Wie kann sich der Patient gefühlsmäßig an seine Lage anpassen?

 

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Denn du bist bei uns am Abend und am Morgen,
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Dietrich Bonhoeffer (1906-1945), deutscher Theologe, Mitglied des Widerstandes gegen Hitler. Das Gedicht wurde im Konzentrationslager geschrieben.

Dies ist das Ende und gleichzeitig der Anfang.

Letzter Satz von Dietrich Bonhoeffer unmittelbar vor seiner Hinrichtung im KZ Flossenbürg

Im Wesentlichen gibt es vier Quellen, aus denen der schwer kranke und sterbende Patient Kraft bekommt, um seine Einstellung der Situation anpassen zu können.

18.1. Die erste Quelle: Der Glaube 

Für viele ist der religiöse Glaube eine hilfreiche Kraft. Die ganz persönliche Beziehung zu Gott oder / und zur Kirche zeigen Möglichkeiten des Verständnisses und des Trostes auf. Dabei spielt eine gute menschliche Beziehung zu einem Geistlichen eine unterstützende Rolle. Sie ist aber sicherlich nicht unbedingt nötig. Andererseits kann gerade diese menschliche Beziehung Schwierigkeiten des Patienten überbrücken, die er vielleicht mit dem Glauben oder der kirchlichen Organisation hat. Ich denke, es ist hilfreich, davon auszugehen, dass ein rechter Glaube auch ohne die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kirche durchaus möglich ist und für den Menschen besser sein kann als die (v)erzwungene Mitgliedschaft, Maximen und Rituale, die der Patient nicht akzeptieren kann.

Ich kann mich an einige Begegnungen erinnern, in denen es für die Patienten eine segensreiche Hilfe war, dass ein ihnen bekannter Geistlicher zu einem oder mehreren Gesprächen kam und so den Patienten stützte und ihm Mut auf seinem Weg vermitteln konnte. Solche persönlichen Begegnungen hängen meines Erachtens überwiegend mit den zwischenmenschlichen Beziehungen zusammen und weniger mit der Organisation, die dahintersteht. Leider sind die meisten Pfarrer ebenso wie die Ärzte psychologisch für diese letzten Stunden nicht gut genug geschult. Ich denke, es reicht einfach nicht aus, ein Gebet aufzusagen, ein paar mehr oder weniger unverbindliche Floskeln zu sprechen, eine Schmerz- oder Beruhigungsspritze zu geben, sein Bedauern auszudrücken und sich mit einem warmen Händedruck zu verabschieden.

Wichtiger, ja geradezu fundamental entscheidend für alle Beteiligten ist, dabei zu bleiben, sich auf die Situation einzulassen und den Mut zur Nähe zu haben. Und vielen Menschen machen Nähe und Gefühle Angst. Diese gilt es auszuhalten und damit mehr und mehr zu bewältigen.

18.2 Die zweite Quelle: Die Bezugsperson

Großartige Stützen für die emotionale Anpassung in diesem Entwicklungsprozess sind häufig Ehepartner oder andere Familienmitglieder oder gute Freunde. Auch hier bewähren oder entwickeln sich feste Bindungen, um in der letzten großen gemeinsamen Aufgabe auf eine neue Basis hinzuwachsen. Jetzt kann eine Form der Kommunikation gefunden und geübt werden, die weitgehend ohne Worte auskommt und mehr und mehr zu einem Verständnis der Herzen reift. Herr Gruber sagte zu mir kurz vor seinem Tod: „Jetzt geht es nur noch um die Qualität der Herzen.“

„Wir helfen den Patienten, ihr Leben zu verlängern, wenn wir bereit sind, über ihr Sterben und den Tod zu sprechen. Wir sind beschützter als wir denken und geliebter als wir wissen!“ sagte Pfarrer Dr. Steinhilper bei einem Vortrag.

18.3. Die dritte Quelle: Der Patient selbst 

Viele Menschen haben im Laufe ihres Lebens so viel Stärke erworben und ein solch gutes seelisch-geistiges Fundament gebaut, dass sie auf diesem auch und gerade in ihrer letzten Lebensphase sicher und ohne zu wanken standhaft bleiben können. Sie schaffen es, durch ihren Glauben, ihre Lebensweise, ihre Erfahrungen mit sich und anderen einen inneren Schatz an Reichtum zu sammeln, dass sie bewusst und dankbar das Vergangene loslassen und freudig auf die Zukunft zugehen können.

Dem 84-jährigen Herrn Lehmann, der im Laufe der letzten zehn Jahre schon zwei verschiedene schwere Krebserkrankungen mit großen operativen Eingriffen überlebt hatte, musste ich erklären, dass er von der letzten Krebserkrankung eine Lungenmetastase entwickelt hatte. Ich sprach mit ihm über die Konsequenzen, die wir jetzt daraus ziehen sollten. Bei allen anderen Untersuchungen hatten wir keine weiteren Absiedelungen des Tumors gefunden, so wäre grundsätzlich eine Lungenoperation möglich gewesen. Herr Lehmann reagierte ganz ruhig: „Das mit der Metastase habe ich mir gedacht. Jetzt bin ich bereit, meinen Weg ohne Operation zu gehen. Es geht mir ja noch gut. Ich kann meine verbleibende Zeit genießen und dankbar sein für alles, was ich bis jetzt erlebt habe.“ Er sagte das ganz offen und ohne jede Bitterkeit. Und ich bin voller Respekt für diesen Mann.

Ähnlich habe ich es von Herrn Gruber gehört, der einen bösartigen Tumor am Mageneingang hatte. Er konnte kaum mehr essen, weil die Passage fast vollständig verschlossen war. Eine Operation wollte er nicht mehr haben und begründete das mit diesen Sätzen: „Ich weiß schon eine Weile, dass dieser Krebs da wächst und bin absichtlich spät zu Ihnen gekommen. Ich habe meine Aufgaben erfüllt, und eine Ope-ration käme zu spät, denn ich habe nur noch kurze Zeit zu leben. Ich werde es aushalten, wenig zu essen und mir geistige Nahrung zuführen, solange ich kann.“ Er begnügte sich mit ein paar Bechern flüssiger Kost, las gute Literatur, verabschiedete sich überall mit kla-ren Sinnen, legte sich zu Bett und verstarb wenige Tage später. Die Gespräche mit ihm in seinen letzten Tagen werde ich nie vergessen, denn sie gehören zum Kostbarsten, was ich an Begegnung bis jetzt erlebt habe. Herr Gruber strahlte so viel Ruhe und Gelassenheit aus, so viel innere Stärke und Bescheidenheit, dass deutlich wurde, was es bedeutet, sich in Demut und Entschlossenheit mit seinem Leben zu bescheiden. Auch hier spürte ich das große Geschenk, Sterbende begleiten zu dürfen.

18.4 Die vierte Quelle: Der Arzt 

Eine wichtige Quelle der Kraft ist für viele Menschen ihr Arzt, dem sie vertrauen. Meist liegt dieser Beziehung eine langjährige Bindung zugrunde, die reich ist an gemeinsamen Erlebnissen, in denen sich die Basis für den letzten Weg geformt hat. Der Arzt muss offen und ehrlich sein und gleichzeitig bedachtsam und respektvoll genug auf die individuellen Wünsche des Patienten eingehen.

In einer Langzeitstudie seit 1989 bei chronisch Kranken konnte festgestellt werden, dass die Patienten zu 80 Prozent den Trost vom Arzt erwarten. Danach erst folgen Verwandte, Krankenschwestern und Seelsorger.49

Ich bin überaus dankbar und habe es gerne angenommen, dass Patienten mir in solchen Lebenssituationen ihr Vertrauen geschenkt haben. Beide Männer, von denen ich gerade erzählt habe, sagten: „Bei Ihnen bin ich in guten Händen. Ich weiß, dass Sie mir helfen, so weit Sie können.“

18.5. Das Ziel der emotionalen Anpassung

Bei der Sterbephase sollten wir dem Patienten die Einsicht vermitteln, dass der Sinn und Wert der Entwicklung darin liegt, wie jemand mit dem Leiden und Sterben fertig wird, wie die Selbstverwirklichung erreicht und die Selbstbeschränkung gleichzeitig angenommen wird. Deshalb ist es unerlässlich wichtig, bei allen Gesprächen und Beratungen vorrangig auf die individuellen Wünsche und Bedürfnisse des Patienten einzugehen. Das schließt alle körperlichen, seelischen, geistigen und sozialen Belange des Patienten ein. Ich halte es für falsch, aus irgendwelchen Gründen Themen oder Bereiche auszusparen, die der Patient bearbeitet und besprochen haben will.

18.6 Wer kann sich am besten anpassen?

Elisabeth Kübler-Ross50 fand heraus, dass es eine bestimmte Menschengruppe gibt, die besonders geeignet ist, die verschiedenen Stufen des Sterbens nach der Entdeckung ihrer tödlichen Krankheit zu durchschreiten. Diese Menschen haben gemeinsame Merkmale:

Erstens sind sie bereit, sich mit für sie wichtigen Menschen in vollem Umfang über ihre gegenwärtigen Erfahrungen auszutauschen. Zweitens begegnen sie anderen Menschen auf der gleichen Ebene, das bedeutet, sie befinden sich in einem Dialog, der beiden Partnern einen echten und gleichberechtigten Austausch über Gefühle und Denken ermöglicht. Und drittens akzeptieren sie das Gute und das Schlechte, weil sie in ihrem neuen Lebensbezugsrahmen andere Wertvorstellungen entwickelt haben, in denen eine solch wertende Beurteilung keinen Platz mehr hat. Das Gute und das Schlechte haben einen übergeordneten und wertfreien Sinn bekommen.

Elisabeth Kübler-Ross hat nachgewiesen, dass ein solcher Umgang mit dem Sterbensprozess eine Wiederverpflichtung zum Leben und einen optimalen Weg zu höchster Reife darstellt.

49 Besel: Zeitschrift für Allgemeinmedizin 1996, S. 1278-1282

50 „Reif werden zum Tode“, GTB-Sachbücher

Copyright Dr. Dietrich Weller

Der Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

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