Gemeinsam sind wir stark.
ÖTV-Wahlspruch
Organisation ist ein Mittel, die Kräfte des Einzelnen zu vervielfältigen.
Peter F. Drucker (*1909), amerikanischer Unternehmensberater österreichischer Herkunft
Vereinigung ist das Mittel, alles zu können.
Johann Pestalozzi (1746-1827), schweizerischer Pädagoge
10.1 Die Angehörigen informieren
Es genügt nicht, nur den Patienten zu informieren. Wir müssen auch die Angehörigen und die anderen Helfer soweit unterrichten, wie es nötig ist, damit sie kooperativ sein können. Dazu braucht man als Therapeut bei erwachsenen Patienten die Erlaubnis des Kranken.
Offene Gespräche mit den Angehörigen in Anwesenheit des Patienten vermitteln ihnen mehr Vertrauen, Zuversicht und Geborgenheit. Die Angehörigen müssen ausführlich über mögliche Komplikationen und die nötigen Reaktionen informiert werden. Das gilt besonders, wenn sie mit der Pflege und Versorgung des Patienten befasst sind und / oder täglichen Umgang mit ihm haben. Es erzeugt auch mehr Sicherheit, wenn man solche Gespräche richtig führt. Wir können davon ausgehen, dass die Angehörigen menschlich gut und sachlich korrekt mit dem Kranken umgehen wollen und Fehler in der menschlichen und medizinischen Behandlung durch die Angehörigen in erster Linie durch fehlende oder mangelhafte Information auftreten. Wenn Sie als verantwortliche Angehörige nicht zufrieden sind mit den Informationen des Therapeuten, sollten Sie ihn darauf ansprechen.
Lassen Sie sich als Angehörige vom Therapeuten konkrete Vorschläge machen, wie Sie dem Patienten helfen können. Zum Beispiel sollten Sie folgende Fragen eindeutig klären:
– Wie werden die Medikamente am besten eingegeben?
– Welche Medikamente müssen wann in welcher Menge eingenommen werden?
– Gibt es dafür eine eindeutige schriftliche Festlegung des Arztes?
– Welche Untersuchungen können und sollen die Angehörigen regelmäßig vornehmen?
– Auf welche Veränderungen müssen sie besonders achten?
– Welche Notfallmaßnahmen können Angehörige einleiten?
– Welche Vorschläge über Ernährung sind wichtig?
– Wie soll das Zimmer des Kranken gestaltet werden?
– Welches Bett ist am günstigsten?
– Welche Literatur ist für den Patienten und für die Helfer empfehlenswert?
– Welche Musik kann dem Kranken helfen, seine Stimmung zu stützen?
– Ist es ratsam, Spezialinstitutionen einzuschalten und zu nützen wie
Blindenbibliothek, Fachkliniken, Literaturdienste zu bestimmten Themen, Fachge-
schäfte usw.?
– Sind Buchkassetten zum Hören oder entsprechend aufbauende Videofilme sinnvoll?
– Ist es gut, die Sozialstation um Hilfe zu bitten?
– Brauchen Sie Nachbarschaftshilfe?
– Möchten Sie den zuständigen Geistlichen informieren?
– Wie viel und welchen Besuch kann der Patient bekommen?
– Helfen dem Kranken orthopädische Hilfsmittel?
– Welche Selbsthilfegruppen wissen Bescheid über die Krankheit und bieten Hilfe an?
– Welches Verhalten dem Kranken gegenüber ist empfehlenswert?
– Welche Unterstützung bekommen Sie im Rahmen der Pflegeversicherung?
– Wer bezahlt die Rechnungen?
– Was kostet die Therapie?
– Welche Eigenanteile muss ich bezahlen?
– Wie kann ich durch Aufzahlen bei kassenunüblichen Leistungen eine umfassendere
Behandlung bekommen?
10.2 Vorschläge für die Arbeit im Team
Eine Gruppe von Menschen, bestehend aus Angehörigen, Nachbarn und anderen, die gerne etwas für den Kranken und die Familie tun möchten, sind eine ideale Zusammenstellung von Helfern für Sie und den Kranken, den Sie gut versorgen wollen. Sammeln Sie gezielt Informationen, und entwickeln Sie gemeinsam eine Strategie, wer was macht, und wer wofür verantwortlich ist. Das zeigt Ihnen Aktionsmöglichkeiten. Sie erkennen, dass Sie etwas Sinnvolles tun können, statt hilflos zuschauen zu müssen, was mit Ihnen und dem Patienten geschieht. Dadurch verbessern Sie Ihre Lage, denn Untätigkeit, Unsicherheit und Angst sind schwieriger zu ertragen als die Gewissheit, mit einer schwierigen Krankheit fertig werden zu müssen und aktiv etwas tun zu können. Zielgerichtete Aktivität macht hoffnungsvoll!
Nehmen Sie sich zu Hause Zeit, um Ihre Fragen an den Arzt zu notieren, bevor Sie in seine Sprechstunde gehen. Vereinbaren Sie mit der Arzthelferin einen etwas längeren Gesprächstermin, sonst bringen Sie den Arzt unter noch mehr Zeitdruck als er ohnehin schon hat. Zeigen Sie ihm den Fragekatalog, und besprechen Sie Punkt für Punkt. Wenn Sie sich auf Ihr Gedächtnis verlassen, wird es Ihnen wahrscheinlich in Ihrer Aufregung einen Streich spielen, und Sie werden sich zu Hause ärgern, was Sie alles von seinen Antworten vergessen oder gar nicht erfragt haben.
Schreiben Sie die Informationen des Arztes wie zum Beispiel die Dosierungen von Medikamenten und Anwendungen genau auf, wenn der Arzt Ihnen nicht von sich aus eine klare schriftliche Verordnung gibt. Oder nehmen Sie die Gespräche mit ihm auf Tonband auf. Wenn Sie etwas nicht verstehen oder beunruhigt sind, ist es unbedingt nötig, den Arzt danach zu fragen. Vielleicht ist ihm gar nicht klar, wie unklar die Zu-sammenhänge für Sie sind.
Untersuchungen haben ergeben, dass Patienten beim Verlassen des Sprechzimmers in der Arztpraxis sich bereits an die Hälfte des Gesprächs nicht mehr erinnern können, und zu Hause wissen sie durchschnittlich noch zehn Prozent davon. Ich erlebe es häufig, dass Patienten, denen ich im Sprechzimmer dreimal hintereinander langsam und mit zählenden Fingern erklärt habe, dass sie das Medikament morgens, mittags und abends je 1 x nehmen sollen, draußen die Arzthelferin an der Rezeption fragen, wie sie denn die Tabletten einnehmen sollten.
Ich habe im Laufe der Jahre die Erfahrung gemacht, dass ich mit solchen Patienten und Angehörigen sehr gut zurechtkomme, die klare Fragen stellen, Notizen machen und sich dann auch an die Antworten halten. Sie sind kompetente Mitarbeiter im besten Sinne, besonders natürlich im Interesse des Patienten. Ich finde es gut, wenn ich eine Frageliste durchsprechen kann. Das gibt auch mir das Gefühl, zielsicher und am Bedarf des Patienten und der Angehörigen zu arbeiten. Übrigens braucht es insgesamt wesentlich weniger Zeit, wenn wichtige Fragen einmal richtig besprochen werden, als immer wieder Fehler nicht zu erkennen oder nur halb zu korrigieren.
Verzetteln Sie sich nicht in Überaktivismus. Es ist sinnvoll und kraftsparend, meist auch kostensparend, wenn einzelne Handlungen sorgfältig überlegt und im Team besprochen werden. Oft wissen die Teammitglieder günstigere Möglichkeiten, das Ziel zu erreichen, wenn in Ruhe überlegt wird und Beziehungen genützt werden können.
Wenn Sie nicht neben dem Kranken schlafen und trotzdem mit ihm auch nachts verbunden sein wollen, hilft Ihnen eine einfach zu installierende Babyphon-Sprechanlage aus dem nächsten Baumarkt oder Kinderfachgeschäft. Sie überträgt auch leise Geräusche wie Husten oder Räuspern und kann bei Bedarf abgeschaltet werden. Diese Anlage können Sie auch kurzzeitig dem Nachbarn geben, wenn Sie nicht erreichbar sind. Ein tragbares Telefon ermöglicht es Ihnen, für Besorgungen außer Haus zu gehen. Kurzwahlnummern und Tasten mit großen Ziffern sichern die leichte Bedienung für den Patienten.
Die Teammitglieder brauchen Bezugspersonen, mit denen sie ihre eigenen Ängste und Sorgen bearbeiten können, zum Beispiel den Hausarzt, Freunde und Familienmitglieder. Deshalb sind regelmäßige Treffen und Gespräche für die Teammitglieder sehr wichtig, um deren Konflikte und Stimmungstiefs, ihre Unsicherheiten und Fragen zu bearbeiten und sie zu stützen. Nur mit Teamarbeit kann eine gute Versorgung des Patienten erfolgreich werden. Deshalb muss klar sein, wer das Team führt. Auch ohne domi-nierend und autoritär zu sein, können Eltern die Kinder führen und Grenzen setzen. Im besten Fall sind Eltern Partner, die einander und die anderen Teammitglieder in ihrer Individualität achten und deshalb sorgsam und verständnisvoll miteinander umgehen.
Die Familie muss gemeinsam eine Lösung finden. Einzelaktionen sind meist nicht so gut. Das Team kann durch Nichtfamilienmitglieder erweitert werden, zum Beispiel durch Nachbarn, Freunde, Helfer von der Sozialstation oder durch Nachbarschaftshilfe oder Be-suchsdienste über die Kirche. Es gibt viele Menschen, die gerne stundenweise Hilfe übernehmen, zum Beispiel auch Rentner, die geistig und körperlich noch gut dazu in der Lage sind und sich damit einen neuen Lebensinhalt verschaffen.
Machen Sie eine Liste der Dinge, die erledigt werden müssen, und um die Sie fremde Menschen bitten können: Einkäufe, Fahrten, Kochen, Vorlesen, Begleitung zum Arzt oder zu Untersuchungen. Ein Ausflug in den nächsten Park oder ein langsamer Spaziergang um den Häuserblock kann von einem Mitglied des Teams be-gleitet werden. Gemeinsame Aktivitäten wie Sport, Vereinstätigkeiten, musizieren, basteln und andere unterstützen den Teamgeist und motivieren auch den Patienten zu neuen Leistungen. Auch hier gilt: Nur wer genau informiert ist, kann helfen und sich eine bestimmte Tätigkeit heraussuchen.
Während einer schweren Krankheit müssen die Aufgaben des Kranken sorgfältig durch einen Stellvertreter erfüllt werden, damit der Kranke Zeit und Ruhe hat, gesund zu werden. Sterbende können besser loslassen und sich auf ihren Weg vorbereiten, wenn sie wissen, dass ihre Verantwortung für die Lebenden von einem anderen Menschen richtig übernommen wurde. Die Finanzen der Familie müssen so organisiert und die Geschäfte des Kranken so geführt werden, dass er sie entweder nach der Genesung in möglichst gutem Zustand wieder übernehmen kann oder sie die Hinterbliebenen nach dem Tod des Kranken in vernünftiger Weise weiterführen können.
Drängen Sie Ihre Hilfe bei Bekannten oder Verwandten nicht auf, sondern bieten Sie an, diese oder jene Hilfe gerne zu übernehmen. Warten Sie ab, ob das Angebot angenommen wird. Wenn Sie eine Aufgabe übertragen bekommen, die Sie gut und gerne erledigen können, setzen Sie sich im Rahmen Ihrer Möglichkeiten beherzt ein. Beachten Sie dabei die Grenzen Ihrer körperlichen und seelischen Kräfte. Sie lernen damit auch einen natürlichen Umgang mit der Krankheit und dem betroffenen Menschen.
Wichtig ist, dass jedes Teammitglied einen klar abgegrenzten Bereich übernimmt. Das bedeutet, dass jeder für seine Aufgaben zuständig ist, selbständig denken und handeln kann und seine Meinung respektiert wird. Wenn jeder im Team seine guten Eigenschaften und Begabungen einbringen kann, hat er die beste Möglichkeit, damit erfolgreich zu sein und dem Kranken optimal zu nützen und für sich selbst ein befrie-digendes Gefühl zu erhalten. Dieses wiederum wird ihn motivieren, seine Aufgabe im Team weiter zu verrichten. Viele Menschen ziehen sich nur deshalb von Schwerkranken zurück, weil sie nicht wissen, was sie konkret tun und wie sie sinnvoll helfen können. Dieser Rückzug wird Ihnen oft von den Patienten oder ihrer Familie als fehlendes Interesse ausgelegt.
Wenn Sie Arbeit an andere Teammitglieder delegieren, müssen Sie gleichzeitig die damit verbundene Verantwortung delegieren! Wenn Sie nur die Arbeit delegieren und für sich selbst das Lob beanspruchen, kommen sich die Mitglieder ihres Teams wie unselbstän-dige, abhängige Handlanger vor, und das reduziert ihre Motivation erheblich! Wenn Sie als Teammitglied aber die Verantwortung für Ihre Tätigkeit, Ihren Beitrag spüren, Mitspracherecht genießen und gelobt und konstruktiv geleitet und sinnvoll kritisiert werden, entwickeln Sie mehr Selbstwertgefühl, Motivation und persönliches Wachstum, während Sie helfen.
10.3 Der Kranke entscheidet mit!
Wenn Sie in der Familie Entscheidungen treffen und eine Strategie für den Kranken entwickeln, soll der Kranke ein wesentliches Entscheidungsrecht haben. Das setzt voraus, dass er und alle Teammitglieder in die Informations- und Entscheidungsprozesse so weit wie möglich einbezogen werden. Auch das ist ein Grund, ihn über Dinge, die ihn direkt betreffen, richtig und umfassend zu informieren. Wenn Sie das nicht tun, bevormunden oder entmündigen Sie ihn.
Das bedeutet auch, dass der Patient in der Krankheit seine Eigenständigkeit behält, für sich verantwortlich ist und sich nicht wie ein Kleinkind behandeln lassen muss. Je mehr er beschützt wird, je mehr ihm alles abgenommen wird, um so hilfloser und schwächer wird er; um so deutlicher lernt er, dass er abhängig und unfähig ist. Dann fühlt er sich noch kränker als er objektiv ist.
So regrediert der Patient, das heißt er geht bewusst oder unbewusst in frühere Entwicklungsstadien zurück, um wieder hilflos zu sein und damit Hilfe anzufordern. Der Patient reagiert so, weil er es nicht gelernt hat, anders mit seiner Situation umzugehen. Es ist deshalb nicht sinnvoll, ihm Vorwürfe zu machen. Richtig ist es, ihm Wege zu zeigen, wie er sich aus seiner Unselbständigkeit selbst herausholen und damit sein schlechtes Selbstwertgefühl verbessern kann. Bei den Angehörigen wird durch die Regression des Patienten das Helfer-Syndrom aktiviert, das ich schon ausführlich besprochen habe.
10.4 Beispiele für tröstende und natürliche Begleitung durch Kinder
Auch Kinder können ins Team eingebunden werden. Sie können je nach Alter einkaufen, im Haushalt mithelfen, dem Patienten vorlesen, mit ihm spielen, seine Arme massieren oder ihn füttern. Und Kinder können etwas tun, was wir Erwachsenen in solchen schwie-rigen Momenten mit Kranken verlernt haben: Sie können herzlich lachen und fröhlich sein und dem Kranken damit das einfachste Zeichen von Hoffnung und Alltagsleben vermitteln. Kinder gehen mit diesen Aufgaben oft viel natürlicher und unbekümmerter um als Erwachsene. Wir Erwachsenen können von ihrer Unverfälschtheit und ihren klar geäußerten Gefühlen viel lernen, wenn wir sie nicht bereits zu sehr (v)erzogen haben, ihre Gefühle zu verändern und nur noch teilweise oder gar nicht mehr wahrzunehmen.
Herr Basler, von dem ich schon erzählt habe, war durch schwere Schmerzen bei einem bösartigen Tumor mit Knochenmetastasen weitgehend ans Bett gefesselt und erlebte bei vollem Bewusstsein, wie die beiden zweijährigen Zwillingsenkelkinder ihm ihren kindlichen Frohsinn ins Krankenzimmer brachten. Sie spielten und lachten mit ihm, sangen ihm vor und erzählten ihre kindlichen Geschichten. Ich weiß, dass diese Stunden mit den beiden Mädchen eine wunderbare Abwechslung für ihn waren, die er sehr genoss.
Als der Großvater im Sterben lag und unter der großen Sommerhitze litt, beschlossen die beiden Enkelinnen von sich aus, kleine Waschlappen anzufeuchten und ihn regelmäßig abzukühlen. Sie fächelten ihm Luft zu und sangen mit ihren mageren Kinderstimmchen „Wind, Wind, wehe!“ und ruderten mit ihren Armen wie Windmühlenflügel. Vielleicht belächeln Sie diese „Kinderei“, aber der Großvater war dankbar und spürte die Liebe. Als die eine Enkelin ihm am Tag vor seinem Tod einen Kuss auf den Ellbogen gab, konnte er nur noch mit schwacher Stimme sagen: „Reicht nicht!“ Da bedeckte sie seinen ganzen Arm mit Küssen, und ihr Opa schenkte ihr ein letztes Lächeln.
Die älteste Tochter von Herrn Basler, also die Mutter der beiden Enkelinnen, sagte mir in einem Gespräch zweieinhalb Jahre nach dem Tod von Herrn Basler: „Die allerwichtigste Hilfe in der ganzen Krankheitsphase waren die beiden Kinder. Sie haben ihren Opa so sehr motiviert, sich immer wieder aufzuraffen und mit ihnen und dadurch mit dem Leben zu beschäftigen. Er ist ja bis zehn Tage vor seinem Tod aufgestanden, unter Schmerzen zwar und mit erheblichen Mühen, aber es war ihm wichtig, mit den Kindern zu spielen und für sie da zu sein. Und die Kinder haben eine ganze plastische und intensive Erinnerung an diese Zeit, obwohl sie damals noch sehr klein waren. Auch heute reden sie oft von ihrem Opa und wollen ihn auf dem Friedhof besuchen.“
Ein anderes eindrucksvolles Erlebnis mit einem Kind hatte ich während meiner Studentenzeit in Mannheim, als ich regelmäßig Nachtwache in der damals größten Abteilung Deutschlands für Brandverletzte in Ludwigshafen machte. Auf meiner Station lebte schon seit Monaten Hikmet, ein neunjähriger türkischer Junge. Er war auf einen Starkstrommast geklettert und hatte sich schwerste lebensbedrohliche Brandwunden zugezogen. Bei dem Unfall hatte er einen Herzstillstand erlitten und ist glücklicherweise an Ort und Stelle wiederbelebt worden. Als ich ihn kennen lernte, ging es ihm im Vergleich zu seinen schweren Verletzungen und stark bewegungsbehindernden Narben schon sehr gut. In der Klinik war er noch, um die schweren narbigen Veränderungen in den Gelenkbereichen nach und nach operativ zu entfernen und plastisch zu decken, damit er sich wieder normal bewegen konnte.
So hatte er sich hervorragend eingelebt und war mit seiner vergnügten und hilfsbereiten Art eine echte Hilfe für die Schwestern und die Patienten. Hikmet begrüßte jeden Kranken auf der Station, sprach allen gut zu und tröstete sie vor und nach den Operationen. Er fütterte die Kranken, die Handverbände hatten oder aus anderen Gründen nicht selbst essen konnten. Ein neuer Patient, der mit seinen lebensbedrohlichen Verletzungen aufgenommen und ganz verzweifelt war, sagte nach einem Besuch von Hikmet zu mir: „Dieser Junge ist wie eine Sonne auf der Station!“
Ich hatte immer den Eindruck, dass Hikmet auf seine kindlich-weise Art trotz oder gerade wegen seinem eigenen schweren Schicksal ein großartiger Seelsorger war. Er war immer präsent, nie aufdringlich; er konnte zuhören und verhielt sich auf wunderbare Weise klug, natürlich und herzlich. Nur manchmal, wenn er Heimweh nach seiner Familie hatte, die in einer weit entfernten Stadt wohnte und deshalb sehr selten zu Be-such kommen konnte, zog er sich zurück und weinte.
Aber er hatte eine gute Gabe, sich wieder selbst zu motivieren und in eine bessere Stimmung zu versetzen. Auch wenn eine neue Operation anstand, verabschiedete sich Hikmet ganz locker morgens von mir, war guter Dinge und begrüßte mich abends wieder, wenn ich zum Dienst kam. Ich erlebte einige Operationen mit ihm, und jedesmal zeigte er stolz seine neuen Verbände und begann mit neuem Fleiß seine Bewegungsübungen.
So war es für uns alle ganz normal, dass er eines Morgens zu seiner 18. Operation vorbereitet wurde. Als ich abends zur Stationsübergabe kam und mich auf ihn freute, war ich sehr erschrocken, da alle Schwestern weinend um den Tisch saßen. Als ich nach dem Grund fragte, erfuhr ich, dass Hikmet völlig unerwartet auf dem Operationstisch einen Herzstillstand bekommen hatte und trotz sofortiger Wiederbelebungsmaßnahmen verstorben war. Auch ich war zutiefst betroffen von dieser Nachricht. Und ich habe bis heute regelmäßig an ihn gedacht.
Während ich diesen Text schreibe, fällt mir ein Zitat von Albert Schweitzer ein:
„Das schönste Denkmal steht im Herzen der Mitmenschen.“
Für Hikmet steht ein Denkmal in meinem Herzen.