Die überbesorgten Angehörigen

 

Kennzeichen

Die überbesorgten Angehörigen kommen häufig auf die Station in der Klinik oder rufen den Arzt des Patienten an, wollen Auskunft haben und berichten über ihrer Meinung nach wichtige Veränderungen oder Symptome des Patienten. Sie halten oft Sprechzeiten nicht ein und drängen sich auf. Dabei erwarten sie, dass man immer für sie sehr viel Zeit hat. Meist haben sie Eigenschaften der fordernden, besserwisserischen und distanzlosen Menschen. Überbesorgte Angehörige versuchen, über das übliche Maß der Anteilnahme hinaus Kontakt mit dem Patienten, dem Arzt und den betreuenden Therapeuten aufzunehmen. Und natürlich geben sie an, dies alles nur zu tun, weil sie dem Patienten damit helfen wollen. Das betonen sie auch, um sich und ihr Verhalten zu rechtfertigen.

Sie suchen Bestätigung, Trost, Hilfe, Information und lassen sich meist mit kurzen Erklärungen nicht zufrieden stellen. Sie zeigen fast regelmäßig Zeichen der Hilflosigkeit und der daraus resultierenden wechselnd stark ausgeprägten Aggression. Das reicht von aufdringlichem Verhalten bis zu unterschwelligen oder mehr oder weniger deutlichen Vorwürfen, nicht alles optimal zu machen. Wenn wir genau hinschauen, erkennen wir, dass diese Angehörigen sich sehr wahrscheinlich so verhalten, weil ihnen wesentliche Informationen fehlen. Ich möchte Sie bitten, noch einmal das Kapitel „Eine wichtige Reaktionskette“ zu lesen.

In der Praxis habe ich es manchmal erlebt, dass Mütter anriefen oder mich in der Sprechstunde ins Vertrauen ziehen wollten, um über die Krankheit oder das Fehlverhalten ihrer mittlerweile erwachsenen Kinder zu sprechen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Vater in dieser Rolle erlebt zu haben. Bei den besorgten Müttern hatte ich regelmäßig den Verdacht, und manche gaben es auch widerwillig zu, dass ich benutzt werden sollte, um dem „Kind“ eine Botschaft zu überbringen und es auf den rechten Weg zu führen. Solche Versuche der Instrumentalisierung sind sehr gefährlich, besonders für die Arzt-Patient–Beziehung, und ich denke, wir Ärzte müssen uns hüten, als Schiedsrichter oder Erziehungshelfer im Dienst der Eltern eingespannt zu werden. Das gilt erst recht, wenn das Kind längst erwachsen ist und die Eltern erkennen und nicht zugeben wollen, dass ihre Erziehung wohl nicht den Erfolg gezeitigt hat, den sie erwartet haben. Es ist für viele Eltern schwierig zu akzeptieren, dass ihre Kinder sich für eigene Wege entscheiden und nicht immer bereit sind, ein Leben so zu führen, wie die Eltern es für sie erdacht haben.

Anders ist die Situation, wenn wir Ärzte einen schwer kranken Patienten betreuen und die Angehörigen sich in die Behandlung einmischen, obwohl sie dazu nicht befugt sind. Das ist umso so schwieriger, wenn der Patient sich nicht wehren kann, weil er z.B. bewusstlos oder aus anderen Gründen nicht geschäftsfähig ist oder sich nicht ausdrücken kann. Ich denke beispielsweise an Patienten mit einem Schädel-Hirn-Trauma oder einem Schlaganfall, die kognitiv erheblich beeinträchtigt sind und in vielen Fällen gar nicht sprechen können oder wie bei einer Aphasie ein gestörtes Sprachverständnis und Sprechvermögen haben.

Was machen wir mit überbesorgten Angehörigen?

Vorrangig wichtig erscheint mir zu klären, ob wir Ärzte oder auch die Schwestern und Therapeuten in der Klinik ein Recht haben, mit den Angehörigen über die Krankheit und Behandlung des Patienten zu sprechen. Das ist auch entscheidend, wenn die Angehörigen nicht überbesorgt sind. Es ist zu beachten, dass rein rechtlich die Schweigepflicht auch gegenüber Ehepartnern und Eltern erwachsener Kinder gilt.

Deshalb ist es hilfreich, vor einem ausführlichen Gespräch mit den Angehörigen die Zustimmung des Patienten einzuholen. Wenn dies nicht möglich ist, z.B. bei einem bewusstlosen oder aus anderem Grund nicht geschäftsfähigen Patienten und diagnostische und therapeutische Maßnahmen zu planen sind, ist es hilfreich, möglichst bald eine Betreuung einzurichten. Dann haben wir einen einzigen Ansprechpartner, mit dem wir alles besprechen können und müssen, was für den Patient wichtig ist. Wenn keine juristisch klare Rechtssituation besteht, rate ich zu großer Zurückhaltung bei jedem Gespräch, auf das wir uns einlassen. Geben Sie auch Ihren Mitarbeitern klare Anweisung über das Verhalten am Telefon und bei persönlichen Gesprächen auf der Station. Weisen Sie auch Ihre Gesprächspartner, die unbefugt Auskunft haben wollen, auf die Schweigepflicht hin, und halten Sie sich daran. Es lässt sich aber manchmal nicht vermeiden, mit Angehörigen ein Gespräch zu führen, besonders wenn wir bei einem akut kranken Patienten eine Anamnese erheben sollen oder notfallmäßig Eingriffe nötig sind.

Ein Ausweg aus dem Dilemma kann sein, das Gespräch als „Einbahnstraße“ zu führen: Wir fragen, und der Angehörige antwortet, und wir geben keine oder nur die allernötigsten Einzelheiten preis. So bin ich auch schon vorgegangen, als Angehörige „in großer Sorge“ mich über einen meiner Patienten informieren wollten und Auskunft erbaten. Ich ließ mich informieren, bedankte mich für die Information und bat um Verständnis, dass ich diese nicht kommentieren wollte.

Meist ist es aber so, dass der Patient mit einem Angehörigen in die Sprechstunde oder die Klinik kommt. Dadurch entsteht juristisch gesprochen „ein stillschweigendes Einverständnis des Patienten im Rahmen der Sozialadäquanz“: Der Patient stimmt einem Gespräch über seine Erkrankung zu, indem er die Anwesenheit des Angehörigen bei Untersuchung und Besprechung stillschweigend akzeptiert. Das besagt aber nicht, dass wir in Zukunft mit diesem Angehörigen alles Weitere auch dann besprechen dürfen, wenn der Patient nicht dabei ist. Aber wir können den Patienten fragen, ob er damit einverstanden ist. Diese Zustimmung zu dokumentieren, halte ich für wichtig, weil sie uns Ärzte vor späteren Vorwürfen über eventuelle Indiskretion schützt.

Wenn geklärt ist, dass wir mit einem bestimmten Angehörigen über alle krankheitsrelevanten Angelegenheiten reden dürfen oder müssen, sollten wir uns klar abgrenzend und empathisch verhalten. Termine werden vereinbart, eingehalten und zeitlich begrenzt. Es ist besser, solche Gespräche gezielt zu planen und die Angehörigen vorher zu bitten, eine Frageliste vorzubereiten. Dann kann das Gespräch straff und strukturiert ablaufen. Das erfordert aber auch die Disziplin des Arztes! Themen, die nicht strikt zum Patienten gehören, sollten ausgegrenzt werden, sonst ufert das Gespräch aus. Lassen Sie sich nicht von den Angehörigen instrumentalisieren oder in einer Weise steuern, die Ihrem Behandlungsplan entgegen läuft. Vermitteln Sie klar, dass Sie wissen, was Sie mit dem Patienten vorhaben. Zeigen Sie dabei empathisches Verständnis für die Sorge der Angehörigen.

Sie können diesen Angehörigen außerdem bewusst machen, welches Spiel sie spielen: „Stellen Sie sich vor, jemand aus Ihrem Verwandten- oder Bekanntenkreis würde sich so nach Ihnen erkundigen und über Ihren Zustand genauer Auskunft haben wollen. Wäre Ihnen das recht?“ Das hilft meist, um diese Angehörigen in Schranken zu weisen.

Wie Sie mit Besserwissern, Fordernden und Distanzlosen umgehen können, haben wir schon in anderen Kapiteln besprochen.

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

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