Letzte Freu(n)de
(nach dem Bild Bird friend von Gil Claes, das ich hier mit freundlicher Genehmigung des Fotografen abdrucke. Es erschien am 25.02.2015 in www.fotocommunity.de)
Der Autolärm über Eric weckt ihn aus dem Schlaf. Er schiebt in der fahlgrauen Morgendämmerung langsam den Schlafsack zur Seite, dessen Reißverschluss schon lange nicht mehr funktioniert, und blickt verschlafen auf das träge fließende Wasser. Seit er unter der Brücke lebt, hatte er wenigstens nachts seine Ruhe. Jetzt in den Morgenstunden gefallen ihm die Beschaulichkeit am Ufer, der sanfte Tagesbeginn und das langsam aufhellende Licht. Der Wind streicht lau über seinen wirren Bart und durch das ungewaschene, schüttere Haar.
In dem Einkaufswagen liegt Erics ganze Habe, auch ein paar Klamotten, denen der Einheitsgeruch des Ungewaschenen und Verschwitzten anhaftet. Und hier steht der kleine Kocher, auf dem Eric jetzt Kaffeewasser heiß macht. Dann genießt er langsam aus der alten Porzellantasse mit dem abgesprungenen Eck seinen Morgentrunk und betrachtet die feinen Wellen und ein paar Tauben, die knapp über das Wasser jagen. Sie tragen wie fast jeden Morgen seine Erinnerung zurück zu Marie.
Das Auto schießt um die Ecke, reißt Marie vom Bürgersteig weg auf die Straße unter die Reifen und aus seinem Leben. Eric schüttelt unwillig den Kopf, als wollte er die schlimmsten Sekunden seines Lebens wegschleudern. Er sieht aber Maries Beerdigung und Monate später sich selbst mit glasigem Blick und dröhnendem Kopf auf der Intensivstation, völlig betrunken, hilflos seiner Sucht ausgeliefert.
Lange hatte es gedauert, bis er nach der Entziehung wieder einen Job gefunden hatte – als Pförtner in einem großen Krankenhaus. Er, der früher erfolgreiche Diplomingenieur, war froh, dass er wenigstens seinen sozialen Absturz dort aufhalten konnte. Aber dann kam der Nachtdienst, in dem erfuhr, dass auch sein Sohn mit dem Auto tödlich verunglückt war. Da stand noch eine Schnapsflasche im Schrank, die er geschenkt bekommen und verwahrt hatte. Jetzt konnte er nicht widerstehen und öffnete sie. Nur einen einzigen Schluck zum Trost, dachte er. – Ein paar Stunden später und nach reichlich flüssigem Trost kam ihm noch der Gedanke, er sei in diesem Zustand dienstunfähig und müsse das Krankenhaus und die Patienten schützen. Also ging er in der Nacht ums Haus und schloss alle Türen ab, auch die Krankenhauseinfahrt für die Notaufnahme. Jetzt waren alle in Sicherheit, keiner kam raus, keiner rein, und nichts konnte passieren, dachte er. Dann schwankte er nach Hause, lange bevor der Kollege vom Frühdienst ihn ablöste. Nach der fristlosen Kündigung erhielt Eric nie wieder in eine ordentliche Anstellung.
Jetzt sitzt er hier am Wasser und bereitet sich auf seine Morgenfreude vor. In der Nacht hatte er aus den Containern des Supermarkts das weggeworfene Essen in seinen fahrbaren Koffer gepackt. Er will seinen Freunden, den Tauben, das Frühstück bringen wie jeden Tag.
Er schiebt den vollen Koffer langsam zu dem großen Platz vor der Kirche. Der Schwarm der Tauben fliegt auf ihn zu. Sie begrüßen ihn mit einem Schwirren über dem Kopf. Eine der Tauben setzt sich erwartungsvoll auf den Griff des Koffers. Eric genießt das Brausen, den Wind der Flügel, das Gurren rund um sich herum. Er hat seine Aufgabe, die er gewissenhaft jeden Tag erledigt. Wenigstens die Tauben sind dankbar und stören sich nicht an der Alkoholfahne, die ihn umweht. Ja, auch Eric ist dankbar für diese Morgenstunden und die Begegnungen. Die Tauben sind ihm ans Herz gewachsen mit ihrer Vorurteilslosigkeit, ihrer guten Stimmung, ihrer Treue.
Eric packt langsam mit schmutzigen Händen seine Schätze aus, öffnet die knisternden Plastikpackungen und streut die Kekse und andere Nahrungsreste um sich auf den Boden. Die Tauben stürzen sich darauf, picken im Wettlauf alles auf, rennen zur nächsten Krume und verjagen einander vom Futter.
Er beobachtet selbstzufrieden das lebhafte Treiben und spürt, wie er seinen Weg angenommen hat. Unten auf der sozialen Leiter, ganz unten, hat er Freunde gefunden, die zu ihm halten und für die er jeden Tag wichtig ist. Diese Aufgabe erfüllt ihn mit spätem Stolz. Er ist zu etwas nütze! Gebeugt vom Leben steht er innerlich aufrecht da. Er bescheidet sich mit dem, was er hat und sieht seine Bestimmung darin, der Freund der Tauben zu sein. Nach all den Kämpfen, der Verzweiflung, den Rückschlägen und Ausgrenzungen ist er mit sich im Reinen.
Er hört das Schwirren um sich herum und wundert sich, wie es immer näher kommt und in seinen Kopf eindringt. Er beugt sich über den offenen Koffer, will noch tief unten eine Schachtel holen, da dreht sich alles in ihm. Wirbelnd fliegen leuchtende Farben vor seine Augen, verwirrend verschwinden sie im Nebel, dann wird es warm und hell, und wunderbare Klänge füllen sein ganzes Wesen.