Der Mensch, der zu jeder Zeit, an jedem Ort,
unter allen Bedingungen freien Zugang zu seinen Gefühlen hat,
ist als psychisch gesund zu bezeichnen.
Alice Miller (*1923), Philosophin und Psychotherapeutin
Alle mystischen Erfahrungen stehen im Gegensatz zur realen Welt.
Dr. Melvin Morse, amerikanischer Kinderarzt
4.1. Das Ziel
Je besser die gefühlsmäßige Verständigung und das wechselseitige Einfühlungsvermögen in einer Familie sind, um so konstruktiver kann die Familie mit einer schwerwiegenden Diagnose umgehen. Die Diagnose offen anzunehmen und bewusst zu leben ermöglicht auch, die damit verbundenen Gefühle zu spüren und zu zeigen.
Gefühle der Enttäuschung, Traurigkeit und Wut im Patienten sind wesentlich besser zu bearbeiten, wenn sie noch nicht voll entwickelt sind. Deshalb ist es gut, solche Regungen im Keime zu erkennen und anzusprechen. Das können wir machen, indem wir zum Beispiel dem Patienten sagen:
„Ich kann mir gut vorstellen, dass ich an deiner Stelle jetzt sehr wütend (ängstlich, enttäuscht, deprimiert traurig …) wäre. Wie geht es denn dir dabei?“
Wenn der Patient erkennt, dass Sie als Angehöriger auch solche Gefühle haben wie er, kann er seine eigenen besser zugeben und besprechen, weil er sie eher als normal und einfühlbar erlebt. Es ist auch leichter, diese Gefühle zu bearbeiten und günstig zu beein-flussen, wenn der Patient noch stark ist. Er fühlt sich dann nicht vollständig im Griff seiner überwältigenden Emotionen, sondern eher fähig, etwas dagegen zu unternehmen beziehungsweise sie aktiv zu gestalten.
4.2 Die Mittel, um das Ziel zu erreichen
Eine gute Kommunikation zeichnet sich dadurch aus, dass jeder seine Gefühle zeigen und äußern darf und nur für sich selbst spricht. Damit ist eine authentische Informationsvermittlung möglich. Dann kann sich der Gesprächspartner darauf einstellen.
In der Kommunikationstheorie nennt man diese Mitteilungen Ich-Botschaften. Das heißt, ich spreche da-rüber, wie ich etwas empfinde und erlebe, was ich denke, was ich mir wünsche, oder was mir nicht ge-fällt. Das setzt ein ausgeprägtes Maß an Selbst-beobachtung und -wahrnehmung voraus und die Erkenntnis, dass ich mich für meine Gefühle und Gedanken verantwortlich fühle. Verantwortung übernehmen heißt, sich als Verursacher seines Erlebens zu erkennen. Das bedeutet: Ich bin verantwortlich, wie ich mein Leben erlebe. Dadurch erhält der Gesprächspartner ein echtes Bild von meinen Gedanken und Gefühlen und kann sich dann entscheiden, wie er reagieren will. Das schließt also aus, dem anderen meine Gefühle und meine Situation zur Last zu legen. Ich-Botschaften führen zu einem authentischen Empfinden und Verhalten. Dadurch werden die Verständigung und das wechselseitige Verstehen gefördert und die Situation entspannt.
Im Gegensatz richtet die Du-Botschaft ihre Wahrnehmung darauf, was der andere denkt, fühlt, macht oder unterlässt. Sie schiebt also die Verantwortung für die Situation ab, verwehrt damit Einblicke in eigene Vorgänge und eskaliert somit die Kommunikation. Denn der Angesprochene hat keine Chance, verstanden zu werden oder sich authentisch zu äußern, bevor er be- und verurteilt wird. Die Du-Botschaften sind im all-gemeinen deutliche Signale der Projektion, mit denen der Sprecher seine eigenen Gefühle und Gedanken auf den Angesprochenen überträgt. Er behauptet, der andere denke und fühle so und so. Diese Du-Botschaften haben oft einen verallgemeinernden Charakter: „Du machst das …. schon wieder!“ oder „…noch nie …!“ oder „… immer schon …!“ Das ist ein sicheres Mittel, um eine Unterhaltung in kürzester Zeit auf den Siedepunkt zu bringen oder eiskalt abzukühlen, je nachdem wie die Gesprächspartner zu reagieren gewohnt sind.
Beachten Sie bitte Ihre Reaktion, wenn Ihr Partner sagt: „Ich habe den Eindruck, du verstehst mich nicht!“ Oder wenn er sagt: „Du verstehst mich nicht!“ Erkennen Sie den Unterschied zwischen einer authentischen Gefühlsäußerung, die in der Ich-Botschaft steckt, und der anschuldigenden und verurteilenden Du-Botschaft?
„Du lügst!“ bedeutet etwas völlig anderes als „Ich habe den Eindruck, du lügst!“ oder „Es fällt mir schwer, dir zu glauben!“ „Du lügst!“ ist eine Behauptung, die möglicherweise falsch ist und Ihnen eine Beleidigungsklage einbringen kann, wenn es sich her-ausstellt, das es eben keine Lüge war sondern die Wahrheit. „Ich habe den Eindruck, dass …!“ bedeutet immer meine persönliche Meinung, und das darf ich sagen, auch wenn es sich später herausstellt, dass mein Eindruck falsch war. „Es fällt mir schwer, dir zu glauben!“ schildert mein Gefühl in Form einer Ich-Botschaft, und das sagt nichts darüber aus, ob der andere gelogen hat oder nicht.
4.3 Die Verdrängung von Gefühlsäußerungen und ihre Folgen
Gefühle und Gedanken zu verdrängen, mag zwar nach außen hin ratsam erscheinen, weil Sie vordergründig Auseinandersetzungen damit vermeiden, aber Sie bewirken eine irreführende Verschleierung tatsächlicher Empfindungen und Überlegungen. Die Gefühlsenergie bleibt blockiert stecken, sammelt sich an und explodiert irgendwann in einem Moment, wo nur noch ein kleiner Tropfen genügt, um den Damm bersten zu lassen. Sie verschlechtern mit der Verdrängung von Gefühlen Ihre Immunsituation und dadurch den Heilungsprozeß. Die Beziehung zu den Angehörigen leidet ebenfalls, weil die fehlende Offenheit und Echtheit ständig das Gefühl der Unehrlichkeit hinterlassen. Verdrängte oder nicht bewältigte Probleme kommen immer wieder und zwar in zunehmend verschärfter Form, bis wir uns damit endgültig auseinandersetzen und sie bewältigen. Das ist eine sehr unangenehme und wahre Tatsache.
Es ist in Ordnung, Ängste und Phasen der Niedergeschlagenheit zu haben und zu zeigen. Darüber zu sprechen erleichtert! Gefühle authentisch zeigen zu dürfen, verbessert das Selbstwertgefühl und den Respekt, den Menschen voreinander haben. Damit werden die Beziehungen und die Heilungschancen besser.
Außerdem kann es sehr tröstlich für die Beteiligten sein, auch in den traurigen Stunden Gemeinsamkeit zu spüren und zu leben. Wenn ein Kranker seine Wohnung verlassen muss, um in die Klinik zu gehen oder in ein Pflegeheim zu ziehen, sollte er einen Menschen haben, mit dem er seine Trauer und Verzweiflung teilen kann. Miteinander zu weinen ist sicherlich in diesem Moment mehr Trost als jedes gesprochene Wort. Es befreit, erleichtert und verbindet.
Beim Umgang mit einem weinenden Menschen sollten Sie sich überlegen, wie Sie mit Ihren eigenen Tränen umgehen. Lassen Sie Ihre Tränen zu, und können Sie deshalb auch besser die Tränen anderer Menschen ertragen? Oder vermeiden Sie Ihre eigenen Tränen und versuchen Sie deshalb auch um so stärker, Weinende zu stoppen?
Wenn Sie einem weinenden Menschen ein Taschentuch reichen, kann es sein, dass er diese gut gemeinte Geste als Aufforderung sieht, mit dem Weinen aufzuhören. Besser wäre es, Ihre Einfühlung und Geduld zu zeigen, indem Sie ruhig abwarten, wenig oder nichts sagen. Geben Sie ein Taschentuch erst, wenn der oder die Weinende es verlangt.
Wenn Sie spüren, dass ein trauriger Mensch die Tränen zurückhält, können Sie helfen, seine Schleusen zu öffnen, indem Sie sagen: „Lassen Sie Ihre Tränen doch zu!“ Aber auch hier macht der Ton die Musik: Es sollte keine Anordnung, sondern eine freundliche Ermutigung sein, die diesem Menschen signalisiert, dass Sie mit seinen Tränen umgehen können und es richtig finden, wenn er sich weinend erleichtert.
Wenn der gesunde Ehepartner eines Krebskranken so tut, als hätte er keine Angst vor dem weiteren Verlauf der Krankheit, glaubt der Kranke das nicht und hält seine eigene Angst zurück, weil er Angst hat, nicht ernst genommen zu werden. Und damit ist das Vertrauensverhältnis gestört. Wenn Angehörige ihre Angst zugeben, kann der Patient sie auch zeigen. Das verbindet! Dann erst kann eine gemeinsame Strategie entwickelt werden.
Es gibt eine typische Reaktionskette: Fehlende Information verursacht das Gefühl der Hilflosigkeit und Unsicherheit. Wer damit nicht richtig umgehen kann, bekommt Angst. Wenn diese nicht angemessen gelebt und geäußert werden kann, wird sie im allgemeinen in eine Form der Aggression umgewandelt. Entweder entstehen offen Aggression, Hass, Hohn, Nörgeln, Zynismus, Ironie, Psychoterror, schlechte Laune oder eine Regression, d. h. ein Rückzug in unreifes Flucht-verhalten wie viel Schlaf, dauernde Müdigkeit, Her-aushalten aus Gesprächen und gesellschaftlichen Kon-takten. Beide Mechanismen zeigen, dass der Betroffene keine reife, keine erwachsene Möglichkeit hat, seinen Konflikt auszutragen und konstruktiv zu lösen.9
Wenn Sie am Patienten ein solches Verhaltensmuster erkennen, brauchen Sie diese negativen Äußerungen nicht auf sich persönlich zu beziehen und entsprechend aggressiv oder mit Rückzug zu reagieren, sondern Sie können dem Kranken signalisieren, dass Sie seine Notlage erkannt haben. Sie können ihn auf seine Angst an-sprechen und sich und ihn damit entlasten. Die Situation wird dadurch entspannter. Dann können Sie gemeinsam überlegen, welche Information dem Patienten fehlt, die ihn unsicher und hilflos macht.
Es ist naheliegend, dass die fehlende Information sich auf den unklaren weiteren Verlauf der Erkrankung bezieht. Selbst wenn eindeutig ist, dass der Patient sterben wird, ist immer noch unklar, wie dieser Vor-gang ablaufen wird. Deshalb ist es unerlässlich wichtig, dass wir dem Sterbenden ein Höchstmaß an Geborgenheit im vertrauten Familienrahmen und damit Sicherheit vermitteln, so weit wir es eben können, um seinen inneren Prozess möglichst positiv zu beeinflussen.
Auch Wut, Zorn und Verzweiflung sind typisch und normal. Machen Sie sich bewusst, dass der Patient seine eigenen Gefühle ausdrückt und Sie mit großer Wahrscheinlichkeit gar nichts damit zu tun haben. Identifizieren Sie sich nicht damit!
Unterscheiden Sie seine Verzweiflung und Ihre eigene als zwei unterschiedliche Gefühle, die auch verschieden gelöst werden müssen.
Lassen Sie sich keine Schuldgefühle aufdrücken! Sprechen Sie mit dem Patienten darüber, welche Gefühle Sie dabei haben, und zeigen Sie klar auch hier den Unterschied zwischen seinen und Ihren Gefühlen! Es ist ebenso üblich wie falsch, seine eigenen Gefühle zu verdrängen, denn im Unterbewusstsein wirken sie um so stärker und beeinflussen das Immunsystem negativ.
Aus einem Kind, dem man das Weinen verboten hat, wird oft ein Erwachsener, der niemandem zur Last fallen will. Der Heranwachsende lernt deshalb, es den anderen immer recht zu machen. Er spürt selbst gar nicht mehr seine eigenen Gefühle, lässt diese auch nicht zu. Dieser Mensch erkennt nicht mehr, wie sehr er sich selbst schadet. Abgesehen davon kann niemand das Ziel erreichen, es allen recht zu machen. Wem also ist mit diesem Verhalten gedient?
Wut und Trauer verschwinden, wenn wir sie zulassen. Lassen Sie deshalb den Patienten ausweinen und schimpfen. Nehmen Sie ihn in den Arm, wenn das für Sie und den Patienten in Ordnung ist, oder legen Sie Ihre Hand auf seine Hand. Fragen Sie: „Wollen Sie darüber sprechen?“ Respektieren Sie, wenn er es nicht will. Bieten Sie Ihre Gesprächsbereitschaft an, und drängen Sie sich nicht auf, schon gar nicht aus Neugier!
Die geschilderte Reaktionskette mangelnde Information –> Hilflosigkeit –> Angst –> Ablehnung bildet auch die Erklärung, warum wir am einfachsten das ablehnen können, wovon wir am wenigsten verstehen. Je mehr wir über Zusammenhänge lernen, umso mehr müssen wir darüber nachdenken, welche der möglichen Meinungen wir am besten begründen können. Das kompliziert die Situation. Viele Menschen sind sich über die Stadien zwischen dem Anfang und dem Ende der Kette nicht bewusst. Wenn wir viel Information über bestimmte Dinge, Zusammenhänge, sachliche und emotionale Ebenen sammeln und verstehen, können wir möglicherweise in Konflikte bei der Ent-scheidungsfindung und deren Umsetzung kommen. Bitte bedenken Sie die Reaktionskette, wenn andere oder gar Sie selbst irgend etwas ablehnen. Besteht der Grund der Ablehnung in mangelnder Information oder kam sie durch wohl informierte und gut nachvollziehbare Meinungsbildung zustande?
Krebspatienten glauben, sie müßten sich anpassen, um angenommen zu werden. Sie sind daher im allge-meinen aggressionsgehemmt oder zeigen ihre Aggres-sion versteckt, heimlich und manchmal hinterhältig. Diese verdrängte Aggressionsenergie kann sich auch im Sinne einer Aggressionsumkehr gegen den Patien-ten richten und in einer massiven Autoaggression12 äußern.
Die eigenen Körperzellen vermehren sich bösartig und nehmen nicht einmal Rücksicht darauf, daß sie sich, beziehungsweise den Körper, der sie ernährt, letztlich zerstören. Dahlke hat diese psychosomatischen Zu-sammenhäönge und Vorgänge sehr eindrucksvoll be-schrieben.13 Diese Sicht der Psychologie der Krebs-patienten ist natürlich umstritten wie nahezu alles im Bereich der Psychologie, aber ich habe häufig Men-schen kennengelernt, auf die dieses Bild genau zutrifft.
Letztlich ist der Patient mit sich und seinen Empfin-dungen allein und muß seinen Konflikt und seine Ge-fühle allein bewältigen. Aber wir können versuchen, ihm soweit es eben geht, ein Gefühl der Nähe und Liebe zu schenken. Gläubigen Menschen hilft in dieser Lage das Bewußtsein, in Gottes Hand zu sein.
Rainer Maria Rilke hat das am Ende seines Gedichtes „Herbst“ wunderbar formuliert:
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an. Es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
FN authentisch = echt
9 Bitte lesen Sie hierzu auch im Anhang den Text „Die Kenn-
zeichen einer psychisch gesunden Persönlichkeit“.
10 nach LeShan: Psychotherapie gegen den Krebs. Klett-Cotta-
Verlag, S. 71
11 LeShan: Psychotherapie gegen den Krebs. Klett-Cotta-Verlag
12 Aggression gegen sich selbst
13 Dahlke: Krankheit als Sprache der Seele. Bertelsmann-
Verlag