Breaking The Silence – Die sogenannte israelische Verteidigungspolitik

Gedanken aus dem Buch und über das Buch
„Breaking The Silence“, Econ-Verlag, ISBN 978-3-430-20147-6

Im Juni 2004 wurde von etwa sechzig ehemaligen Soldaten der israelischen Verteidigungsarmee (Zawa Hagan Leisrael, kurz Zahal) eine Ausstellung gezeigt, die anhand schriftlicher Augenzeugenberichte und Fotografien ihren Wehrdienst in den besetzten Gebieten in Hebron darstellte. Diese Ausstellung führt zur Gründung der Organisation Breaking The Silence – Schweigen brechen. Die Aufgabe der Organisation besteht darin, die alltägliche Wirklichkeit der Besatzung zu schildern, um zu zeigen, wie weit sie entfernt ist von der offiziellen Darstellung des Dienstes. Die Organisation interviewte Männer und Frauen, die seit September 2000 in der israelischen Armee dienten. Die Berichte werden veröffentlicht in den Medien und bei Vorträgen.

Das Buch Breaking The Silence erschien auf Deutsch und Englisch 2012, der hebräische Originaltitel Kibush HaShtachim 2010. Es enthält 146 Berichte von 106 Augenzeugen und ist repräsentativ für die Daten, die in insgesamt 800 Interviews gesammelt wurden. Die Augenzeugen entstammen allen Schichten der israelischen Gesellschaft und haben in allen Einheiten der Armee gedient, die in den besetzten Gebieten arbeiten. Es handelt sich um männliche und weibliche Angehörige unterer und oberer Dienstgrade. Die Aussagen wurden auf Richtigkeit überprüft und ohne Namen der Zeugen veröffentlicht.

Der offizielle Zweck des Einsatzes der Armee in den besetzten Gebieten ist die Verhinderung von Anschlägen auf Israelis durch Palästinenser, wird also als rein defensiv beschrieben. Die Soldaten jedoch berichten aber über eine offensive Politik, die Landenteignung, Verbreitung von Angst und eine wachsende Kontrolle über die palästinensische Bevölkerung zum Ziel hat.

Bemerkenswert ist schon das Vorwort des Buchs. Avi Primor, der frühere Botschafter Israels in Deutschland, 2003 mit dem Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband ausgezeichnet, seit 2004 an der Privatuniversität Interdisciplinary Center (IDC) Herzliya tätig, schreibt, dass die meisten Israelis den Kopf in den Sand stecken vor der tatsächlichen Politik der Regierung.

Er zitiert Nietzsche: „Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. – Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“

Primor lobt die Zivilcourage der Zeugen, die ihre Berichte öffentlich machen. Israel sei der einzige Staat, dem man regelmäßig mit Vernichtung droht, nicht nur vom Iran. Breaking The Silence ist von der Gerechtigkeit der israelischen Verteidigungsbemühungen überzeugt, will aber, dass, wie es die Bibel verlangt „vor allem unser Lager sauber und rein bleibt“.

Die Schilderungen der Soldaten zeigen in allen Details, dass die Aktivitäten nicht nur der Verteidigung dienen, sondern zum Auseinanderbrechen der palästinensischen Gesellschaft führen und einer palästinensischen Unabhängigkeit die Grundlage entziehen. Die in der israelischen Gesellschaft verbreitete Meinung, das Handeln der Soldaten diene nur dem Schutz der Israelis in diesen Gebieten, wird durch die Aussagen der Soldaten dramatisch widerlegt.

Die Heuchelei der offiziellen Politik wird mit für Politiker typischen Euphemismen dargestellt, die in vier Überschriften aufteilbar sind.

  1. Vorbeugung feindlicher terroristischer Aktivitäten (sikkul)

Bei den Augenzeugenberichten wird klar, dass jede militärische Gewaltanwendung als vorbeugend gilt, weil grundsätzlich jeder Palästinenser und jede Palästinenserin unter dem Verdacht stehen, Terroristen zu sein und eine Bedrohung für den Staat darzustellen. Damit wird offiziell auch jede Gewalt gerechtfertigt: Einschüchterungsmaßnahmen, Misshandlungen von Palästinensern an Kontrollpunkten, Beschlagnahme von Eigentum, kollektive Strafen wie Raketenangriffe, Grenzschließungen, Massenverhaftungen, ständiges Ändern von Vorschriften, Unterbindung freier Fortbewegung durch provisorische Kontrollposten werden als vorbeugend und damit als defensiv deklariert.

2.       Trennung von Israel und der palästinensischen Bevölkerung (hafradah)

Der Staat geht davon aus, das beste Mittel für eine Trennung zwischen Israelis und Palästinensern sei eine Mauer zwischen den Völkern. Das sagte schon der Begründer der zionistischen Bewegung Vladimir Jabotinsky, 1923(!): „Zyonistische Kolonisierung …. muss entweder beendet oder gegen den Willen der eingeborenen Bevölkerung durchgeführt werden. Diese Kolonisierung kann also nur weitergeführt und entwickelt werden unter dem Schutz einer Macht, die von der lokalen Bevölkerung unabhängig ist – hinter einer eisernen Mauer, die die eingeborene Bevölkerung nicht durchbrechen kann.”

Durch die Maßnahmen der Armee werden aber auch die palästinensischen Gemeinschaften voneinander getrennt. Dadurch kann Israel die Palästinenser besser kontrollieren. Viele Verkehrskontrollpunkte und willkürliche Veränderungen der Grenzen erhöhen die Schikane für die palästinensische Bevölkerung. Der Verwaltungsaufwand mit Passierscheinen und aufwändigen Kontrollen schreckt die Bevölkerung ab. Palästinensern ist es auch verboten, die palästinensischen, von Israel besetzten Gebiete zu betreten.

Es gibt ein israelisches Gesetz, durch das palästinensisches Land, das drei Jahre lang nicht bebaut wurde, an den israelisches Staat fällt. Damit ist klar, was passiert, wenn die Palästinenser durch moderne Siedlungspolitik an der Bestellung ihrer Felder gehindert werden. Man kann auch sagen, dass der israelische Staat sich fürsorglich um die Bewirtschaftung des Landes kümmert, weil die Palästinenser dazu nicht in der Lage sind. Das wäre die zynische Formulierung.

Auch das militärische Prinzip Präsenz zeigen soll der Einschüchterung dienen: Soldaten marschieren nachts in ein besetztes Gebiet, schießen Blendgranaten oder andere Munition ab, wecken und kontrollieren Schlafende, stören die Routine – nur um die Übermacht zu demonstrieren und Angst zu verbreiten. Die Politik der Trennung wird als Methode des Teilens und Herrschens entlarvt.

Die Ausdehnung der israelischen Souveränität ist dadurch gewährleistet. Die Trennung ist also ein Mittel für Kontrolle, Vertreibung und Annexion.

Ergänzende Bemerkungen, die nicht im Buch stehen:

  • Eine Nachricht von dpa/AFP vom 26.08.2013 besagt, dass laut der Menschenrechtsorganisation Betselem seit 1967 im Westjordanland 125 offizielle Siedlungen errichtet wurden und etwa 100 von Israel nicht genehmigte „wilde“ Siedlungen, die meist nachträglich als Siedlungen legalisiert werden.
  • Das israelische Staatsgebiet ist durch diesen Landraub inzwischen fünfmal so groß wie es ursprünglich von der UNO beschlossen war.
  • Wer in Israel öffentlich darauf hinweist, dass der Staat Israel auch durch Landraub, Vertreibung und Ermordung von Palästinensern geschaffen wurde, wird bestraft.

3.       Bewahrung der palästinensischen Lebensstruktur (mirkam chajim)

Offizielle Verlautbarungen behaupten, dass die Palästinenser alle Güter des täglichen Lebens erhalten, dass sie keine humanitäre Not haben und Israel die Lebensstruktur der Palästinenser aufrechterhält. Wenn es überhaupt eine Beeinträchtigung der Palästinenser gäbe, sei sie verhältnismäßig. Allerdings beweist die Fähigkeit Israels, eine humanitäre Krise im Gazastreifen abzuwenden, dass die Besatzungsmacht auch in der Lage ist, eine solche heraufzubeschwören.

Die Berichte der Augenzeugen beweisen, dass Israel die absolute Kontrolle über das palästinensische Volk hat. Dazu gehören tägliche Entscheidungen, wer welchen Kontrollpunkt passieren darf, welche Waren transportiert werden dürfen, welche Geschäfte geöffnet werden, wer seine Schule oder Universität oder Arbeitsstelle erreichen darf, wer medizinische Behandlung erhält … Israel beschlagnahmt täglich palästinensische Güter, entweder um sie zu kontrollieren oder um sie zu behalten. Dazu gehören Vieh, Ackerland, Maschinen, Elektrogeräte. Alles kann der Sektorenkommandant nach Gutdünken beschlagnahmen und für den Staat behalten. Enteignung ist auch bei mobilen Gegenständen ein wichtiges Prinzip der Unterdrückung.

Manchmal beschlagnahmen die Soldaten sogar Menschen – „zu Übungszwecken“, um nachts im Rahmen eines Überfalls auf eine schlafende Familie zu trainieren, wie man schlafende Terroristen festnimmt und verhört. Anschließend können sie wieder freigelassen werden.

4. Durchsetzung von Recht und Ordnung (akifat chok weseder)

Im dualen Herrschaftssystem ist festgelegt, dass die Palästinenser den häufig wechselnden Anordnungen der Militärbehörden unterliegen, die von Soldaten durchgesetzt werden. Die Israelis leben aber nach zivilen Gesetzen, die von der demokratischen Legislative verabschiedet sind und von der Polizei durchgesetzt werden.

Israelische Siedler haben eine aktive Rolle bei der Durchsetzung der Militärherrschaft, indem sie Ämter in der Verwaltung innehaben und an internen Beratungen der Militärs teilnehmen. Zahlreiche Siedler arbeiten im Auftrag des Verteidigungsministeriums als Sicherheitskoordinatoren und haben dadurch direkten Einfluss auf die Infrastruktur der Siedlung und der Umgebung, also auch auf die Zufahrtswege und Grenzkontrollen.

Für die Sicherheitskräfte sind die Siedler keine Zivilisten, die dem zivilen Recht unterstehen, sondern die Siedler sind ein Machtfaktor mit gemeinsamen Expansions-Interessen. Deswegen wird es nicht als Gesetzesverstoß gewertet, wenn Siedler Palästinensern Gewalt antun, weil Gewalt ein Mittel der israelischen Herrschaft über die besetzten Gebiete und deren Bewohner ist.

Die Soldaten beschreiben eindringlich in vielen Protokollen, mit welch sadistischer, rücksichtsloser, Menschen verachtender und kalt trainierter Gewalt der israelische Staat die Palästinenser unterdrückt, um sie zu verängstigen, zu verdrängen und zu eliminieren. Gezielte Ermordungen nachweislich Unschuldiger und Unbewaffneter („weil der da steht und seine Tauben füttert!“), Benützung von Palästinensern als Schutzschilde bei Bergung von Sprengstoff und Bomben („der Nachbar soll es machen!“), Folterungen, Missbrauch von Kindern gehören zu den Alltagsaktivitäten, die genau geschildert werden.

Zynisches Detail: Viele Soldaten zeichnen für jeden erschossenen Palästinenser ein Kreuz auf ihr Gewehr  und für jedes ermordete Kind ein Smilie. Und offensichtlich sind die Soldaten so trainiert, das heißt auch mental und emotional abgehärtet, dass ihnen selten oder wenige Zweifel an der Rechtmäßigkeit ihrer ausgeführten Befehle entstehen.

Die Äußerungen der Soldaten  sind teil sehr differenziert, hoch emotional aufgeladen, teils unbeteiligt, sachlich, die Emotionen verdrängend. Viele Soldaten lassen ihr Gewissen sprechen, nachdem sie in der berichteten Situation klar reagiert haben – reagieren mussten, um handlungsfähig zu sein und den Befehl ausführen zu können. Auffallend ist, dass es offensichtlich keine klar erkennbare, eindeutig belastbar dokumentierte Befehlslage gibt. Das erinnert an die militärische Situation in der DDR, wo der Schießbefehl immer noch nicht gefunden wurde. Vielleicht steckt ja ein Gewissen dahinter, das es den Befehlshabern verwehrt, ihre persönliche Verantwortung schriftlich für alle Zeit zu dokumentieren.  Es würde immerhin zeigen, dass sie eine moralische Instanz in sich tragen, die ihnen sagt, dass diese Handlungsweisen auch unter dem Gesichtspunkt einer religionsübergreifenden Sichtweise menschlich nicht richtig sind. Es gibt ja auch ein Gewissen, das unabhängig von christlicher Denkweise -also übergeordnet- geprägt wird und Denken und Handeln steuert. Die vernichtenden Befehlt im Dritten Reich dagegen sind mannigfaltig dokumentiert.

Es ist für mich absolut erschütternd zu sehen, dass das israelische Volk – genauer: die israelischen Politiker- ganz offensichtlich nichts aus dem Leid gelernt haben, das den Juden durch Hitlers Holocaust angetan wurde. Die israelischen Politiker halten die Erinnerung an die Kollektivschuld Deutschlands wach, um davon durch finanzielle Unterstützung und aktives Schweigen zu profitieren, und sie setzen alles dran, um ein anderes Volk, die Palästinenser, im eigenen Land zu drangsalieren, zu verdrängen, zu vernichten.

Dazu gebrauchen sie eine generalstabsmäßig durchdachte und angewandte euphemistische Ideologie der angeblichen Verteidigung, sonst könnten sie die aggressive Expansionspolitik nicht einmal zum Schein rechtfertigen.

Bei den nicht vom Gewissen Geplagten wird es unweigerlich die Normalisierung einer Brutalität zur Folge habe, wie in einigen Berichten angedeutet ist. Das dürfte der tiefe Grund für die  auch in anderen Texten angedeutete oder benannte Aussage für „Israels Irrweg“ (Rolf Verleger) sein, der dem Staat auf Dauer genau das entzieht,  was das Fundament eines gelingenden Staatswesens ist, nämlich die Achtung der Menschenrechte.

Meine Warnung: Wer dieses Buch mit seinen akribisch dokumentierten Interviews lesen will, braucht eine Panzerhaut auf der Seele und einen sehr guten Verdrängungsmechanismus, um nicht schon als Leser Schaden zu nehmen an dieser humanitären Katastrophe, die vor unseren Augen täglich abläuft und von anderen noch aktuelleren, weil neuen Scheußlichkeiten verdrängt werden. Schlimme Träume durch Breaking The Silence kann ich schon mal  aus eigener Erfahrung in Aussicht stellen. Ich gestehe, dass ich nur das erste Drittel des Buchs sorgfältig gelesen habe. Meine maximale Aufnahmefähigkeit für Grausamkeiten war überschritten, meine  Neugier und mein Voyeurismus zum Überlaufen gesättigt. Das ist eine vorsichtige Formulierung! Es gibt dafür eine deftige Beschreibung.

Carl Friedrich von Weizsäcker hat gesagt: „Man kann in dieser Welt, wie sie ist,
nur dann weiterleben, wenn man zutiefst glaubt, dass sie nicht so bleibt, sondern werden wird, wie sie sein soll.“

Breaking The Silence beweist meines Erachtens, dass der israelische Staat alles tut, um der Menschen verachtender Macht die Bahn zu brechen – im Schatten des tolerierenden Schweigens. Wer will in solch einer Welt leben, wenn man nicht zu den wenigen Regierenden in Israel gehört?

Die einkalkulierten Proteste der UN, die vielen gerechtfertigten und doch nutzlosen Resolutionen gegen die israelische Willkürpolitik und das Schweigen der deutschen Regierung unterstützen die offizielle Politik Israels auch dann, wenn Herr Westerwelle mantramäßig und, wie mir scheint, pflichtschuldig, aber emotional unbeteiligt seinen Willen zum Frieden und zur Mäßigung wiederholt. Israel rechnet mit den internationalen Protesten und ändert seine Politik nicht.

Beispielhaft sei an zwei kleine Szenen erinnert, die nicht in Breaking The Silence stehen:

  • Daniel Barenboim, geboren 1942 in Buenos Aires, in Israel aufgewachsen, erhielt neben vielen Preisen für seine intensive Friedensarbeit und zahlreichen internationalen Auszeichnungen für sein grandioses musikalisches Schaffen als Pianist und Dirigent 2003 das Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband der Bundesrepublik Deutschland und 2007 den Praemium Imperiale des japanischen Kaisers, der als Nobelpreis für Musik gilt. Am 10. Mai 2004 wurde Barenboim in der Knesset, dem israelischen Parlament, der Wolf-Preis für freundschaftliche Beziehungen unter den Völkern verliehen. In seiner Dankesrede zitierte Barenboim aus der israelischen Verfassung u.a. folgende Passage: „Der Staat Israel … wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen.“ Anschließend sagte er: „In tiefer Sorge frage ich heute, ob die Besetzung und Kontrolle eines anderen Volkes mit Israels Unabhängigkeitserklärung in Einklang gebracht werden kann. Wie steht es um die Unabhängigkeit eines Volkes, wenn der Preis dafür ein Schlag gegen die fundamentalen Rechte eines anderen Volkes ist? …“ Daraufhin kam es zu einem Eklat, als die israelische Erziehungsministerin Limor Livnat Barenboim in ihrer Erwiderung vorwarf, das Parlament als Bühne zu missbrauchen, um Israel zu attackieren.
  • Während Ende 2008 der Gaza-Krieg tobte, sagte die damalige Verteidigungsministerin Levi: „Israel entscheidet, wann der Krieg zu Ende ist und niemand sonst.“

Copyright Dr. Dietrich Weller


 

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