Benno stellt seinen schäbigen Rucksack auf einen Plastikstuhl neben dem kleinen Tisch des Straßencafés am Marktplatz und kann damit seine ganze Habe, die ihm geblieben ist, im Auge behalten. Das Treiben auf dem Markt verläuft in den Morgenstunden noch geruhsam. Einige Frauen gehen zielsicher mit ihren Einkaufskörben von Stand zu Stand. Benno beobachtet die Menschen und betrachtet aus der Ferne die reichhaltige Gemüse- und Blumenauswahl unter den bunten Sonnenschirmen. Er saugt die frische Luft und die warmen Sonnenstrahlen in sich hinein, die ihn mit einem ganz neuen Lebensgefühl von Weite und Bewegungsfreiheit atmen lassen.
Seine abgetragenen Kleider sind sauber, und sein einziges Paar Schuhe hat er so gut wie möglich geputzt, aber es wirkt trotzdem ungepflegt. Benno streicht sich über die Wangen, die er heute zur Feier seiner Entlassung sorgfältig rasiert hat. Sogar ein Rasierwasser vom Anstaltsladen hat Knut aus der Nachbarzelle ihm zum Abschied geschenkt, das Benno verschwenderisch auf seinem gefängnisblassen Körper verteilt hat. Der Kellner rümpft die Nase, als er die Bestellung aufnimmt.
„Einen großen Kaffee, bitte!“ Den ersten Kaffee in Freiheit! Im Knast war sein Lieblingsgetränk nie gut genug für Benno. Immer lauwarm und mit seifigem Beigeschmack. Nicht einmal eine kleine Kaffeemaschine hatten sie ihm in all den Jahren gestattet, obwohl er als mustergültiger Häftling galt. Wegen seiner guten Führung hatten sie ihn jetzt auch vorzeitig entlassen.
Der Kellner bringt den dampfenden Kaffee in einem großen Becher, sogar mit einem kleinen Keks auf dem Unterteller und einem Glas Wasser. Benno genießt den würzigen Duft, schließt bedächtig die Augen und füllt den Mund mit dem Geruch und Geschmack der Freiheit, die er sich immer vorgestellt hatte. Auf diese Stunden hatte er sich in den letzten Wochen am meisten gefreut! Jetzt endlich kann sein Leben neu beginnen. Einen Job würde er zwar nach all den Jahren nicht mehr bekommen, zu alt war er geworden in der Abgeschiedenheit, und mit dieser Vergangenheit würde ihn niemand einstellen. Aber der Sozialberater hatte versprochen, bei der Integration in das neue Leben zu helfen. Und mit dem Geld, das er heute bei der Entlassung erhalten hatte, würde er eine Weile zurechtkommen, wenn er sparsam damit umging. Er schwelgt in seinem neuen Lebensgefühl.
Benno bestellt noch einen Kaffee und verschwindet mit seinem Rucksack auf der Toilette. Als er zurückkommt, liegt unter dem neuen Becher ein Foto. Als Benno es genauer anschaut, erkennt er das Gefängnis, in dem er die letzten fünfzehn Jahre verbracht hat. Ein Pfeil zeigt auf seine Zelle.
Sofort blickt Benno herum und prüft seine Umgebung. Wer hat dieses Bild hier hingelegt? Doch er sieht nichts, was seine Frage beantworten kann, niemanden, den er kennt, und niemanden, der ihn anschaut. Benno spürt, dass trotz seiner Begeisterung, endlich in der Freiheit zu sein, sich eine Angst in ihm ausbreitet wie giftiges Gas. Je länger er das Bild betrachtet, umso klarer wird ihm: Er wird beschattet! Jemand hier draußen weiß von seiner Entlassung! All seine Erfahrungen der letzten Jahre und die Geschichten, die ihm Mitgefangene erzählt haben, lassen Benno blitzartig wachsam werden wie einen Wachhund kurz vor dem Angriff. Die Freude an der Freiheit ist verflogen wie ein wundersamer Vogel, den ein Unbekannter verscheucht hat.
Benno fragt den Kellner, ob er das Bild unter den Becher gelegt habe.
„Nein, ganz sicher nicht, wir verteilen keine Bilder an unsere Kunden. Vielleicht war´s jemand, der vorhin hier vorbei ging.“
Benno bezahlt eilig, nimmt seinen Rucksack und macht sich auf den Weg zu dem Obdachlosenheim, das man ihm bei der Entlassung zugewiesen hatte. Dort meldet er sich „für ein paar Nächte“ an und darf in einem leeren Dreierzimmer ein Bett auswählen. Der Herbergsinhaber führt Benno durch die Gemeinschaftsräume, und Benno entdeckt eine große Kaffeemaschine, in der er sich sogar Latte macchiato und Cappuccino machen kann. Welch ein Luxus! Den würde er genießen!
Er verstaut seinen Rucksack in einem Safe und geht zum Sozialamt, um sich nach einer Wohnung zu erkundigen. Übermorgen solle er noch einmal kommen, dann würden sie ihm ein Zimmer zuweisen. Beim anschließenden Bummel durch die Stadt hält Benno aufmerksam nach Verfolgern Ausschau, bemerkt aber nichts Verdächtiges. Er kauft billig eine Jeans, drei Polohemden, ein Paar Schuhe und Unterwäsche.
Als er am Abend wieder in seinem Herbergszimmer ankommt, sieht er auf dem Nachbarbett eine abgegriffene und magere Reisetasche liegen. Benno schüttelt seine Bettdecke auf und sieht ein Foto auf den Boden fallen. Als er es aufhebt, erkennt er sich. Er braucht einen Moment, bis er das Bild zuordnen kann. Ja, richtig: Das war er selbst, als er nach dem Urteil das Gericht verließ! Wer hat das fotografiert, schießt ihm durch den Kopf. Doch ehe er sich darüber Gedanken machen kann, geht plötzlich die Tür auf. Benno steckt das Bild rasch in die Tasche.
„Hallo, ich bin Edwin!“, sagt der Fremde kurz angebunden, „Na, neu hier?“
Benno nickt: „Ich bin Benno!“
Er schätzt Edwin etwa so alt wie sich selbst. Aber bei dem Vollbart, den langen Haaren und den schlampigen Kleidern konnte das auch falsch sein. Sie setzen sich an einen kleinen Tisch. Das Woher und Wohin ist rasch beantwortet. Beide sind „auf der Durchreise“, und einige Minuten des belanglosen Gesprächs vergehen, bis Edwin aufsteht:
„Ich hol uns mal ´nen Kaffee!“ –
Edwin kommt nach wenigen Minuten zurück mit einem kleinen Tablett, auf dem zwei Glasbecher mit heißem Kaffee, ein Milchkännchen und eine Zuckerdose stehen. Edwin verteilt die Becher. Benno greift zu und nimmt sich Milch und Zucker. Er sieht, wie Edwin ihn beobachtet.
„Ist was?“
„Du siehst gut aus!“, nickt Edwin zufrieden, „Ich habe lange auf dich gewartet.“
„Auf mich, woher kennst du mich?“
„Ich kenne dich gut, aber du weißt nicht, wer ich bin!“, entgegnet Edwin mit offensichtlicher Genugtuung. „Ich habe mich intensiv mit deiner Vergangenheit beschäftigt.“
„Das versteh ich nicht! Erklär mir das!“ Benno rutscht ihm auf dem Stuhl entgegen.
Edwin zieht langsam ein Foto aus der Jackentasche. Er legt es behutsam so auf den Tisch, dass Benno es genau betrachten kann.
Benno erkennt Inge sofort! Das Blut schießt ihm heiß in den Kopf, eine Welle der glutvollen Erinnerungen überrollt seinen ganzen Körper. Dann trinkt er hastig den Becher leer, setzt ihn klirrend ab und stammelt: „Woher hast du dieses Bild?“
Edwin lenkt betont freundlich ab: „Wie schmeckt dir der Kaffee?“
Benno nickt beiläufig. Er starrt auf das Bild und dann auf Edwin. Aus dessen Augen schießen Benno Blicke wie Eispickel entgegen. Edwin flüstert mit einem gepresst-gefährlichen Unterton:
„Sie war meine Frau!“ – Er genießt es, wie dieser Satz sichtbar in Bennos Kopf explodiert.
Edwin giftet nach: „Bevor du sie in meinem Bett in einem Anfall von Eifersucht erstochen und dich mit ihrem wertvollen Schmuck aus dem Staub gemacht hast!“
Edwin beobachtet zufrieden, wie ein letztes Zucken durch Benno läuft. Er kann gerade noch den leeren Becher wegziehen, da krachen Bennos Kopf und Oberkörper auf die Tischplatte.
Edwin legt Bennos Becher in aller Ruhe in seine Reisetasche und stellt seinen eigenen vollen Becher neben Bennos Oberkörper, als wäre Benno gestorben, bevor er trinken konnte. Dann schießt Edwin in aller Ruhe das letzte Foto für seine Benno-Serie und verlässt mit dem selbstgefälligen Lächeln der moralisch Tadelfreien das Haus.
Copyright Dr. Dietrich Weller