Genuss mit Muse und Muße – aus schwäbischer Sicht

Lesung „Genuss und Muße / Muse“
zum BDSÄ-Kongress Juni 2011 in Leonberg 

Vorweg eine Bemerkung: Das so genannte scharfe ß nennt man im Schwäbischen wegen seiner Schreibform Dreierles-S. Aus demselben Grund heißt in anderen Bundesländern Rucksack-S.

Und jetzt will ich etwas erklären zu dem Thema

 

Der Genuss und die Muße mit der Muse –
und das Ganze aus schwäbischer Sicht

Diese Überschrift ist beim ersten Lesen für einen Schwaben ein Widerspruch in sich selbst. Denn die wichtigste und einzige legitime Aufgabe des Schwaben besteht im Schaffa (Arbeiten) und nicht im Bassledô. Das kommt aus dem Französischen passe le temps – die Zeit verbringen und meint im Schwäbischen den absolut verbotenen Müßiggang.

Und wenn der Schwabe schon da sitzt und genüsslich sein Viertele schlotzt wie kleine Kinder ihr Eis und mit sichtlichem Behagen seine Pfeif oder Zigarr raucht oder an ordentlicha Roschtbrate verzehrt, hat er immer eine gute Begründung parat, warum er jetzt gerade schafft.

Zum Beispiel muss er jetzt Pause machen, denn Essa ond Trenka hält Leib ond d´Seel z´samma, oder er muss ausprobiera, ob die Wirtschaft emmer noch guat isch. Und das ist natürlich in erster Linie a recht´s Gschäft und erfordert größte Anstrengung und Konzen-tration. Dafür hat man ihm Respekt und Anerkennung zu zollen, weil er sogar beim Essa ond Trenka schafft, wo andre Leut den Herrgott an guata Ma sei lasset..

Ich saß einmal mit einem befreundeten Schwaben in einem sehr guten Lokal in Stuttgart bei einer vorzüglichen Flasche Rotwein. Als die Flasche leer war, sagte der Freund zum Ober: „I wois net, ob uns der Wai wirklich g´schmeckt hat. Deshalb brauchat mr´nômal a Flasch.“ (Ich weiß nicht, ob uns der Wein wirklich geschmeckt hat. Dehalb brauchen wir noch eine Flasche.)

Klar ist, dass der Schwabe immer ein mehr oder weniger schlechtes Gewissen hat, wenn er net schafft. Denn was denkat da d´Leut? Er will ja net faul sein, kein Dagdiab, der dem Herrgott den Tag stielt.

So lässt sich auch der überlieferte Stoßseufzer eines berühmten schwäbischen Fabrikan-ten erklären, der während des Urlaubs im Liegestuhl eines luxuriösen australischen Hotel-gartens stöhnt: „Jetzt muss i hier sitza, ond dahoim sodd´mr d`Beem spritza!“ (Jetzt muss ich hier sitzen, und daheim sollte man die Bäume spritzen!“

Auch wenn eines der schwäbischen Lieblingswörter gmiatlich (gemütlich) heißt, ist es ein großes Lob, wenn er zu seinem Freund sagt: „Du siesch aber abg´schafft aus. (Du siehst aber abgearbeitet aus!)“

Dass der Schwôb fast ausschließlich helenga (heimlich) genießt, wird bei der folgenden Geschichte deutlich.

Mein Vater fragte bei einem Hausbesuch den Hausherrn, den besten Metzger in Leon-berg: „Was machet Se em Urlaub?“„Ach,“ meinte der Metzger, „mir ganget a bissle en Schwarzwald, nix B´sonders?“ – Mein Vater blinzelte ihn an: „Na, Traube Tonbach?“ Das war schon damals das beste und teuerste Ferienhotel im ganzen Schwarzwald. Der Metzger nickte und führte gleichzeitig seinen Zeigefinger an die Lippen: „Pst, des verträgt ´s Schnaufa net! (Das darf man nicht einmal atmen – und schon gar nicht sagen!“)

Das Genießen beim Schaffen hört man aus dem zweiten Wahlspruch des Schwaben bei der Arbeit: „Nô net hudla! Emmer mit dr Ruhe!“ (Nur nicht schlampen! Immer mit der Ruhe!“). Dabei muss klar sein, dass der Schwabe sorgfältig und bedacht zu Werke geht und nichts mehr hasst als Hektik und Schlamperei.

Er ist ein stiller Genießer, der spätestens nach dem zweiten Viertele ins Philosophieren gerät, auch wenn er vielleicht gar nichts spricht, denn er will kein Schwätzer sein. Und die Frauen wollen keine Schwatzbasen sein, auch wenn sie (ganz selten) über die anderen schwätzen.

Das Stammtischgespräch kann also typischerweise so ablaufen: Stille bis zum zweiten Viertele, dann „So so, bisch aô da?“ – Lange Pause – „Ha ja, ao amôl wieder!“ –Pause – „S´isch heiß heut!“ – Pause – „Ja, aber da kannsch nix macha!“ – Pause – „Na drenka m´r no oins! (Dann trinken wir noch eins!“) Und zu Hause erzählt er dann saim Weib (seiner Ehefrau),dass es wieder sehr gmiatlich war.

Und wenn der Schwabe gefragt wird, wie es denn geschmeckt hat, wenn es besonders leckeres Essen gibt, macht er dem verhassten preußischen Militärgrundsatz alle Ehre, indem er deren Grundsatz „Keine Kritik ist Lob!“ abwandelt in den Satz „Mr kann´s essa!“ – Aber dann solltet ihr mal das verschmitzt lächelnde, genießerische Gesicht dazu sehen und den geschleckt sauberen Teller, den der Schwabe hinterlässt! Denn mr derf nix verkomma lassa, ond des schöne Sößle erst recht net!“

Ein richtiger Schwabe hat natürlich auch seine Muse, aber er nennt sie nicht so. Je nach Verwandschafts- oder Freundschafts- oder Erlaubtheitsgrad gibt es viele Namen. Sehr liebe- und respektvoll nennt er sie  offiziell mai Weib oder mai Regierong.

Am beliebtesten und häufigsten sind natürlich die steigernden Verkleinerungsformen Man beachte diese schwäbische Eigenschaft: Die Bedeutung wird hervorgehoben und gesteigert durch das Anhängen der zärtlichen und verkleinernden Silbe –le.

Ganz zärtlich ist mai Amenôschlupferle (bestmögliche, aber schlechte Übersetzung: An-mich-hin-kuschelchen“). Er möchte gern, dass sie an ihn nô schlupft, hin schlüpft, damit er in sie hinein schlüpfen kann. Wenn er sehr verliebt ist, hat sie alles in der –le-Form: a glains Näsle, a süßes Göschle, blaue Äugla, Birnen- oder Apfelbrüschtla ond a gnaggich´s Ärschle. Und er gibt ihr dann keinen Kuss, sondern viele Küssla.

Auch das Bild der Schnecke findet im zärtlichen Miteinander seine übertragene Bedeu-tung: Sie ist sein Schneckle, mit der er sich in seinem (Schnecken-) Häusle z´rickzia und z´samma schneckla (zurückziehen und zusammen schneckeln) will.

Ein Schätzle – oder im Honoratioren-Deutsch ein Schätzchen – ist etwas besonders Kostbares.

Wenn das Schätzle auch gute Spätzla, die köstlichste aller schwäbischen Teigvaritationen, von Hand schaben kann, wird ein richtiger Schwabe ernsthaft in Erwägung ziehen, mit dieser Frau in ein eigenes Häusle zu ziehen. Nach dieser gastronomischen Köstlichkeit nennt er dann auch sein allerliebste Muse Spätzle.

Wenn er zwei Spätzla in zwei verschiedenen Häusern genießt, stellt ihn das vor größere Herausforderungen in logistischer und schauspielerischer Hinsicht. Wenn er aber bloß zwei Spätzla auf em Deller hôt, befindet er sich in einer schlechten Wirtschaft.

Im Idealfall bekommen die jungen Leut´ ein Häußle zur Hochzeit geschenkt, wenn der Schwiegervater reichlich Sach´ hat.

Hier gilt bei der Auswahl der Zukünftigen die pragmatische schwäbische Devise: A Reiche und Scheene frisst ao net meh als a Arme ond Wiaschte. (Eine Reiche und Schöne isst auch nicht mehr als eine Arme und Hässliche.)

Wenn es dann zuhause zu Spannungen kommt und er versucht, sich gegen seine Regierung aufzulehnen, kann es sein, dass dieser emanzipationsbedürftige Ehemann von saim Weib (seiner Ehefrau) als Hausteufel ond Gassenengel bezeichnet wird, denn auf der Gass, also auf der Straße und in der Öffentlichkeit benimmt er sich vorbildlich, leutselig, hilfsbereit und gut erzogen.

Im Schwäbischen gibt es eine sehr differenzierte Benutzung des Wortes Mensch:

Der Mensch ist das bekannte deutsche Substantiv und unterscheidet ihn vom Tier.

Das Mensch ist eine Frau, wobei noch nicht ganz klar ist, ob das positiv oder negativ ist. Da muss man genau auf den Tonfall und die Mimik des Sprechenden achten.

Besonders verächtlich ist es gemeint, wenn Männer über die Menscher sprechen.

Wenn er aber von dem netta Menschle oder dem saubera Menschle spricht, ist es schon fast ein Indiz für Schmetterlinge in seinem Bauch beim Anblick dieser süßen Krott. Hier wird die hässliche Kröte zum Inbegriff desverwandelbaren Schatzes. Sie muss von dem Prinzen geküsst werden!

Dann hat er sich verguggt in sie, er hat sich verschaut. Im Hochdeutschen bedeutet das verliebt. Und manchmal hat diese Silbe die Bedeutung wie bei verlaufen: Es geht in die falsche Richtung.

Und wenn der Vater mit leichtem Glitzern in den Augen über die Angebetete des Sohnes bei der ersten Begegnung anerkennend sagt: Des isch aber a saubers Mädle oder ein saubers Menschle, ist das kein Kommentar über die Reinlichkeit der jungen Frau, sondern fast schon ein sicheres Zeichen dafür, dass die junge Frau große Chancen hat, wegen ihres offen-sichtlich guten Charakters und Aussehens herzlich in die Familie aufgenommen zu werden.

Wer eine köstliche und wahre Beschreibung der schwäbischen Lebensweise lesen und Muße und Muse genießen will, sei auf das köstliche Büchlein unseres Kollegen und verstorbenen BDSÄ-Mitglieds Dr. Gerhard Vescovi hingewiesen: „Der Hippokrates im Heckengäu“. Ich kannte Vescovi schon als Schüler, weil mein Vater, ein Kon-Assistent von ihm, mich zu einer Lesung mitgenommen hatte. Später begegnete ich ihm wieder, und er war mit ein Grund, warum ich in den BDSÄ eingetreten bin. In einem Brief an Gerhard Vescovi habe ich ihn, den schreibenden Kollegen, 1997 so charakterisiert: „Verschmitzt, hinter-gründig, leutselig, menschenliebend, gut beobachtend, genießerisch, mitteilsam, kurz: ein echter, kultivierter Schwabe.“

Zusammenfassung: Mancher Schwabe genießt bis zur Schwelgerei, kann es aber schlecht zugeben, macht es oft heimlich, weil er aus lauter Rücksicht keinen Sozialneid aufkommen lassen will. Und er hat hoffentlich eine Muse, die er mit Muße genießt. Dabei achtet er sorgfältig auf eine finanzielle Optimierung, wie die folgende Geschichte zeigt, die Taddäus Troll in seinem legendären Buch Deutschland deine Schwaben niedergeschrieben hat.

Ein Paar kam in die Sprechstunde eines Psychiaters und bat ihn, ihnen beim Sex zuzuschauen. Er sagte mit einem Wink zur Couch: „Gut!“ – Als das Paar glücklich und ermattet war, meinte er: „Ich habe nichts Auffallendes feststellen können!“ und verlangte 80 € für die Sitzung. Nach drei weiteren Terminen mit dem gleichen Verlauf sagte der Psychiater: „Was wollen Sie eigentlich hier herausfinden?“ – Nichts“, sagte der Mann und deutete auf seine Partnerin, „aber sie ist verheiratet, zu ihr können wir nicht gehen. Ich bin auch verheiratet, bei mir geht´s auch nicht. Hier haben wir ein saugutes Alibi. Das Holiday Inn verlangt 130 €, das Steigenberger sogar 300 €. Bei Ihnen kostet´s 80 €, ônd d´Krankakass erstattet 67,50 €.“

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