Verwöhnen bedeutet, jemandem etwas zu geben, was er gar nicht braucht.
Alice Miller (*1923),Philosophin und Psychoanalytikerin
Die Tatsache, dass ein Mensch einen Wunsch äußert, ist noch lange kein Grund,die Erfüllung des Wunsches zu verweigern.
nach Prof. Dr. Reinhardt Lempp, ehemaliger Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Tübingen
6.1 Die persönliche Hygiene
Oft sind es ganz einfache und alltägliche Wünsche, deren Erfüllung aber den Patienten sehr viel bedeutet. Bei einem Hausbesuch bei Herrn Bayer, der zu diesem Zeitpunkt wegen seiner Hirnmetastasen nicht mehr allein sicher gehen konnte, erzählte mir seine Frau, er wolle so gerne baden und sich wieder richtig frisch fühlen. Sie könne ihn aber nicht alleine zur und in die Badewanne bringen und schon gar nicht mehr heraus. Da ich gerade Zeit hatte, bot ich meine Hilfe an. Ich rasierte Herrn Bayer, während seine Frau das Bad richtete. Wir brachten Herrn Bayer gemeinsam in die Wanne, wo Frau Bayer ihrem Mann beim Waschen half. Dann führten wir ihn zurück in das frisch gemachte Bett. Herr Bayer war sehr dankbar, sich wieder ganz wohlfühlen zu können.
Die persönliche Hygiene ist für den Patienten sehr wichtig. Sie sollten in dieser Hinsicht den Patienten so lange wie möglich sich selbst versorgen lassen, besonders im Intimbereich. Für viele Menschen ist es sehr schwierig, dabei Hilfe anzunehmen. Wenn der Patient es schafft, sich selbst zu waschen und zu richten, steigert er damit sein Gefühl der Eigenständigkeit und dadurch sein Selbstwertgefühl. Auch wenn es wesent-lich länger dauert, als wenn Sie ihn rasch waschen würden.
Wenn ein Mensch keinen Wert mehr auf seine persönliche Hygiene legt, hat er entweder aufgegeben zu leben, oder er ist verwahrlost oder schwer depressiv, oder er hat eine Erkrankung, bei der er solche Bedürfnisse nicht mehr empfinden kann.16
Auch im Bett gibt es Lieblingskleider, und wenn sie nicht allzu hinderlich für die Therapie sind, sollten Sie dem Patienten gönnen, dass er anziehen darf, worin er sich wohlfühlt.
6.2 Sexualität
Ein wichtiger, wenn auch oft verschwiegener Punkt ist die Sexualität. Ein schwer krebskranker Patient kann sehr wohl noch sexuelle Bedürfnisse haben und sich zu seiner Partnerin körperlich hingezogen fühlen. Es gibt keinen medizinischen Grund, sich diese Freude und Form der Liebe zu versagen. Natürlich müssen die beiden Partner auf körperliche Einschränkungen und schmerzvolle Bewegungen Rücksicht nehmen. Aber eine liebende Frau wird wissen, wie sie ihren kranken Mann glücklich machen kann und umgekehrt.
Ich denke zum Beispiel an das Ehepaar Bayer, das eine sehr lebendige und intensive Ehe führte, als der Ehemann seine metastasierende Krebserkrankung entwickelte. Herr Bayer hatte unverändert den Wunsch nach körperlicher Vereinigung mit seiner Frau. Nach einem vertraulichen Gespräch mit mir hatten sie die Gewißheit, dass die Erkrankung nicht ansteckend war. So konnten sie ihre gemeinsamen Wünsche und Be-dürfnisse noch bis kurz vor dem Tod des Mannes leben. Frau Bayer hat mir später berichtet, dass diese Intimität eine wesentliche Hilfe für beide Partner war, mit der schweren Erkrankung und der unvermeidlichen Trennung fertig zu werden.
6.3 Die Raumgestaltung und Beschäftigung
Bitte beachten Sie, dass der Patient, den Sie betreuen, eine angenehme Raumtemperatur, frische Luft und nicht zu viel Lärm hat. Die Kranken sollten nicht abgeschlossen von der Welt im Bett liegen, sondern wie ich es schon erwähnt habe, immer auch den Kontakt zum alltäglichen Leben bekommen. Jeder Mensch hat bestimmte Lieblingspflanzen und -farben. Sie schaffen es bestimmt, seine Umgebung mit einfachen Mitteln danach zu gestalten. Überlegen Sie einfach, was der Patient von seinem Bett aus sieht, hört und fühlt. Dann wissen Sie, was Sie eventuell ändern soll-ten.
Andere Wünsche können zum Beispiel einen Ausflug in die nähere Umgebung oder gar eine größere Reise betreffen, die der Patient noch erleben will, solange er dazu in der Lage ist. Lehnen Sie einem Patienten solche Ansinnen nicht unbedacht ab. Viele dieser Wünsche sind mit einigem Nachdenken und Einsatz durchaus zu ermöglichen. Inzwischen gibt es sogar Reiseunternehmen, die sich darauf spezialisiert haben, ältere und / oder kranke Menschen beim Reisen zu begleiten. Es gibt sogar Reisegruppen, die nach bestimmten Diagnosen zusammengestellt sind und einen Arzt für die Betreuung mitbekommen.
Die Erfüllung kleinerer Wünsche wie bestimmte Menschen noch sehen zu können oder einmal ins Kino zu gehen, ist sicherlich leicht zu organisieren. Den Gehbehinderten hilft ein Rollstuhl vom nächsten Sanitätshaus, wieder an die frische Luft fahren und an der Natur teilhaben zu können. Sie sollten daran denken, zum Beispiel in Sanitätshäusern nach Erleichterungen für den Patienten zu suchen. Ein Beratungsgespräch kann dem Patienten helfen, seine Lebensqualität bei täglichen Verrichtungen mit Hilfe von Geräten, Vorrichtungen oder anderen Erleichterungen zu verbessern.
Denken Sie bitte auch an gute Rundfunksendungen, die dem Kranken helfen, seine Zeit sinnerfüllt und an die Welt angeschlossen zu verbringen. Mit ein wenig Ironie sei dazugefügt: Es soll ja auch in unserem hochtechnisierten Zeitalter noch Menschen geben, die glücklich sind mit einem guten Buch! Ein Freund von mir sagt oft: „Der Trend zum Zweitbuch hält an!“ Und wenn Ihr Patient nicht mehr lesen kann, könnten Sie ihm vorlesen oder Hörbücher besorgen, also auf Kassette oder CD gesprochene Bücher.
Ich selbst lag als neunjähriger Schüler für neun Monate zu Hause im Bett wegen einer schweren Knochenvereiterung am Bein. Mein Schulfreund Günther brachte mir über die ganze Zeit treu jeden Tag die Hausaufgaben, die ich bis zum nächsten Tag erledigte. Und meine Mutter ging jeden zweiten Tag in die benachbarte Stadtbibliothek, weil ich einen großen „Bücherhunger“ entwickelte, und versorgte mich mit spannender Literatur. Diese Zeit hat mein Verhältnis zu schriftlichen Texten und Büchern sehr positiv geprägt.
6.4 Die Beweglichkeit
Sehr bedenklich ist es, wenn Kranke im Bett fixiert oder / und mit starken Beruhigungsmitteln stillgelegt werden, nur weil sie unruhig sind und sich gegen die Therapie wehren. Eine Bekannte erzählte mir noch Jahre nach dem Tod ihres Großvaters sehr bewegt, wie sie als Kind sein Sterben erlebt hat: „Opa ist mit angebundenen Händen gestorben. Das war würdelos, und er hatte sein Leben lang Würde. Er hatte sich alle Schläuche gezogen, weil er einfach nicht mehr leben wollte! Und es war niemand bei ihm, der ihn hätte beruhigen können.“
6.5 Der Rückzug
Wir sollten den Kranken auch die Möglichkeit des Rückzugs geben: zum Trauern, Weinen, Nachdenken oder Alleinsein. In der anthroposophischen Klinik in Filderstadt habe ich gesehen, dass auch in den Drei-Bett-Zimmern alle drei Betten an der Wand standen. Der Kollege, der uns die Klinik zeigte, erklärte das so: „Wenn ein Patient weint oder einfach mal für sich sein will, kann er das in einem normalen Klinikzimmer im mittleren von drei Betten nicht tun, weil er immer einem Nachbarn ins Gesicht schauen muss. Bei uns kann er sich wenigstens an die Wand drehen.“
Besonders schwierig ist die Situation im Krankenhaus, wenn die Bettnachbarn viele Besucher bekommen, die zwischen den Betten stehen und meistens aus lauter Neugier den Weinenden oder Verzweifelten beobachten. Dann hat der Kranke im mittleren Bett überhaupt keine Chance mehr auf seine Privatsphäre! In diesem Fall rate ich Ihnen als Patienten und als verantwortungsbewusste Angehörige dringend, mit den benachbarten Patienten und der zuständigen Schwester eine Lösung zu suchen, damit der Besucherstrom strikt begrenzt oder zeitweise ganz gestoppt wird.
16 Dazu gehören zum Beispiel fortgeschrittene Stadien der Alzheimer-Krankheit.