atmete besser, das Herz schlug kräftiger. Schließlich wachte Frau Seiler wieder auf und war klar bei Bewusstsein. Nach einigen regelmäßigen Bewegungsübungen verließ sie zwei Wochen später auf eigenen Beinen die Klinik in Richtung Altenheim!
Die richtige Therapie hatte darin bestanden, unsere Therapie abzusetzen! Und ich hatte das Gefühl, ich hätte den Todeszeitpunkt von Frau Seiler erkannt und richtig entschieden, und dann hat ER entschieden und mir meine fehlende Entscheidungsbefugnis bewiesen. Aber ich habe den Trost, dass ich letztlich doch für das Leben von Frau Seiler gehandelt habe, nur sehr unwissend.
Liebe Angehörige und liebe Patienten, bitte verlangen Sie von Ihrem Arzt keine genaue Aussage zu der Frage des voraussichtlichen Sterbemoments, so sehr ich verstehe, dass die Antwort für Sie ganz entscheidend wichtig ist. Ihr Arzt weiß es nicht. Die Bemerkung, dass ein Mensch sehr wahrscheinlich demnächst sterben wird, ist schon genug, um Vorbereitungen zu treffen. Und es gibt sehr wenige Situationen, in denen absolut klar ist, dass der Mensch jetzt in der nächsten Stunde sterben wird.
sinngemäß: Halbwissen
FN das heißt: der Patient ist mit AIDS-Viren infiziert.
22 Illusion ist die verfälschte Wahrnehmung wirklicher Gege-
benheiten. Halluzination ist die Sinnestäuschung, bei der die
Wahrnehmung kein reales Objekt hat.
23 Daher kommt das Wort Angsthase.
24 das Wort Angst kommt von lat. angustus: eng
25 Spezialist für Tumorerkrankungen
26 ECON-Verlag