Die Chancen für den Begleiter

 

Der Tod ist ein Kunstgriff der Natur, viel Leben zu haben.

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), deutscher Dichter und Dramatiker

Der Tod ist eine Bruchstelle, kein Ende.

Ernst Jünger (*1895), deutscher Philosoph

28.1 Allgemeine Gedanken

Wir können bei dem Umgang mit Sterbenden und ihren und unseren Gefühlen Erkenntnisse gewinnen, die uns lehren, im Alltag mit einem anderen Bewusstsein zu leben. Im Angesicht des Sterbenden wird uns die Endlichkeit unseres eigenen Lebens klar vor Augen geführt. Und wir werden vor die Wahl gestellt, diese Zeit in Verzweiflung und unbewusst zu verbringen oder bewusst und gut zu gestalten. Es wird mir deutlich, dass in dieser Sekunde der Rest meines Lebens begonnen hat! Das ist nicht nur ein dramatisierender Gedanke, sondern er macht das Geschehen für uns selbst aktuell und plastisch, so dass wir nicht einfach gedankenlos daran vorbeigehen können.

Wir erkennen, dass wir sozusagen alle im gleichen Boot sitzen und für uns dieselben Gesetzmäßigkeiten gelten. Es ist deshalb sinnvoll, dass wir uns damit intensiv und konstruktiv beschäftigen. Wenn wir unsere Gefühle wie Angst, Sorgen und Trauer echt und unverfälscht zeigen, erleichtert uns das, und die Beziehungen zu unseren Mitmenschen werden besser, tiefer und ehrlicher. Sich mit dem Gedanken der Trennung von Gewohntem im Alltag zu beschäftigen, schenkt uns die Möglichkeit, auch endgültige Trennungen besser zu verstehen und gelöster zu erleben.

Elisabeth Kübler Ross formulierte das so:

„Wer seinem endgültigen Tod ins Gesicht sehen kann und ihn versteht, kann vielleicht auch lernen, sich jeder Veränderung, die in seinem Leben auftritt, zu stellen und sie produktiv zu meistem. Dadurch dass einer willens ist, das Unbekannte zu riskieren, und sich auf unbekanntes Gelände zu wagen, begibt er sich auf die Suche nach seinem eigenen Selbst, dem letzten Ziel der Reife. Dadurch dass einer über sich hinausgreift und sich im Dialog den Menschen anvertraut, kann seine individuelle Existenz trans-zendieren73 und mit sich selbst und den anderen eine Einheit bilden. Ein Leben in dieser Hingabe läßt einen dem endgültigen Ende mit Frieden und Freude und in dem Bewusstsein entgegensehen, sein Dasein sinnvoll verbracht zu haben.“FN

Sterben ist ein alltäglicher Vorgang, der in verschiedenen Variationen in jedem Leben mehr oder weniger schwerwiegend dauernd vorkommt und zu meistern ist. Dazu gehören alle Trennungen, Abschiede und Veränderungen. Auch der Schlaf ist eine Form von Trennung vom Gewohnten, vom bewussten Leben. Er wird von manchen Psychologen als der „kleine Tod“ bezeichnet. Sich ihm hinzugeben, erfordert das Ur-vertrauen, im Schlaf während der eigenen Unfähigkeit, eingreifen und handeln zu können, beschützt zu sein und wieder aufzuwachen.

Reifen und sterben sind Vorbedingungen und grundlegende Vorgänge des Lebens. Ihnen eine Grenze zu setzen, bedeutet als ein bedrücktes und beschränktes Wesen zu existieren. Und gerade unter Menschen, die zusammen leben und einander lieben, gehört es zur Liebe, sich immer wieder auch an die natürlichen Grenzen dieses Lebens zu erinnern.

28.2 Ein alter Brauch

Zu den Zeiten, als die Landwirtschaft noch sehr wesentlich zum Broterwerb beigetragen hat und ganze Familien tagsüber auf dem Feld waren, gab es im Hohenlohischen, Fränkischen und teilweise auch im Schwäbischen einen Brauch: Wenn die Familie vom Feld zurück war und die Abendglocken vom Kirchturm klangen, betete das Familienoberhaupt mit der Familie:

Liebster Mensch, was mag’s bedeuten, dieses späte Abendläuten? Es bedeutet abermals deines Lebens Ziel und Zahl. Dieser Tag hat abgenommen, drum, o Mensch, so schicke dich, dass du sterbest seliglich!

Die letzte Zeile könnte auch heißen:

dass du lebest seliglich!

Wichtig an dem Gedicht ist neben dem Inhalt gerade die Tatsache, dass das Gebet nicht an Gott, sondern als Mahnung und Wunsch an die liebsten Menschen im Haus gerichtet war. Ich denke, es ist wichtig, dass wir auch in unserem Alltag einander immer wieder daran erinnern, wie rasch und unvorhergesehen diese Gemeinschaft beendet werden kann.

 


73 transzendieren = sinngemäß „in einen anderen Bereich führen“

FN Kübler-Ross: Reif werden zum Tode. GTB-Sachbuch 1023

Copyright Dr. Dietrich Weller

Der Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

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