Memento mori!
frei übersetzt: Erinnere dich, dass du sterblich bist!
Diesen Satz musste ein Sklave dem siegreichen Feldherrn bei dessen Triumphzug in Rom immer wieder ins Ohr sagen.
27.1 Die Möglichkeiten des Betroffenen in der Krise
Wie ich schon bei der Gleichung
Krise = Chance + Gefahr
ausführte, muss der Patient eine ganz persönliche Entscheidung fällen, unter welchen Gesichtspunkten er seine Krankheit betrachtet. Will er die Realität annehmen? Letztlich muss er sie annehmen. Es hängt jetzt nur noch davon ab, wie groß der innere Widerstand ist und welche geistig-seelischen Vorgänge notwendig -die Not wendend!- sind, um diese Annahme zu erreichen.
Der Patient muss seinen Sinn finden in dieser neuen Lebenssituation. Seine Schmerzen werden ihn plagen, bis er sie annehmen kann. Da hilft auch eine noch so gute Schmerztherapie lediglich zur vorübergehenden Befreiung. Der Patient bleibt abhängig vom Schmerzmittel, solange er Schmerzen hat.
Die Isolation ist für viele Menschen ein Schreckgespenst. Alleinsein ist eine Form der Folter, bis der Patient erkannt und erfühlt hat, dass Alleinsein auch All-eins-sein, mit allem eins sein bedeuten kann. Das ist seine Erlösung.
Hilflosigkeit bedeutet für viele Menschen Ausgeliefertsein, Schwachsein und Abhängigkeit. Sie fürchten sich deshalb davor, weil sie gelernt haben, Stärke zeigen zu müssen und anderen nicht zur Last zu fallen. Erst wenn die Patienten die Hilfe der Pfleger und der Nächsten als ein Geschenk annehmen können, fällt dieser Teil der Belastung weg und wird zur Gnade, die sie in ihren letzten Tagen und Wochen genießen dürfen. Das hat Ihnen das Beispiel von Frau Münchinger gezeigt.
27.2. Die Möglichkeiten für die Beziehung in der Krise
Die veränderten Beziehungen zu den Mitmenschen stellen eine völlig neue Herausforderung für alle Beteiligten dar. Gewohntes muss neu überdacht und ge-fühlsmäßig losgelassen werden. Erst wenn das Alte aufgehört hat, kann etwas Neues beginnen. Und wenn etwas Neues beginnen soll, müssen wir etwas Altes beenden. Wer erkannt hat, dass aus der alten Beziehung eine viel reichere und gehaltvollere erwachsen kann, wird es leichter haben, sich in die letzte Phase des Lebens und einer bestehenden Beziehung einzulassen.
Wer von einer Wiedergeburt und einer wechselseitigen Bestimmung füreinander über viele Leben hinaus überzeugt ist, hat ohnehin wesentlich weniger Schwierigkeiten, hier in diesem Leben einen geliebten Menschen loszulassen. Denn er ist überzeugt, dass dieser Mensch in diesem Leben ihm zu beiderseitiger Entwicklung geholfen hat und ihm in späteren Leben wieder begegnen wird. Dann sind Trennungen und Verluste viel leichter zu bewältigen, weil sie lediglich ein Zwischenstadium und keine Endgültigkeit darstellen.
Ich kenne Sterbende, die sich gefreut haben, jetzt gehen zu dürfen, weil sie sich mit ihrem früher verstorbenen Partner schon wieder verabredet hatten.
Der Patient muss eine Antwort auf die Frage nach seiner eigenen Wertigkeit finden. Er muss sich damit auseinandersetzen, was er mit seinem Leben gemacht hat. Wenn er diese Antwort gefunden hat, kann er emotional besser loslassen.
Markus Commerçon, ein AIDS-Kranker, der über sein Leben ein sehr ehrliches BuchFN verfasst hat, schreibt dazu als Leitwort:
Es ist unwichtig, ob ein Mensch gesund oder krank ist. Entscheidend ist vielmehr, was er aus Gesundheit oder Krankheit macht.
Ein scheinbar Gesunder, der täglich 40 Zigaretten raucht, ist eben nicht gesund, sondern schon krank, weil er süchtig ist. Er macht seinen Körper kaputt und vernebelt sein Dasein im wahrsten Sinne des Wortes. Ein AIDS-oder Krebs-Kranker, der in seiner Lage eine Chance ergreift, einen Sinn in seinem Leben zu finden, geht den Weg ins Leben bewusst durch seine Krankheit, nützt die Lage und wächst daran.
FN Markus Commerçon: AIDS – mein Weg ins Leben. Bastei-Lübbe-Taschenbuch Band 61363
Copyright Dr. Dietrich Weller
Der Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“