Das Helfer-Syndrom

 

Wer sich nicht selbst helfen will, dem kann niemand helfen.

Hans A. Pestalozzi (*1929), schweizerischer Soziologe, ehemaliger Migros-Topmanager

Es gibt für unzählige nur ein Heilmittel: die Katastrophe.

Martin Held (*1908), Schauspieler

Jeder muss dem anderen helfen. Das ist die einzige Freiheit, die wir haben.

Yehudi Menuhin (* 1916), amerikanischer Geiger, 1979 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

 

Wer sich mit Hilfsbedürftigen und besonders mit Schwerkranken beschäftigt, muss sich selbst gut kennen und besonders seine Motivation und Grenzen scharf und selbstkritisch beobachten. Deshalb will ich gleich an den Anfang des Buches ein nachdenkenswertes und für viele Leser besonders wichtiges Kapitel setzen.

 3.1       Die Entstehung

Das Helfer-Syndrom entsteht beim Kind aus der Erfahrung, durch Leistung Zuwendung und Anerkennung zu bekommen. Dies führt zu einer Idealisierung der Höchstleistungen weit über die gesunde Leistungsgrenze hinaus und stellt eine große Gefahr der Über-forderung dar, weil durch die Zurückstellung persönlicher Interessen und Maskierung eigener Gefühle eine authentische Reaktion nicht mehr möglich wird. Das Helfer-Syndrom verursacht in den Betroffenen Ersatzgefühle wie den Drang zu helfen und Schuldgefühle, wenn sie glauben, nicht genügend geholfen zu haben und neue Hilfe angefordert wird. Oder der Helfer glaubt, helfen zu müssen, auch wenn die Hilfe gar nicht erbeten wird.

3.2  Die Kennzeichen

Mensch mit einem Helfer-Syndrom erhält seine Befriedigung aus der Leistung, die wiederum nie erfüllend ausgeübt wird, sondern immer nach neuer Leistung strebt. Hier wird aus der Not des Anerkennungsdefizits die Tugend des Helfers gemacht. Der Helfer bleibt erpressbar mit Schuldgefühlen und noch größerer Anerkennung. Er kann den Ärger über die Überforderung und den Wunsch nach Lob meist nicht mehr als seine originalen Gefühle erkennen. Er lächelt noch bei massiver Überforderung und kann seiner Aggression keinen Ausdruck verleihen und deshalb keine Grenzen zum eigenen Schutz setzen.

Der Mensch mit dem Helfer-Syndrom gibt unaufgefordert und gegen den Willen der anderen Rat-Schläge aus dem Bewusstsein heraus zu wissen, was der Part-ner richtigerweise tun muss. Diese Ratschläge werden meist mehr als Schlag denn als Rat aufgefasst, besonders weil sie häufig auf dieselbe wunde Stelle treffen. Entsprechend fällt die Reaktion des Beratenen, des Geschlagenen, aus: Er schlägt zurück. Noch einmal: Auch ein Rückzug, eine Regression, ist eine Form von Aggression.

Der Helfer übernimmt bereitwillig die Verantwortung für das Schicksal der anderen Menschen, für die er sich engagiert. Viele Menschen mit Helfer-Syndrom versuchen immer wieder, es allen Leuten recht zu machen. Wenn sie es nicht schaffen, verdoppeln sie ihre Anstrengungen. Sie kommen erst nach langer Leidens-zeit in der therapeutischen Phase auf die Idee, dass das Motto „Mehr vom selben!“ alles nur schlimmer macht. So werden sie als die berufenen Helfer immer hilfloser und von den Hilfesuchenden ausgesaugt. Der Mensch mit einem Helfer-Syndrom ist hervorragend mit Schuldgefühlen „motivierbar“ und wird gnadenlos ausgenutzt, wenn er nicht lernt, im richtigen Moment das Wort NEIN auszusprechen und dazu zu stehen.

Es gibt eine paradoxe Verhaltensweise bei sehr vielen Menschen: Was sie tun, um ein Problem zu mindern oder scheinbar (!) auszuschalten, verstärkt genau diesen Konflikt.

Das lässt sich an einigen Beispielen anschaulich zeigen. Ein gestresster Mensch merkt, dass er mit einem Gläschen Alkohol nicht so angespannt ist und trinkt deshalb regelmäßig. Damit schafft er sich und seiner Umgebung erhebliche neue Probleme am Arbeitsplatz und im Privatleben, nämlich seine daraus entstehende Alkoholkrankheit.

Der Helfer, der eine für ihn problematische Situation beseitigen will, beschäftigt sich intensiv mit der Hilfe und erkennt nicht, dass er selbst immer hilfsbedürftiger und damit zum Problem wird.

Wenn ein Mensch sich immer den offensichtlichen oder vermuteten Wünschen seiner Mitmenschen anpasst und seine eigenen Wünsche und Aggressionen unterdrückt, sammeln sich in ihm sehr viel Frustration und Aggression an, die irgendwann durch Zorn und Wut nach außen oder Krankheiten nach innen ihren Ausdruck finden.

3.3 Die Folgen für die Partnerschaft

So entsteht eine Symbiose zwischen Helfer und Hilfe-suchendem: Jeder erlebt in dem Partner seine Erleichterung beziehungsweise seine Aufgabe und Anerkennung. Wenn der Hilflose das Wechselspiel bewusst durchschaut und eine Nachreifung durchmacht, also selbständiger wird und auf die Aktionen gegenüber dem Helfer verzichtet, gerät die Partnerschaft aus dem Gleichgewicht, weil der Helfer sich zurückgewiesen und damit seines bisherigen Lebensinhaltes beraubt fühlt.

Deshalb gehen Partnerschaften, die auf einer solchen Helfer-Syndrom-Symbiose beruhen, häufig in die Brüche, wenn der anfänglich Hilflose eine Therapie erfolg-reich durchlebt und auf seine Hilflosigkeit zu verzichten lernt.

Dabei ist zu bedenken, dass der Hilflose vor der Therapie seine Hilflosigkeit meist unbewusst oder absichtlich als Machtmittel gegenüber dem Helfer einzusetzen ge-lernt hat. Außerdem weiß der Hilflose, dass er den Helfer mit seiner Hilflosigkeit an sich ketten kann. Das ist der spezifische Reiz, um das Helfer-Syndrom auszulösen.

Andererseits gelten die beiden bedenkenswerten Sätze: Wer nichts zur Lösung eines Problems beiträgt, ist wahrscheinlich ein Teil des Problems. Suche nicht den Schuldigen; löse das Problem!

Wir haben das Recht, selbst zu entscheiden, ob wir für die Lösung der Probleme anderer Menschen mitverantwortlich sein wollen oder nicht. Wenn wir immer glauben, ein Problem gleich lösen zu müssen, das vor uns ausgebreitet wird oder das wir vermuten, laden wir uns nicht nur unbewältigbare Lasten auf, sondern wir dringen als ungebetene Helfer auch in private Angelegenheiten ein, die nur der Betroffene lösen kann.

Wir müssen also mit reifer Selbstkritik über unsere Verantwortung und unsere Pflichten nachdenken und dann konsequent entscheiden, was wir tun und was wir lassen. Das ist eine grundsätzlich andere Haltung als die Einstellung, das zu tun, was andere von uns erwarten, oder was wir vermuten, was sie von uns wollen.

3.4 Der Wert der Empathie

Hier zeigt sich der Wert einer empathischen Haltung. Empathie bedeutet, dass wir uns vollständig in den Bezugsrahmen einer anderen Person einfühlen, als ob wir in ihrer Situation wären. Dabei müssen wir uns aber gleichzeitig klar sein, dass wir eben nicht in dieser Lage sind, also auch nicht so handeln und fühlen müssen. Wir schaffen eine gleiche Wahrnehmungs- und Wirklichkeitsebene, und dennoch haben wir genügend innere Distanz, als unabhängige Person zu reagieren.

Der Gegensatz zur empathischen Reaktion ist eine sympathische Reaktion, bei der wir die Werte, Ge-danken und Gefühle des anderen übernehmen und so reagieren, als ob wir in seiner Situation wären.

Wenn zum Beispiel der Vater wütend auf die Tochter ist und Ihnen das erzählt, können Sie sich vorstellen, wie Sie sich selbst in seiner oder ihrer Situation fühlen würden. Wenn Sie empathisch reagieren, haben sie Verständnis für beide, reagieren aber nicht wie einer von beiden, weil Sie selbst ja gar nicht in der Situation sind. Wenn Sie sympathisch reagieren, entwickeln Sie für einen der beiden Sympathie und nehmen seine oder ihre Position ein, reagieren also wie der Vater oder die Tochter, je nachdem, mit wem Sie sich identifiziert haben. Deshalb ist es unbedingt notwendig -die Not wendend-, dass wir uns über diese Zusammenhänge bewusst sind, wenn wir uns mit unserem Helfer-Syndrom engagieren und „motivieren“ lassen, aktiv einzugreifen, wo eine distanziert beratende Haltung besser wäre.

In der Medizin könnte das Motto lauten:

Helfende Nähe – heilende Distanz.

(Titel des Vortrages von Schwester Barbara Kärcher am  22.11.1996 in Renningen).

Das gilt besonders beim Umgang mit Gefühlen wie Ärger, Wut und Verzweiflung, wenn sie sehr heftig sind. Es ist ohnehin eine äußerste Herausforderung für einen Therapeuten oder Angehörigen, den Zorn eines Patienten über seine Krankheit zu ertragen, ohne sich selbst aus der Fassung bringen zu lassen. Solche durchaus verstehbaren Reaktionen können nur erfolgreich bearbeitet werden mit Hilfe eines Außenstehenden, der Erfahrung hat im Umgang mit der Bewältigung von Lebenskrisen.

Der Rundfunkpfarrer Dr. Steinhilper hat das in einem Vortrag sehr bildreich und verständlich sinngemäß erklärt: „Angst, die ein Mitglied der Familie, meist den Kranken selbst, beherrscht, wirkt oft wie eine Infektionskrankheit, an der sich alle anstecken. Dann bricht die Panik aus. Wenn der Patient in seinem kleinen Boot allein auf dem reißenden Gewässer seiner Gefühle hin- und hergeschüttelt wird und Angst um sein Leben hat, kann ich zu ihm ins Boot steigen und versuchen zu helfen. Dann werden wir mit Sicherheit beide untergehen. Wenn ich aber am Ufer in Sicherheit auf meinen beiden Füßen fest stehe und mich festhalte, kann der Patient mir ein Seil zu-werfen, das ich bei mir und meinem Halt befestige. Dann hat der Patient eine echte Chance, mit meiner Hilfe und seiner Aktivität in ruhigere Gewässer zu gelangen und in Sicherheit zu kommen.“

3.5 Voraussetzungen für erfolgreiche Hilfe 

Wir müssen vor einer solchen Hilfsaktion zuerst klären, ob die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Hilfe gegeben sind: Der Hilfsbedürftige muss erkannt haben, dass er Hilfe braucht. Er muss zu seiner Hilfsbedürftigkeit stehen und bereit sein, Hilfe anzunehmen. Seine Eigeninitiative ist unerlässlich, um sich selbst aus seiner Lage herauszuführen beziehungsweise sie optimal zu gestalten.

Ich bin mir bewusst, dass diese Meinung so formuliert sehr hart klingt im Angesicht eines Schwerkranken oder gar Sterbenden. Es ist natürlich klar, dass die Eigeninitiative nach den Möglichkeiten des Kranken angemessen beurteilt werden muss. Wir werden im weiteren Verlauf des Buches viele Beispiele finden, wie auch schwerkranken und sterbenden Menschen geringe Eigenaktivitäten erhebliche Hilfe und wach-sendes Selbstwertgefühl vermitteln.

Der Hilfsbedürftige wird erst dann etwas an seiner Situation ändern, wenn sein Leidensdruck größer ist als seine Angst vor der Veränderung der Lage. Die Richtigkeit dieses Satzes können Sie leicht überprüfen, indem Sie beobachten, wie Sie selbst handeln oder nicht handeln in Situationen, unter denen Sie leiden.

Wenn diese Bedingungen für die Hilfe nicht erfüllt sind, können Sie nur vorsichtig (!) versuchen, dem Kranken seine Hilfsbedürftigkeit bewusst zu machen. Dies wird durch eigenes Erleben der Symptome wesentlich nachhaltiger erreicht als durch Ihre gut ge-meinten und ständig wiederholten Rat-Schläge. Deshalb haben Sie zum Beispiel bei einem Nikotinabhängigen oder einem anderen Kranken keine Chance mit Ihrer Hilfe, solange es ihm noch nicht schlecht genug geht und er deshalb noch nicht zur Selbsthilfe greifen will. Ich gehe davon aus, dass Sie dieser harte Satz schockiert. Dieser Schock ist ein klarer Hinweis, dass Sie das Helfer-Syndrom haben.

3.6 Der hilfsbedürftige, abhängige Helfer 

Warten Sie ab, und lassen Sie Ihr Hilfsangebot bestehen für den Zeitpunkt, wo der Kranke etwas ändern will. Solange nur Sie etwas ändern sollen, sind Sie unter der Leitung des Kranken tätig. Das nennt man Co-Abhängigkeit. Sie brauchen den Kranken, um Ihren eigenen Wert durch die Aktivitäten zu definieren, zu denen er Sie veranlasst. Dies ist ein eigenes Krankheitsbild der Abhängigkeit und bedarf genauso einer Therapie wie eine andere Art von Sucht. Das gilt auch und gerade dann, wenn Sie es nur aus guter Absicht machen und nicht lassen können. Genau das nützt der Kranke aus, und Sie beide hängen in einer unglückseligen Symbiose zusammen.

Das bedeutet, dass Sie beide Hilfe brauchen. Denn Sie sind genauso abhängig wie der Kranke. Das merken Sie an Ihren Entzugserscheinungen, wenn Sie aufhören wollen zu helfen. Sie können nicht zuschauen, wie es dem Suchtkranken schlecht geht. Sie können nicht eingestehen, dass nur er selbst sich helfen kann.

Deshalb wird die Ehefrau eines Alkoholkranken so lange das Bier herbeischaffen, sich schlagen und demütigen lassen und versuchen, den Ehemann vor An-griffen von außen zu schützen, bis sie erkannt hat, dass der Kranke nur selbst aufhören kann und sie mit ihrer Hilfe die Situation „am Kochen“ hält. Sie muss schmerzvoll zuschauen, wie er sich und sie und die Kinder zugrunde richtet und dadurch noch mehr Hilfe nötig wird. Ihre Versuche, die Tragödie zu mäßigen, indem sie den Kranken in Schutz nimmt, verschlechtern die allgemeine Lage.

Erst wenn einer der beiden aus diesem Teufelskreis aussteigt und sie zum Beispiel aufhört zu helfen, kann der andere Partner aufhören zu trinken. Meist kann er erst jetzt erkennen, dass er das Problem selbst lösen muss. Dann ist sein Leidensdruck groß genug. Vorher hat echte Hilfe keinen wirklich heilenden Effekt, weil richtige Hilfe immer nur Hilfe zur Selbsthilfe sein kann.

Achten Sie einmal darauf, wie viel Energie viele Patienten haben, um zu klagen, zu jammern, um Hilfe zu rufen, andere zu kritisieren und auf vielfältige Weise zum Aktivismus anzustacheln. Stellen Sie sich vor, was geschehen würde, wenn diese Patienten ihre Energie einsetzen würden, um sich selbst zu helfen.

Vorher ist die Hilfe meist nur ein Versuch, unser eigenes Leiden des Zuschauens zu vermindern. Da ist Mitleid oft nur ein peinliches Betroffensein von einer Situation, mit der wir selbst schlecht umgehen können und sie deshalb rasch beenden wollen. Hier wird aus der Not der Hilflosigkeit die erschöpfende Tugend der fleißigen und unermüdlichen Hilfsaktivität geboren. Dadurch wird eine gute Miene zum selbstzerstörerischen Spiel gemacht, für das man wenigstens Anerkennung erhofft und meist nicht bekommt. Denn Menschen, die alles mit sich machen lassen, werden nicht geschätzt, sondern ausgenützt.

3.7 Die rettende Selbstkritik 

Deshalb ist es auch so wichtig, dass Sie als Helfer sich Ihre eigene Angst, Wut und Ablehnung bewusst machen und daran arbeiten, richtig mit diesen Gefühlen umzugehen. Wenn Sie das nicht tun, kommen Ihnen angesichts der Gefühlsäußerungen des Patienten immer wieder Ihre eigenen Gefühle hoch.

Denn der Patient wirkt für Sie wie ein Spiegel, der Ihnen reflektiert, was Sie ausstrahlen. Verwechseln Sie diese Wahrnehmungen nicht mit Gefühlen des Patienten. Wenn Sie selbst in Ruhe sind, können Sie die Gefühle des Patienten als seine annehmen und brauchen sich nicht damit zu identifizieren.

Helfer müssen stark bleiben, um wirklich helfen zu können. Eine Batterie muss auch regelmäßig aufgeladen werden, bevor sie leer ist. Sonst kann man keinen Motor damit betreiben! Wir müssen also genügend Distanz wahren, um unsere Reserven immer wie-der auffüllen zu können.

Ich halte es für unerlässlich, dass Menschen in sozialen Berufen und Tätigkeiten regelmäßig für ausreichend Entspannung und Ausgleich sorgen. Setzen Sie Ihre Mußestunden durch!

Sie wissen ganz genau, was Ihnen wirklich gut tut. Wenn Sie nicht mehr wissen, was Ihnen Freude und Entspannung schafft, sind Sie in einer akuten Notsituation und brauchen dringend qualifizierte und therapeutische Hilfe!

Heinrich Pera, ein Pastor aus Halle, der sich intensiv mit Schwerkranken beschäftigt, hat dazu gesagt:

„Die Sorge um das eigene Rückgrat ist nicht Recht, sondern Pflicht!“


 

 

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