Die Aphasiker – Menschen mit Störungen des Sprachverständnisses und der Sprechfähigkeit

 

Aphasie ist ein griechisches Wort und bedeutet Sprachlosigkeit. Der medizinisch gebrauchte Begriff Aphasie ist nicht eindeutig definiert. Deshalb will ich hier ein paar Definitionen aufzählen, um das Krankheitsbild zu umschreiben.

Aphasie ist eine Störung aller sprachlichen Modalitäten und Ebenen. Das Sprachverständnis ermöglicht, gesprochene und gelesene Sprache zu verstehen. Die Sprachproduktion gibt uns die Möglichkeit, Sprache zu sprechen und ist Voraussetzung, sie zu schreiben. Außerdem gehören noch dazu das Wortgedächtnis, die Fähigkeit, mit Zeichensystemen umzugehen und z. B. Bilder mit Wörtern zu verbinden und die Bilder im Gedächtnis wieder zu finden, wenn man das Wort hört, und das grammatische Verständnis. Dabei ist wichtig zu beachten, dass es außer den Symbolen der Sprache noch viele andere Zeichensysteme in unserem Alltag gibt, die bei einer Aphasie beeinträchtigt sein können: Die Zahlensysteme, die Zeichensprache, Gebärdensprache, alle Bilder, die eine bestimmte Bedeutung haben wie z. B. Verkehrszeichen, Formeln, Flaggensysteme, technische Symbole oder Zeichen, die unser Zusammenleben regeln wie z. B. Höflichkeitsgesten.

Aphasie tritt erst nach vollzogenem Spracherwerb auf, d.h. jemand kann erst dann aphasisch werden, wenn er gelernt hat zu sprechen.

Aphasie entsteht durch eine Schädigung des Gehirns. Damit ein Mensch sprechen lernt, müssen viele verschiedene Zentren im Gehirn programmiert und miteinander vernetzt werden. Deshalb gibt es je nach Art und Ausmaß der Schädigung verschiedene Formen der

Aphasie, die gekennzeichnet sind durch ein bestimmtes Muster der Schädigung einzelner Modalitäten, die ich oben aufgezählt habe. Da bei Rechtshändern die Sprachzentren in der linken Hemisphäre des Gehirns liegen, sehen wir Aphasien fast ausschließlich bei Patienten mit Schädigungen der linken Hirnseite. Aber nicht alle Patienten mit einer Schädigung der linken Hirnhälfte haben eine Aphasie. Die Aphasie ist eine häufige Komplikation eines Schlaganfalls [1] oder einer Verletzung der linken Hirnhälfte. Die linke Hirnhälfte ist verantwortlich für Lesen, Schreiben, Verstehen und logische, analytische Denkvorgänge. Die rechte Hirnhälfte ist zuständig für emotionales, ganzheitliches, synthetisches Denken.

Wenn der Patient nur eine Aphasie hat, sind vorwiegend sprachliche Fähigkeiten betroffen, und die Intelligenz und das Gedächtnis sind ungestört. Deshalb können Patienten, die nur eine Aphasie haben, hoch motiviert und intelligent an ihrer Therapie teilnehmen. Bei einem Schlaganfall sind aber meist auch andere Symptome vorhanden, z.B. ein organisches Psychosyndrom, das die Therapiemöglichkeiten erheblich einschränken kann. Aphasien sind meist stabil und chronisch. Deshalb ist es schwierig, sie positiv zu beeinflussen.

Es gibt je nach Definition vier Grundformen der Aphasie. Meist begegnen wir nicht einer reinen Form, sondern einer Mischform.

a. Die globale Aphasie. Hier ist die Sprachproduktion spärlich bis fehlend. Der Satzbau begrenz sich auf Einzelwörter, Floskeln (z. B. „oje, oje“ oder „alles gut, alles gut“) und Automatismen: Das sind immer wiederkehrende Äußerungen ohne Zusammenhang mit der akuten Situation, z. B.: dodo didi oder tütütüt. Es wird bei jeder Gelegenheit immer das gleiche gesagt, und es hat meist keinen oder keinen passenden Sinn. Eine Patientin sagte ständig, wenn sie irgendetwas gefragt wurde: „Die Bedeutung ist grenzenlos.“

Der Wortschatz ist sehr begrenzt und besteht meist nur aus drei oder vier Wörtern, die ohne Sinnzusammenhang eingesetzt werden.

Manchmal treten auch semantische Paraphasien [2] auf: Dabei gibt der Patient einem Begriff eine ähnliche Bedeutung. Er sagt zum Beispiel zum Kühlschrank „Flaschengarage“ oder „Kaltregal“ oder zur Uhr „Stundenteiler“ oder „Rundzeiger“ oder zu kochen „abwaschen“ oder zu Erdbeere „Zitrone“ oder zu Bus „Durchgehauto“.

In der Lautbildung kommen viele phonematische Paraphasien [3] vor: Der Patient verwechselt Laute und Buchstabenreihenfolgen und sagt beispielsweise Pulme statt Pflaume, Tock statt Stock, Planze statt Pflanze, polip statt Pilot, spülschamine statt Spülmaschine.

Außerdem gibt es viele Neologismen, das sind neue Wortschöpfungen, z. B. bunzino statt Tasse oder lisson statt Kaffee. Sie klingen natürlich für uns wie eine Fremdsprache und deshalb verstehen wir sie nicht oder nur in Verbindung mit Zeichensprache.

Das Verstehen des Aphasikers ist schwer gestört. So lässt sich leicht erklären, warum es außerordentlich schwierig und oft unmöglich ist, mit dem Patienten über Wörter eine Kommunikation aufzubauen: Entweder er spricht gar nicht oder für uns Unverständliches, und er versteht auch nicht, was wir ihm sagen wollen.

b. Die Broca-Aphasie wird auch motorische oder unflüssige Aphasie genannt. Sie ist benannt nach dem Sprachzentrum in der linken unteren Stirnhirnwindung, das von einem Arzt namens Broca (1824-1880) beschrieben wurde.

Die Sprachproduktion ist stark gehemmt und verlangsamt („unflüssig“), es besteht eine schwere Störung beim Nachsprechen oder Benennen von Gegenständen, obwohl der Patient sich offensichtlich sehr um jedes Wort bemüht. Der Satzbau enthält viele grammatische Fehler, meist werden nur Grundformen von Verben benutzt, und persönliche Fürwörter wie ich, du, er, sie, es fehlen. Ein Satz besteht meist nur aus Bruchstücken, die aber wenigstens in die richtige Richtung der Bedeutung weisen können und sich anhören, als ob wir in einer fremden Sprache erste Versuche machen: „Gestern Kino“, und dabei deutet der Patient auf sich, weil die Wörter „ich“ und „bin gewesen“ nicht mehr zur Verfügung stehen. Semantische Paraphasien kommen selten vor und phonematische Paraphasien häufig.

Das Sprachverständnis ist meist nur gering beeinträchtigt. Das bringt immerhin den Vorteil, dass der Patient meist versteht, was wir ihm sagen wollen, und wir können mit einiger Fantasie und geduldigem Nachfragen herausfinden, was der Patient meint.

c. Die Wernicke-Aphasie wird auch akute flüssige oder sensorische Aphasie genannt und wurde erstmals beschrieben von dem Neurologen Karl Wernicke. Sie ist charakterisiert durch Paraphasien, Grammatik- und Satzbaufehler und eine meist schwere Verständnisstörung. Die Patienten reden viel (deshalb „flüssige“ Aphasie) und sind doch meist nicht zu verstehen. Das gilt besonders für die problematischste Störung, den Jargon. Das ist eine völlig unverständliche und meist sehr lebhaft vorgetragene Aneinanderreihung von Buchstaben und Klängen, die keinen Sinn erkennen lassen oder nur einzelne verstehbare Wörter enthalten, die aber meist nicht in den Zusammenhang der Situation passen, z.B. „und drun moldes dina furingel heute abend pokast defu …“ Es entstehen außerdem neue Wörter (Neologismen) und viel Un-Sinn, und das führt bei größtem Spracheinsatz des Patienten zu kompletter Verwirrung, Wut und Verzweiflung des Patienten, die Zuhörer sind meist verblüfft, ratlos und wenden sich in ihrer Hilflosigkeit ab, was den Patienten wiederum in seiner verzweifelten Lage bestärkt.

d. Die amnestische [4] Aphasie ist eine „flüssige“ Aphasie. Der Patient spricht flüssig, und der Satzbau ist kaum gestört, aber es tauchen viele Wortfindungsstörungen und einige semantische und phonematische Paraphasien auf. Das Verstehen ist kaum gestört. Diese Form der Aphasie ist die mildeste, und manche Patienten können mit ihrer Intelligenz Wortfindungsstörungen mit geschickten Umschreibungen so ausgleichen, dass ein ungeschulter Zuhörer die Sprachstörung nicht als solche bemerkt, sondern sich höchstens wundert, warum der Gesprächspartner „ein bisschen komisch“ redet. Neulich sagte ein Patient: „Man sollte jetzt die Raumtemperatur regeln!“ Als wir nachfragten, wie er das denn meine, deutete er auf das Fenster und sagte: „Ändern Sie die Scheibe!“ Erst als wir fragten: „Öffnen oder schließen?“, sagte er: „Öffnen, es ist zu warm!“

Wie gehen wir richtig mit dem Aphasiker um?

Es ist sehr wichtig, ihn als Aphasiker zu erkennen und nicht zu glauben, er sei dumm oder betrunken, wenn er uns in der Straßenbahn oder in einem Geschäft unvorhergesehen begegnet. Wenn wir auf die Idee kommen, dass hinter dem Gestikulieren und dem verwirrten Reden ein intelligenter, orientierter und sprachgestörter Mensch um Verständnis heischt, können wir mit Verständnis, Mitgefühl und einiger Fantasie so handeln, als ob ein Ausländer vor uns steht und mit uns ins Gespräch kommen will. Das setzt voraus, dass wir ihn ernst nehmen und uns redlich und geduldig bemühen, seine Information zu verstehen und angemessen zu beantworten. Wir müssen natürlich auch überlegen, wie wir unsere eigene Botschaft anbringen können.

Denn die Paraphasien entstellen die Sprache manchmal bis zur Unkenntlichkeit. Der Fantasie ist hier keine Grenze gesetzt, und häufig gibt es lustige Begriffe. Wenn man aber darüber lacht, ist der Patient verständlicherweise böse, denn er bemüht sich um klare Sprache, und er hat den Eindruck, dass wir ihn auslachen. Er erkennt, dass sein Wort falsch ist, er versucht es zu korrigieren und gerät nicht selten in Wut und dann in Resignation, weil er mit seiner erhaltenen Intelligenz erkennt, dass er eine wichtige Fähigkeit verloren hat.

Wir haben jetzt gelernt, dass der Broca-Aphasiker und der Patient mit der amnestischen Aphasie noch recht gut verstehen, also lohnt es sich, zuerst einmal auf einfachem sprachlichem Niveau die Situation zu klären. Die Frage: „Haben Sie einen Schlaganfall gehabt?“ versteht der Patient oft und kann antworten. Aber Vorsicht: Ein JA beim Aphasiker kann auch NEIN heißen, denn er zeigt oft Verwechslungen bei Wörtern! Deshalb ist die Frage „Verstehen Sie mich?“ vielleicht irreführend. Deshalb müssen wir auf die Körpersprache achten, und hier ist JA kaum mit NEIN zu verwechseln. Aber wir können noch nicht sicher sein, dass er die Frage richtig verstanden hat. Deshalb sind Fragen wie im Kreuzverhör manchmal zielführend. Das allerdings sollten wir nur in geschütztem Rahmen und nicht aus Neugier machen und schon gar nicht, um den Patienten bloßzustellen.

Ein Schlaganfallpatient hat auch oft noch eine Lähmung im Gesicht oder an Arm oder Bein, die man erkennen kann. Auch eine verwaschene Sprache eines Aphasikers kann wie das Lallen eines Betrunkenen klingen. Aber ein Betrunkener hat noch andere Symptome, die ihn von einem Nüchternen unterscheiden. Das hilft, ihn als Patient zu identifizieren und nicht als dumm oder betrunken abzustempeln. Wirklich schwierig wird es, wenn ein Aphasiker betrunken ist.

Also: Geduld, langsame Sprache, Fantasie, Zeichensprache, Einfühlungsvermögen und Bilder können zum Verständnis helfen. Unsere Fantasie kann dazu beitragen, aus der Situation heraus oder / und anhand der Körpersprache und der Paraphasien den gemeinten Sinn zu finden. In der Klinik haben wir Tafeln, auf denen typische Alltagssituationen und Gegenstände gezeichnet sind, auf die der Patient auch dann zeigen kann, wenn er nicht mehr sprechen kann. Allerdings muss sein Bildergedächtnis noch vorhanden sein.

Unser Verhalten wird dem Patient rasch zeigen, wie wir ihn einschätzen, und er wird entsprechend handeln. Einige Aphasiker haben ein kleines Kärtchen in der Tasche, auf dem steht, dass sie eine Sprachstörung haben und um entsprechende Hilfe bitten. Man kann sich leicht vorstellen, wie dankbar Aphasiker sind, wenn man sie wie normale Menschen behandelt und ernst nimmt und nicht aus Schreck oder Hilflosigkeit oder peinlicher Berührtheit davonläuft.

Ansonsten ist es natürlich wichtig, dass aphasische Patienten regelmäßig Therapie beim Logopäden, dem Sprachtherapeuten, erhalten, um möglichst viel von der verlorenen Sprachfähigkeit wieder zu erlangen oder neu zu lernen. Leider muss man sagen, dass die Erfolge oft sehr zu wünschen übrig lassen, weil eine Aphasie häufig sehr behandlungsresistent ist. Und eine differenzierte Unterhaltung über abstrakte Themen ist mit einem schwer betroffenen Aphasiker nie mehr möglich.

Aber ich kenne Herrn Dr. Sänger[5], einen hoch intelligenten Rechtsanwalt, der durch einen Schlaganfall in der linken Hirnhälfte in jungen Jahren eine halbseitige Lähmung rechts und eine Broca-Aphasie erlitten hat. Er kann durch sein intensives und sehr ehrgeiziges regelmäßiges Training heute wieder auf einem Spezialdreirad liegend durch die Straßen fahren und sich mit kargen Worten so verständigen, dass er die wesentlichen Dinge des täglichen Lebens allein regeln kann. Ich werde nie den Tag vergessen, als er in mein Sprechzimmer kam und auf meinen PC deutete: „Ich E-mail schreiben hier. Jetzt bitte Adresse geben!“ Ich gebe zu, ich war sehr verblüfft über seine Idee, aber natürlich auch hoch erfreut, und so gab ich ihm meine Adresse. Im Laufe des vergangenen Jahres hatte er gelernt, mit der linken Hand zu schreiben, denn seine Rechte war vollständig gelähmt, und so schrieb er mir seine Adresse auf und sagte mit einem Fragezeichen im Gesicht: „Sie antworten?“ Seither erhalte ich in regelmäßigen Abständen kurze Mails von ihm, die zwar Schreibfehler [6] enthalten, aber verstehbar sind. Manchmal bittet er seine Schwester, seine Ideen zu formulieren. Und ich antworte immer sehr gern und freue mich, dass dieser Mann seinen Lebensmut immer noch hat. Ich habe ihn während der ganzen langen Therapiezeit nie missmutig oder depressiv erlebt, obwohl das Schicksal ihn sehr gebeutelt hat und seine Frau ihn nach dem Schlaganfall mit den Kindern verlassen hat.

 


[1] Der Schlaganfall entsteht in etwa 80% der Fälle durch eine Durchblutungsstörung (= Infarkt) des Hirngewebes, in ca. 15% durch eine Blutung, in ca. 5% durch andere Ursachen, z.B. Entzündungen, Tumoren.

[2] Wörtlich übersetzt: Bedeutungsmäßige Nebenwörter

[3] Wörtlich übersetzt: Klangliche Nebenwörter

[4] Amnesie bedeutet Gedächtnisverlust.

[5] Ich nenne ihn so, weil er ein begeisterter Opernliebhaber ist, der während seiner Therapiezeit ständig einen MP3-Spieler mit Opernmusik dabei hatte und regelmäßig auch heute noch in die Oper geht.

[6] Das sind phonematische Paraphasien! Er schreibt wie er hört, z. B.: „Där Bleisdifd“.

 

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

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