Hoffnungsschimmer

„Ein Mann will sich umbringen“, sagte der Mann von der Zentrale des Roten Kreuzes über Funk, als ich ihn den Notarztwagen stieg. Der Fahrer brachte mich in die kleine Ortschaft, von wo der Patient selbst per Telefon um Hilfe gebeten hatte.

Als die beiden Rettungssanitäter und ich in dem Mehrfamilienhaus in der dritten Etage klingelten, hörten wir nach einer Weile schlurfende Schritte in der Wohnung. Die Tür wurde langsam geöffnet, zuerst einen Spalt weit. Ein unrasierter und zerzauster Männerkopf kam zum Vorschein. Dann ging die Tür langsam und ganz auf. Da stand ein gebeugter blasser Mann, schätzungsweise Mitte vierzig. Die Gesichtszüge gruben tiefe Rinnen unter den Bartstoppeln, Runzeln zerfurchten seine Stirn, die trüben Augen waren nur halb geöffnet und ließen einen matten Blick zwischen den Lidern herausgleiten. Die schlaff hängenden Schultern und der pyknische Oberkörper waren nur mit einem schmuddelig weißen Unterhemd bedeckt. An den Seiten der schwarze Hose mit den zerknitterten Bügelfalten und dem fleckigen Stoff baumelten alte Hosenträger herab. Nicht einmal von den Hosenträgern hat der Mann noch Halt, dachte ich. Die nackten Füße steckten in ausgetretenden Latschen, die früher mal gepflegte Lederpantoffeln gewesen sind.

Der Mann ging mit gesenktem Kopf einen kleinen Schritt zur Seite, damit wir eintreten konnten. Ich stellte mich und meine beiden Begleiter vor. Der Patient sagte nichts. Wir gingen ins Wohnzimmer. Mit einem kurzen Rundumblick erkannte ich, dass dies das einzige Zimmer der Wohnung war. Ein zerwühltes Bett mit schmutziger Bettwäsche stand an der einen Wand. Ein alter Holzschrank diente als Garderobe: Vor der Schranktür hing ein schwarzes Anzugjackett, und über diesem baumelte ein zur Schlinge gebundenes Seil, nur der Kopf darin fehlte noch. Mit dem nächsten Blick entdeckte ich mehrere große Messer und einen Dolch auf der Plastiktischdecke in der Zimmermitte liegen. Na, da ist ja alles vorbereitet, schoss mir durch den Kopf.

Ich bot dem Patient einen Stuhl am Tisch an und schob mit einer sanften, aber klaren Bewegung die Messer in Richtung des Sanitäters, der sie an den Tischrand zu sich legte. Herr Schneider, wie ich den Schwerkranken nennen will, saß vornüber gebeugt mit unter der Tischplatte gefalteten Händen.

Ich sagte ganz ruhig zu meinen Begleitern: „Ich schlage vor, einer von Ihnen geht ins Auto und sagt auf der Wache Bescheid, wo wir sind, der andere bleibt hier. lch will versuchen, mit Herrn Schneider ein Gespräch zu führen.“ Ein kurzer Blick zwischen den beiden klärte die Lage, ein Sanitäter setzte sich zu uns, sein Kollege verschwand.

Ich wartete eine Weile, ob Herr Schneider anfangen würde, von allein zu sprechen. Aber es kam kein Wort, keine Bewegung. Er schien völlig isoliert und eingemauert in seiner Innenwelt. Er nahm keinen Kontakt mit uns auf. Ich war überrascht, wie er mit einer solch schweren Blockade überhaupt hatte telefonieren können.

Ich begann vorsichtig: „Herr Schneider, Sie machen mir einen sehr traurigen Eindruck. Stimmt das?“ – Es schien mir wie eine Bedenkzeit, die er brauchte, damit die Frage wie eine tropfende Botschaft gegen seine Denkblockade in ihn hineinfließen und sich langsam eine Antwort in ihm formen konnte. Dann nickte er kaum erkennbar mit dem Kopf, ohne aufzuschauen.

„Seit wann ist das denn so?“, fragte ich weiter. – Wieder dauerte es ein ganze Weile, bis leise und monoton die Antwort kam: „Weiß nicht genau …“ Er war in sich und auf den Tisch fixiert, durch den er mit müdem Blick hindurch ins Unendliche schaute.

„Ist es so schlimm, dass Sie Ihr Leben selbst beenden wollen?“, sagte ich mit einem kleinen Fingerzeig auf die Messer und den Strick am Schrank. – Da blickte er langsam auf und sah mich an. Kurz leuchtete Leben auf, dann verlosch es resignierend: „Nicht mal das schaff ich!“

Nach einer Gedankenpause erwiderte ich: „Aber ich denke, Sie haben um Hilfe gerufen, weil Sie eigentlich leben wollen. Das ist doch was Gutes.“-

Er bewegte sich nicht und stierte in die Tischdecke. „Aber so kann ich nicht leben!“, murmelte er vor sich hin aus seinem Seelenkerker.

„Was ist denn so schlimm?“, wollte ich wissen. „Alles,“ meinte er nach einer ganzen Weile leise und ergänzte stoßweise: „Alles dunkel – Kein Job – Kein Geld – Bin allein.“

„Ich möchte Sie in Sicherheit bringen vor Ihren Absichten, sich umzubringen. Sind Sie einverstanden?“

Er blickte mich aus dem Augenwinkel an: „Sie können mir nicht helfen. Niemand kann das.“

Er stak tief in seinem dumpfen Seelengrau. Ich ließ nicht locker: „Das wissen wir erst, wenn wir es probiert haben.“ Er schüttelte ganz langsam den Kopf, ohne etwas zu sagen.

Ich setzte nach: „Ich möchte Sie gern mitnehmen in eine Klinik, wo Menschen ohne Hoffnung wie Sie gut behandelt werden und eine Chance haben, wieder ins Leben zurück zu kommen.“

„In die Klappse?“, fragte er in einem so unbeteiligten Ton, als sei er von der Sache gar nicht betroffen. Ich antwortete: „Ich bringe Sie in das Psychiatrische Krankenhaus, wo man Ihnen helfen kann, wieder auf andere Gedanken zu kommen. Gehen Sie mit?“

„Die können mir auch nicht helfen!“, beharrte er mit brüchiger Stimme und gesenktem Blick.

„Aber bitte lassen Sie es uns versuchen. Nur dann haben Sie eine Chance. Ich kann Sie nicht einfach hier sitzen lassen und wieder wegfahren. Sie haben uns doch gerufen, damit wir etwas unternehmen, was Ihnen nützt.“

„Meinen Sie wirklich, die können etwas für mich tun?“, fragte er mit zaghafter Stimme, in der schon ein bisschen Hoffnung mitschwang.

„Ich möchte es auf jeden Fall versuchen. Ich bin mir sicher, dass Sie da gut versorgt sind. Gehen Sie mit?“ Er streckte langsam seinen Oberkörper und hob die Schultern. Dann schaute er mich an: „Es bring ja doch nichts. Aber wenn Sie meinen …“  Jetzt saß er aufrecht und schaute mich an.

„Möchten Sie noch etwas anderes auf die Fahrt anziehen?“, fragte ich erleichtert. Ich nahm den Strick von der Jacke und reichte ihn dem Sanitäter, der ihn kommentarlos unter seiner Jacke verschwinden ließ. Herr Schneider zog langsam ein hellblaues Hemd, sein schwarzes Jackett und andere Schuhe an.

„Darf er noch ein paar Sachen in die Tasche dort packen?“, fragte ich Herrn Schneider mit einem Blick auf den Sanitäter. Herr Schneider nickte, und der Sanitäter füllte rasch ein paar Hemden, Unterwäsche und einen Badebeutel mit den wichtigsten Utensilien in die Sporttasche, die neben dem Bett stand. Dann gingen wir durchs Treppenhaus die drei Stockwerke hinunter zum Auto. Von unterwegs telefonierte ich mit der Zentrale und organisierte, dass wir Herrn Schneider im Krankenhaus, aus dem ich kam, einer anderen DRK-Besatzung übergeben konnten, die ihn ins 30 km entfernte Landeskrankhaus brachte. Unser Notarztwagen musste einsatzbereit bleiben.

Ich war unglaublich erleichtert, dass ich Herrn Schneider hatte dazu bewegen können, freiwillig mit uns zu gehen. Als ich später am Tag beim Dienstarzt der Klinik nachfragte, erhielt ich die Bestätigung, er sei gut angekommen.

Drei Wochen später sprach mich einer der Sanitäter auf dem Krankenhausflur an: „Erinnern Sie sich noch an den Mann, den wir miteinander wegen seiner Suizidabsichten eingewiesen haben?“

Ich erwiderte: „Ja natürlich, wissen Sie, wie es ihm geht?“

„Ja,“ sagte er langsam, „er ist heute morgen entlassen worden. Wir haben ihn aus der Psychiatrie nach Hause gebracht. Eine halbe Stunde später sind wir von den Nachbarn gerufen worden. Er ist vom Balkon gesprungen. Jetzt ist er tot.“

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diese Geschichte habe ich im Almanach deutschsprachiger Schriftstellerärzte 2012 unter dem Titel Hoffnungsschimmer veröffentlicht

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