Die fünf seelischen Stadien des Sterbens

Wohin gehen wir? Immer nach Hause.

Novalis (1772-1801), eigentlich Friedrich von Hardenberg, deutscher Dichter

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Joseph Eichendorff (1788-1857), deutscher Dichter, in „Mondnacht“

Das Leben ist nur ein Moment. Der Tod ist auch nur einer.

Friedrich Schiller (1757-1805), deutscher Dichter, in „Maria Stuart“

29.1 Einleitung

Wir haben es Elisabeth Kübler-Ross zu verdanken, dass sie in ihrer Arbeit die verschiedenen Stadien beschrieben hat, die sterbende Menschen durchleben. Sie hat in ihren Büchern bewegende Beispiele dafür dokumentiert und erzählt. Ich kann nur eigene Beobachtungen beitragen, die ihre Erkenntnisse bestätigen. Interessant ist, dass auch die Angehörigen diese Stadien mehr oder weniger intensiv durchlaufen, wenn sie einem Sterbenden nahestehen. Lesen Sie also bitte die folgenden Beschreibungen sowohl aus der Sicht des Patienten als auch des Angehörigen, der sich auf seine Rolle als Begleiter und auf den Tod des Patienten einstellen muss. Alle Menschen durchleben diese Stadien, wenn auch in verschiedener Intensität und Geschwindigkeit.

29.2. Das 1. Stadium: Die Verweigerung: „Nein, ich nicht!“

 

Der Furchtsame erschrickt vor der Gefahr, der Feige in ihr, der Mutige nach ihr.

Jean Paul, eigentlich Johann Paul Friedrich Richter, (1763 -1825), Theologe und Philosoph

Die Patienten lehnen die Diagnose für ihre Person ab, indem sie zum Beispiel gar nichts tun oder behaupten, die Gewebebefunde des Krebses oder die Röntgenaufnahmen seien vertauscht worden. Oder sie beschuldigen den Arzt, er sei unqualifiziert und habe eine falsche Diagnose gestellt. Oder sie verhindern auf andere Art und Weise angemessene Konsequenzen auf die Diagnose, indem sie diese zum Beispiel für „unnötig“ halten oder vergessen. Dabei ist wichtig zu wissen, dass Vergessen in solchen Fällen keine Fehlleistung unseres Gehirns darstellt, sondern eine aktive Leistung des Unterbewusstseins ist, die der Patient unbewusst und sehr wirksam im Moment zum eigenen Schutz aufbaut. Andere Patienten verharmlosen den Befund und sagen: „Das kann nicht schlimm sein! Es wird wieder besser.“

Achim Krüger hat nach Tasten seines Tumors in der Kniekehle die Entfernung und Gewebeuntersuchung über ein Jahr lang nicht durchführen lassen, obwohl sein Arzt es ihm dringend angeraten hat. In der therapeutischen Arbeit konnte er erkennen, dass dies ein Verdrängungsmechanismus seines Unterbewusstseins war, um sich einerseits nicht mit seinem Konflikt beschäftigen zu müssen, andererseits um der ersehnten Krankheit genügend Zeit zur tödlichen Entwicklung zu geben.

Alle diese Verhaltensweisen dienen der Verdrängung der Tatsache, die der Patient im Moment nicht wahrhaben will, weil sie schrecklich und für ihn unerträglich erscheint. Das Unterbewusstsein braucht Zeit, sich darauf einzustellen.

29.3 Das 2. Stadium: Zorn und Ärger: „Warum ich?“

Das, was dem Leben Sinn verleiht, gibt auch dem Tod Sinn.

Antoine de Saint-Exupèry (1900-1944), französischer Schriftsteller und Flieger, bei einem Aufklärungsflug abgestürzt

Jetzt hat der Patient die Diagnose akzeptiert und ist wütend, dass es gerade ihn getroffen hat. Sein Überlebenswille rebelliert gegen das Urteil.

Achim Krüger brachte seinen Zorn zum Beispiel in den folgenden Sätzen zum Ausdruck: „Ich will nicht vernichtet werden! Ich hasse den Krebs! Ich lasse es nicht zu, dass der Krebs mich vernichtet! Diese Strafe habe ich nicht verdient! Der Krebs darf mich nicht hindern, meine Aufgaben noch zu erledigen! Ich will diese guten Wünsche nicht mehr hören! Wo bleibt die Gerechtigkeit, die Gott immer zugeschrieben wird?!“

Dazu sagt Elisabeth Kübler-Ross: „Gott kann den Zorn aushalten.“ Deshalb ist es auch nicht nötig, den Patienten zum Beispiel mit Schuldgefühlen davon abzuhalten, mit seinem Herrgott zu rechten. Denn Gott hat den Menschen so geschaffen, wie er lebt, und ER liebt ihn auch so. ER kann ihn so annehmen, wie er ist. Nur uns fällt es oft so schwer, uns selbst anzunehmen.

Dabei erscheint es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass Krankheit keine Strafe ist, sondern die Konsequenz aus Ursache und Wirkung und nichts mit irgendwelchen moralischen oder religiösen Wertvorstellungen zu tun hat. Krankheiten sind keine Zufälle, sondern folgen den Naturgesetzen auch dann, wenn wir diese noch nicht genau genug kennen, um sie detailliert zu beschreiben.

Abgesehen davon bin ich der festen Überzeugung, dass es keine Zufälle gibt. Zufälle fallen uns zu, wenn sie fällig sind. Vielleicht ist der Zufall ein Trick Gottes, um unerkannt zu bleiben. Jede Ursache hat eine Wirkung, und jede Wirkung hat eine Ursache. Das ist auch dann richtig, wenn wir die Ursache nicht kennen oder nicht wahr-haben wollen.

Dr. Edward Bach hat das zusammengefasst:

„Krankheit ist weder Grausamkeit noch Strafe, sondern einzig und allein ein Korrektiv, ein Werkzeug, dessen sich unsere Seele bedient, um uns auf unsere Fehler hinzuweisen, um uns vor größeren Irrtümern zurückzuhalten, um uns daran zu hindern, mehr Schaden anzurichten, und uns auf den Weg der Wahrheit und des Lichtes zurückzubringen, von dem wir nie hätten abkommen sollen.“

Die Krankheit wird nur von denen als Strafe dargestellt und mit Schuldgefühlen verbunden, die daraus Macht gewinnen wollen, um eigene Machtinteressen durchzusetzen. Oder sie leben unbefreit selbst unter dem Diktat der Schuldzuweisung.

Die Patienten können dazu hingeführt werden, hinter der Erkrankung einen Sinn zu erkennen. Wenn sie der Meinung sind, einem Zufall ausgeliefert zu sein, fühlen sie sich viel mehr als Opfer, als wenn sie erkennen, dass sie selbst dafür verantwortlich sind. Wenn ein Mensch seine Verursacherrolle erkennt, lernt er auch, dass er allein etwas zu seiner Heilung tun kann und niemand anders. In der Bibel steht: „Ich will keine Opfer, ich will Barmherzigkeit.“ Wir alle sollten aus unserer Opferrolle heraustreten und gütiger und selbstverantwortlicher mit uns selbst umgehen.

Die psychosomatischen Zusammenhänge können erarbeitet werden, wenn der Patient dazu bereit ist. Dazu gibt es eine Fülle von guter Literatur. Diese Verknüpfungen können taktvoll erfragt und erspürt werden. Es darf dem Patienten nichts aufgedrängt werden. Das würde zu viel Aggression und mangelnde Mitarbeit bewirken. Wir können mit dem Patienten nur so weit gehen, wie er bereit ist. Und um ihn überhaupt ein Stück seines Weges zu begleiten, müssen wir ihn treffen, wo er sich geistig-seelisch befindet. Von dort beginnt der gemeinsame Weg, oder er ist nicht gemeinsam.

Wenn der Patient durch genügend Leidensdruck und reifere Erkenntnis sich intensiver mit den inneren Zusammenhängen seiner Erkrankung beschäftigen will, können Sie ihm helfen, einen kompetenten Gesprächspartner zu finden. Wichtig ist, dass die Initiative vom Patienten ausgeht. Nur so kann die Motivation ausreichen, die nötig ist für eine erfolgreiche Therapie und Reifung.

29.4 Das 3. Stadium: Verhandeln: „Ja, ich, aber …!“ 

Gott kommt nicht, wenn wir es wollen. Aber er kommt rechtzeitig.

Tennessee Williams (1914-1983), amerikanischer Dramatiker

Der Patient versucht, mit Gott oder einer anderen höheren Macht, an die er glaubt, oder mit Menschen darüber zu verhandeln, was er tut, wenn er gesund wird. Er bietet bestimmte Handlungen, Gebete, Veränderungen der Lebensweise und gute Taten als Gegenleistung für seine Gesundheit an. Elisabeth Kübler-Ross sagt dazu: „Diese Versprechen werden nie gehalten.“

Achim Krüger zeigte diese Einstellung so: „Ich will lernen, ohne diese Krankheit zu leben! Ich will mich in Zukunft mehr für meine Familie einsetzen!“ Andere Patienten versprechen, ihr Vermögen einer kirchlichen oder einer sozialen Gemeinschaft zu vermachen.

29.5 Das 4. Stadium: Depression und Isolation: „Ja, ich!“

Wer nicht sterben will, hat auch das Leben nicht gewollt.

Lucius Annaeus Seneca (4 v.Chr.-65 n.Chr.), römischer Philosoph und Dichter

Der Patient erkennt zunehmend, dass sein Kampf um das Leben verloren ist. Er vermeidet neue und anstrengende Aktivitäten. Er wird deprimiert, trauert um Verlorenes und Unerledigtes und zieht sich von der Umwelt zurück. Er bricht nach und nach seine Beziehungen und Kontakte nach außen ab und geht in die innere Isolation. Diese Trennung ist nötig, damit die weitere Entwicklung möglich wird. Dort bereitet er seinen geistigen und körperlichen Übergang vor.

Achim Krüger sagte: „Wenn es mir besser geht, rufe ich dich an.“ Damit hatte er die Entscheidung, wann ein neuer Kontakt zwischen uns entstehen würde. Der Satz bedeutet auch: „Wenn es mir schlechter geht, rufe ich dich nicht an.“ Er wollte keine Besuche mehr und konzentrierte sich zuletzt nur noch auf seine Frau und die Kinder.

Von einem sterbenden Kollegen hörte ich den Satz: „Ich kann nichts mehr tun, als mich auf den Tod vorzubereiten.“ Der Satz „Ich will nur noch meine Ruhe haben!“ ist eine andere typische Aussage, die zu diesem Stadium passt.

Obwohl der Patient die Chancenlosigkeit erkannt hat, kann immer noch die Hoffnung auf eine Heilung für die Familie bestehen. Das ist kein Widerspruch. Achim Krüger wollte für seine Familie gesund werden, für sich selbst hatte er beschlossen zu gehen.

29.6 Das 5. Stadium: „Meine Zeit wird sehr kurz, und das ist in Ordnung!“ 

Wir sollten das Leben verlassen wie ein Bankett: weder durstig noch betrunken.

Aristoteles (384-322 v. Chr.), griechischer Philosoph

Der Patient hat sein Schicksal angenommen und bereitet sich in innerem Einverständnis auf seinen Übergang vor. Dazu gehören zum Beispiel Aussagen wie: „Ich bete für einen friedlichen Tod. Ich bin dankbar für mein Leben und meinen Weg. Ich möchte in deinen Armen sterben. Ich bin ganz ruhig und freue mich, dass ich bald am Ziel bin. Ich bin bereit. Herr, dein Wille geschehe!“

Denken Sie noch einmal an die Geschichte von Frau Münchinger, die bei der Freundin im Pflegeheim ihre letzten Tage erleben durfte und dort ihr Sterben so freudig annahm, oder an meine ehemalige Lehrerin mit ihren fünf großen inneren Stützen, die es ihr leicht gemacht haben zu sterben.

Wer es einmal erlebt hat, welche Ruhe und innere Geborgenheit Menschen in diesem Stadium ausstrahlen können, wird es vielleicht verstehen, wenn ich sage, dass die Momente, Menschen in dieser Phase zu erleben, zu den erhebendsten und intensivsten meines Lebens gehören. Ich bin sehr dankbar, dass ich in der Nähe sein durfte, wenn solche gnadenvollen Augenblicke stattfanden. Hier ist es zum Greifen nahe, welchen Segen ein tiefer Glaube schenkt und welche große Hilfe das Vertrauen in eine höhere Kraft darstellt.

Deshalb ist in dieser Phase auch ein Dankgebet richtig. Ich kenne eine Krankenschwester, die in solchen Momenten mit Patienten den 23. Psalm betet:

„Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte in finsterem Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immer-dar.“

Diesen Moment der Einwilligung und Erfüllung unseres Lebensgesetzes hat Friedhelm Niesporek in seinem Gedicht erfasst:

Am Anfang aller Kreise
Ist immer nur ein Punkt.
Erst durch die scheinbar ungewisse Reise,
Die ihn mit jeweils and´rem Schwung
Und doch auf einzigart´ge Weise
Schließlich zu seinem Ur-Grund führt,
Wird alles rund.

Die letzten Phasen der Sterbeentwicklung können Sie in sprachlich wundervoller und psychologisch äußerst geschickter Form nachlesen in Hermann Hesses kleiner und unterhaltsamer Erzählung „Knulp“. Dort ergibt sich am Ende des Lebens des liebenswert egoistischen Landstreichers Knulp ein Zwiegespräch zwischen Knulp und Gott, in dem Knulp mit Gott über sein Leben und den Sinn darin rechtet und schließlich mit Einsicht und innerem Frieden in sein ganzes Leben einwilligt.

Copyright Dr. Dietrich Weller

De Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

Dieser Beitrag wurde unter Prosa abgelegt und mit , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.