Beim 16. Tschaikowsky-Wettbewerb für Klavier, der im November 2019 in Moskau stattfand, sorgte der französische Pianist Alexandre Kantorow für eine Sensation: Er gewann als erster Franzose diesen weltberühmten „Olymp des Klaviers“, den 1. Preis und dazu noch die Goldmedaille für den Gesamtwettbewerb.
Seit der Gründung 1958 ist der Sieg in diesem Wettbewerb, der alle vier Jahre stattfindet, ein Garant für eine Weltkarriere. Den ersten Wettbewerb gewann 1958 mitten im Kalten Krieg der Amerikaner Van Cliburn!
Glücklicherweise sind die einzelnen Runden bis zum Finale auf YouTube erlebbar. Wir sehen diesen zurückhaltenden 22-Jährigen Alexandre Kantorow, der am 20. Mai 1997 in Clermont-Ferrand geboren wurde, schüchtern an den Flügel gehen, wo er kurz innehält, um dann umso zupackender und entschlossener seine überragende Kunst zu zeigen. Allein die Brahms-Rhapsodien op. 79, die er in der 2. Runde so innig, versonnen und klangmalerisch spielte, wie ich sie nur von Grigory Sokolow kenne, sind ein bemerkenswertes Erlebnis. Die verblüffende Leichtigkeit, mit der Kantorow seine stupende Virtuosität nutzt, um geradezu fingerbrecherische Anforderungen der Musikstücke zu bewältigen, wirkt wie eine Nebensache, die Kantorow so selbstverständlich in den Dienst der Werke stellt, die er darbietet. Der Zuhörer wird gefangen von einer intensiven Klangwelt und hochsensibler Technik. In den Vorrunden breitete Kantorow ein Kaleidoskop seines breiten Repertoires aus: von Bachs Wohltemperiertem Klavier über Brahms- und Beethoven-Sonaten, über Liszt-, Rachmaninoff- und Chopin- Etuden zu Stravinskys Feuervogel-Suite. Dabei ist es besonders erwähnenswert, dass er eben nicht nur auf die virtuosen Stücke zu Demonstrationszwecken Wert legt, sondern auch mit langsamen Melodien seinen großartigen Klangsinn und seine hohe musikalische Empfindsamkeit leuchten lässt. Ich will nur als Beispiel die Listz´schen Bearbeitungen von mehreren Schubert-Liedern erwähnen.
Der Höhepunkt seiner Auftritte in Moskau waren aber für mich die beiden Klavierkonzerte, die im Finale zum Pflichtprogramm des Wettbewerbs gehören. Die Kandidaten müssen ein Konzert von Tschaikowsky und ein Konzert ihrer Wahl mit Orchester spielen. Kantorow wählte eben nicht das erste, das allseits bekannte Klavierkonzert in b-Moll von Tschaikowsky, das sonst meistens gespielt wird, sondern das mit etwa 56 Minuten Dauer sehr viel längere und durch die extrem virtuosen Kadenzen noch viel schwierigere zweite Klavierkonzert in G-Dur. Leider ist es auf YouTube nur als Tondokument des Wettbewerbs erhalten, aber es gibt ebenfalls auf YouTube auch eine Lifeaufnahme des Philharmonischen Orchesters Straßbourg unter Aziz Shokhakimov, bei der man Kantorow in voller Aktion beobachten und bewundern kann. Das Konzert zeigt ihn in kammermusikalischen Phasen, in fulminanten Solokadenzen und in einfühlsamer Orchesterbegleitung. Ich kenne nur eine einzige Aufnahme, nämlich die von Yuja Wang, die ähnlich vielseitig durch die unübertreffliche Brillanz und einen atemberaubenden Wechsel von Zärtlichkeit und explosiven Kraftausbrüchen gekennzeichnet ist. Kantorow besticht mit verblüffender Leichtigkeit, gerade in den extrem schnellen und virtuosen Passagen und besonders in den Kadenzen, deren technische Herausforderungen wahrscheinlich der Grund sind, warum das Konzert so selten in den Konzertprogrammen auftaucht.
Die zweite Überraschung für mich bei dem Tschaikowsky-Wettbewerb stellt die Wahl des zweiten Konzertes dar, das Kantorow für sein Finalprogramm auswählte: Das zweite Brahms-Klavierkonzert in B-Dur ist neben dem Busoni-Klavierkonzert eines der schwersten und längsten Klavierkonzerte der Klavierliteratur, nicht nur wegen der hohen Anforderungen an die Virtuosität des Pianisten, sondern auch an die immense künstlerische Gestaltungskraft, die ihm die kompositorische Dichte und Vielfalt des Werks abverlangen.
Beim Anhören des Konzerts erinnerte ich mich an ein wichtiges und prägendes musikalisches Erlebnis. Als ich 13 Jahre alt war, zeigte mir ein entfernter Verwandter eine damals gerade neu erschienene Schallplatte dieses zweiten Brahms-Klavierkonzertes, das ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht kannte. Überhaupt war mir Brahms-Musik damals noch fremd. Umso mehr war ich fasziniert von dieser Musik und dem Pianisten, der das Konzert anlässlich seines Debuts in den USA mit Erich Leinsdorf und dem Chicago-Symphony Orchestra dort aufgenommen hatte: Svjatoslav Richter durfte nach einer persönlichen Intervention von Emil Gilels, Mstislav Rostropowitsch und Kyrill Kondraschin bei der damaligen Kulturministerin Furzewa erstmals aus der UdSSR in den Westen reisen und riss das Publikum am 19.10.1960 in der Carnegie-Hall in New York von den Sitzen. Wenige Jahre zuvor hatte Emil Gilels in den USA den begeisterten amerikanischen Journalisten, die ihn hochleben ließen, schon gesagt: „Warten Sie ab, bis Sie Richter gehört haben!“ – So war diese Richter-Aufnahme des zweiten Brahms-Klavierkonzertes bis jetzt meine Referenz, mit der ich die vielen Interpretationen verglich, die ich danach hörte. Sie war virtuos, kraftvoll, souverän in der Gestaltung und bezwingend in der Einheit mit dem Orchester.
Aber nachdem ich das zweite Brahms-Klavierkonzert des SWR-Symphonieorchesters unter Teodor Currentzis mit Alexandre Kantorow in der Stuttgarter Liederhalle (leider nur auf YouTube) vom 21.01.2022 erlebt habe, entwickle ich eine ganz neue Sicht- und Hörweise zu diesem wunderbaren Konzert. Hier habe sich drei überragende und kongeniale Klangmaler getroffen: Ein fabelhaftes Orchester wird von einem der besten Dirigenten unserer Zeit geleitet, und einer der ausdruckvollsten Pianisten, die ich kenne, spielt den Solopart. Welch ein kultiviertes und kulturelles Vergnügen!
Wer das Konzert kennt, genießt den herrlichen langsamen Satz, in dem das Solocello die Leitmelodie vorträgt und weitgehend im Duo entwickelt. In Stuttgart war der 1. Konzertmeister der Cellisten, Frank-Michael Guthmann, ein ebenbürtiger Partner von Kantorow. Allein dieser lyrische Satz lohnt das Anhören der Konzertaufnahme! Der vierte und letzte Satz ist ein brahmssches Kraftpaket voll Vitalität und untergründiger Schwermut. – Dann folgt eine Überraschung: Kantorow gibt eine Zugabe mit Guthmann zusammen! Sie spielen aus dem Zyklus „Fünf Lieder für eine tiefe Singstimme“ op. 105 von Brahms eine Bearbeitung für Cello und Klavier des Liedes „Immer leiser wird ein Schlummer“. Wir entdecken plötzlich, dass hier dieselbe Melodie erklingt wie in dem Cellosolo des 3. Satzes des 2. Klavierkonzertes! Ich möchte gern noch mehr von diesen beiden Künstlern hören. Ich denke, sie sind ein großartiges Duo! – Anschließend gibt Kantorow noch zwei Dreingaben: aus Stravinskys „Feuervogel“ eine hochvirtuose Bearbeitung des Finales und von Liszt das Petrarca-Sonett op. 104. – Ein grandioses Konzerterlebnis!
Am Beispiel von Alexandre Kantorow möchte ich eine besonders wertvolle Auszeichnung beschreiben, die nur wenige Pianisten erhalten: den Gilmore-Artist-Award, der zu Ehren des Kunstmäzens Irwin S. Gilmore alle vier Jahre an einen besonders förderungswürdigen Pianisten verliehen wird. Hier treffen wir berühmte Preisträger wie Igor Levit (2018), Rafal Blechaz (2014), Kyrill Gerstein (2010) und Leif Ove Andsnes (1998).
Der Künstler wird ausgewählt mit einem geheimen Verfahren: Ein sechsköpfiges Gremium nimmt vier Jahre lang einige Pianisten und Pianistinnen unter Beobachtung, reist ihnen hinterher, besucht inkognito ihre Konzerte in großen und kleinen Konzertsälen. Dabei wissen die Künstler nicht, dass sie unter Beobachtung und Bewertung stehen! Schließlich wird in geheimer Abstimmung ein Pianist oder eine Pianistin ausgewählt und mit dem Gilmore Artist Award überrascht und ausgezeichnet. Am 17.09.2023 wurde Alexandre Kantorow mit diesem Preis für 2024 geehrt. In dem anschließenden Konzert spielte er wie auch in der 1. Runde beim Tschaikowsky-Wettbewerb neben anderen Stücken die Brahms-Bearbeitung für die linke Hand der berühmten Bach-Chaconne aus der 2. Partita für Solovioline: eine höchst bemerkenswerte, kraftvolle Interpretation, die fast Orgelvolumen erreicht!
Kantorow bekommt als Gilmore-Preisträger 300.000 $ zur freien Verfügung. Der Preis ist die höchstbezahlte Anerkennung in der klassischen Musik. Kantorow hat in einem Interview für die amerikanische Serie von Zsolt Bognar „Living the classical life“ (bei YouTube) berichtet, dass er ein künstlerisches Projekt damit finanzieren möchte. Alexandre Kantorows Eltern sind Musiker, der Vater Jean-Jacques Kantorow ist Geiger und Dirigent, und die Mutter ist ebenfalls Geigerin. Bereits mit drei Jahren begann Alexandre seine Musikausbildung, die ihn später zu hervorragenden Lehrern führte. Aber erst nach dem Abitur entschied er sich für eine berufliche Karriere als Pianist. Inzwischen gibt es einige bemerkenswerte CDs von ihm, z.B. alle Klavierkonzerte von Camille Saint-Saëns, sein Vater dirigiert dabei die Tappiola Sinfonietta. Eine Rarität ist eine CD des unbekannten Klavierkonzertes von Jules Massenet! Es lohnt sich, bei YouTube nach Neuerscheinungen der Kantorow-Konzerte zu suchen und die aktuellen Konzertkalender der Musikveranstalter nach den Auftritten von Alexandre Kantorow zu überprüfen! Wir werden ganz sicher noch viele großartige Darbietungen von ihm hören!