Der hysterische / histrionische Mensch
Der Begriff hysterisch wird in der Umgangsprache anders benützt als in der psychiatrischen Praxis. In der Psychiatrie ist er wegen der Stigmatisierung der Menschen mittlerweile verlassen und taucht als histrionisch bei verschiedenen Persönlichkeitsstörungen und anderen Diagnosen auf.
Kennzeichen: „Ich spiele. Wo sind die Zuschauer? Wer spielt mit?“
Das Ziel des hysterischen / histrionischen Menschen ist die emotionale Resonanz der Umwelt. Die Inszenierung des Leidens und Verhaltens steht im Vordergrund. Das Theater, das Drama, die große Gestik, der demonstrative Auftritt oder die lärmende Symptomatik oder die betont „leisen“ und „zufälligen“ Leidenszustände sind beeindruckend und helfen bei der Diagnostik.
Ich erinnere mich an eine Frau, die mir an der Praxis-Rezeption vor allen wartenden Patienten und den Arzthelferinnen mit großer Geste überschwenglich und mit entsprechender Lautstärke für meine Behandlung dankte und zwei Ikonen schenkte, die sie aus ihrem Heimatland mitgebracht hatte. Fast alle Patienten, die diese theaterreife Szene miterlebt haben, sprachen mich anschließend darauf an, als sie mit mir im Sprechzimmer allein waren. – Diese Frau hat es ehrlich gemeint. Das weiß ich, weil ich sie über viele Jahre als Hausarzt betreut habe und ihre Lebenssituation sehr gut kannte. Deshalb habe ich die Ikonen auch angenommen und freue mich daran. Aber ein freundliches Wort im Sprechzimmer wäre mir bedeutend lieber gewesen.
Die histrionischen Menschen verstehen oft ihre Situation nicht oder nicht ganz und reagieren unecht, halten sich aber für echt. Sie steigern sich in die übertriebene Rolle hinein und identifizieren sich damit.
Die rasch wechselnden Gefühle und Appelle verunsichern und manipulieren den Unachtsamen und Unerfahrenen zu hektischer Betriebsamkeit, peinigendem Schuldgefühl, teurer Überdiagnostik und Übertherapie, großem Zeitaufwand, steigender Frustration und quälendem Insuffizienzgefühl.
Der hysterische Mensch will eine weit über das übliche Maß hinausgehende Beziehung zum „Mitspieler“ erreichen. Er will mehr Rechte haben und keine Pflichten übernehmen. Er treibt den Arzt dazu, die Grenzen seiner persönlichen und legalen Möglichkeiten zu überschreiten. Deshalb ist es gefährlich, hysterische Patienten nicht als solche zu erkennen und ein Teil Ihres Spiels zu werden.
Was machen Sie mit dem hysterischen Mitmenschen?
Bei dem Umgang mit hysterischen Menschen dürfen wir nicht vergessen, dass er dieses Verhalten braucht, um mit seiner Lage fertig zu werden.
Einen Hysteriker kann man selten ändern.
Besonders wichtig sind eindeutige Distanz, klare und feste sachliche Beziehungsmuster und ein freundlicher Umgang. Stecken Sie Grenzen eindeutig ab. Vereinbaren Sie Termine, und halten Sie sie ein. Klare Abmachungen sind dringend erforderlich. Hysterische Menschen versuchen immer, Grenzen zu übertreten und auszuprobieren, ob die Grenzen auch halten.
Bei der oben erwähnten Patientin musste ich oft ihren Redeschwall unterbrechen. Sonst hätte sie nicht aufgehört zu reden. Ich habe es einmal ausprobiert, als sie die letzte Patientin in der Sprechstunde war. Ich dachte, ich lasse sie jetzt einfach reden und höre zu, sie wird sicherlich eine Pause machen und mir eine Chance geben, auch etwas zu sagen. Nach zwanzig Minuten gab ich auf und unterbrach sie: „Stopp, jetzt möchte ich auch etwas sagen!“ Sie holte Luft, war offensichtlich verblüfft, aber sie setzte schneller ihren Redeschwall fort, als ich meinen Satz beginnen konnte. Ich war zu langsam. Daraus habe ich gelernt, rascher einzugreifen und die Gespräche mit ihr straff zu strukturieren. Nachträglich muss ich einräumen, dass ich es dieser Frau meine Fähigkeit zu verdanken habe, Hysteriker rasch zu erkennen und zu wissen, wie ich mit ihnen umzugehen habe. Sie war eine echte Trainingsherausforderung im Kampfring der Praxis.
Ich erinnere mich an eine andere histrionische Patientin, die ich wegen einer rein neurologischen Fragestellung zum Neurologen schickte, der auch gleichzeitig Psychiater ist. Er rief mich an und bat mich um Verständnis, dass er dieser Frau keinen Termin geben werde, weil sie nach vier Jahren erfolgloser psychiatrischer Behandlung inzwischen Praxisverbot bei ihm habe. Ich wusste von der psychiatrischen Therapie nichts und war darüber sehr verblüfft,– Ich habe auch einmal beobachtet, dass diese Frau an einer großen Kreuzung an der Ampel wartete, bis ein Auto bei rot anhielt. Dann riss sie die Beifahrertür auf und bedeutete dem Fahrer die Richtung, die er fahren sollte. Ich sah an der Autonummer, dass das Auto weit entfernt zugelassen war. Der Fahrer reagierte sofort: Er warf die Frau gestenreich aus dem Wagen. Als sie ein paar Tage später in die Praxis kam, sprach ich sie darauf an, was ich beobachtet hatte. Sie sagte ganz einfach: „Wenn der in meine Richtung fährt, kann er mich doch mitnehmen. Ich habe doch kein Auto.“ Sie verstand überhaupt nicht, warum ihr Verhalten distanzlos und übergriffig war. Der Vollständigkeit halber will ich berichten, dass sie regelmäßig meinen Terminplan und die wartenden Patienten in dermaßen aufdringlicher Art und Weise durcheinander zu bringen versuchte, dass auch ich nach vielen Gesprächsversuchen und zwei weiteren Jahren als ihr Hausarzt erkennen musste, dass der Psychiater-Kollege die einzig richtige Grenze gezogen hatte. Ich nutzte eine Gelegenheit, als sie einen erneuten Termin vereinbaren wollte und ich mit einer Helferin allein an der Rezeption stand, zu einem kurzen Abschiedsgespräch und erklärte ihr, nicht mehr wiederzukommen. Ich musste sie förmlich aus der Praxis drängen, sie war überhaupt nicht einsichtig. Es tat mir Leid für sie, und ich fühlte mich schlecht in dieser Situation, aber es war die einzige Rettung für die Praxis und mich.
Schützen Sie Ihr Privatleben, Ihre Mitarbeiter und andere Patienten vor dem Hysteriker. Sie sind nicht verantwortlich für das Handeln Ihrer Patienten, aber Sie können anderen helfen, nicht vereinnahmt zu werden, indem Sie diskret Hilfestellung geben, ohne irgendwelche Geheimnisse auszuplaudern. Dazu gehört natürlich auch, wegen der großen Gefahr des Missbrauchs keine Bemerkungen über Dritte bei dem Hysteriker zu machen.
Es ist eine Kunst, in der lärmenden Symptomatik ruhig zu bleiben. Der Patient darf Sie weder zur Hektik treiben noch mit einem Wortschwall niedermähen. Es liegt an Ihnen, ob das geschieht oder nicht, es liegt nicht am Patienten!
Vermeiden Sie im Gespräch mit dem Hysteriker das Wort „hysterisch“. Das reizt ihn zu noch mehr Demonstration und Aggression, weil er sich angegriffen und missverstanden fühlt. Und es wird von vielen Menschen als Beleidigung aufgefasst, obwohl es psychiatrisch richtig benützt ein echtes Symptom darstellt.
Copyright Dr. Dietrich Weller
Dieser Artikel ist in meinem Buch Ich verstehe Sie! – abgedruckt.