In der Woche vor meinem 65. Geburtstag, genau eine Woche, bevor ich Rentner wurde, begegnete ich einem alten Bekannten wieder, der ein paar Jahre vor mir in die Rente gegangen war. Er sagte lachend:
„Rentner ist der schönste Beruf, den es gibt! Nur die Ausbildungszeit ist so lang!“
Dieser Satz beschäftigte mich in den nächsten zwei Nächten. Rentner war für mich immer gleichbedeutend mit nicht mehr im Beruf zu sein. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, dass Rentner eine Berufsbezeichnung sein könnte. Was ein Arzt, ein Rechtsanwalt, ein Schreiner, ein Architekt beruflich machen, weiß ich, aber was macht ein Rentner? Und mal angenommen, Rentnersein wäre ein Beruf: Was ist dann seine Aufgabe, und wie bereitet er sich darauf vor? Wann kann er sagen, er habe sein Berufsaufgabe gut erfüllt und sein Berufsziel erreicht?
Ein prägendes Erlebnis, das mich als jungen Arzt mit dem Thema Rentnersein konfrontiert hat, will ich vorweg erzählen.
Als ich meine Praxis erst kurz eröffnet hatte, wurde ich eines Morgens von der Ehefrau eines Mannes angerufen, den ich aus dem privaten Bereich kannte: groß, stattlich, gut aussehend, erfolgreich, zwei Söhne, eigenes Haus. Er war einer der Direktoren eines Weltkonzerns. Die Frau bat mich um einen dringenden Hausbesuch, da ihr Mann morgens weinend aufgewacht sei und sich nicht beruhigen lasse. Sie wisse überhaupt nicht, was er habe und wie sie mit ihm umgehen solle.
Als ich kurz darauf am Bett des schluchzenden und verzweifelten Patienten saß und ihn langsam „heruntergeredet“ hatte, sodass wir miteinander sprechen konnten, kam der erklärende Satz: „Gestern wurde ich in der Firma mit allen Ehren in die Rente verabschiedet. Heute Morgen bin ich aufgewacht, und jetzt bin ich nichts mehr wert. Ich weiß überhaupt nicht, was ich jetzt tun soll.“
Im weiteren Verlauf des Gesprächs wurde auch ihm klar, dass er sich sein Leben lang nur über die Leistung bei seiner Arbeit definiert und zum Beispiel keine Hobbys hatte. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, womit er sich als Rentner beschäftigen sollte und wollte.
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Manchmal hilft es, Dinge ganz neu zu erkennen oder Neues an Bekanntem zu entdecken, wenn man den Blickwinkel oder den Kontext einer Betrachtung wechselt. Und weil Englisch neben Latein mittlerweile die medizinische Fachsprache geworden ist, nützen die Psychotherapeuten und Psychiater das Wort frame für Rahmen und geben dem Bild und den Ansichten der Patienten oder Klienten einen neuen Rahmen, damit er neue Erkenntnisse gewinnen kann. Die Therapeuten sagen dazu Reframing. Dies will ich in dem folgenden Text tun.
Üblicherweise sehen wir in der Rentenzeit ein erstrebenswertes Ziel, weil wir dann nichts mehr arbeiten müssen und nur noch frei sind und keine Pflichten mehr haben. Und die Rente kommt von allein.
Heinrich Zille hat das Motto dazu gereimt:
„Wie herrlich ist es, nichts zu tun und dann vom Nichtstun auszuruhn!“
Das ist eine fröhliche und sehr oberflächliche Sichtweise. Deshalb will ich sie in den folgenden Überlegungen mit einem neuen Gedanken umrahmen und dann genauer anschauen.
Ich schreibe diesen Essay auch, weil ich ab dem nächsten Monat Rentner bin. Dabei weiß ich, dass wir Ärzte immer beichten, wenn wir anderen Menschen, besonders unseren Patienten, etwas empfehlen. Wir raten ihnen (oft), was wir selbst machen müss(t)en. Ich verfasse diesen Essay also sehr bewusst auch für mich selbst.
Der neue Rahmen des jetzt zu betrachtenden Bildes heißt:
Rentner zu sein ist ein Beruf, auf den wir uns lange vorbereiten müssen, und der uns viele schöne und schwierige Aufgaben stellt und dadurch an die Grenzen unserer physischen und psychischen Möglichkeiten führt und uns zwingt, sie zu überschreiten.
Die meisten Menschen haben eine etwa 65-jährige Ausbildung für diesen Rentnerberuf durchlaufen. Manche fühlen sich schon früher reif dafür, denn fürs vermeintliche Nichtstun brauchen wir ja keine Ausbildung. Das können wir schon lange! Manche Menschen wollen eine längere Ausbildungszeit nützen, weil sie an dieser Weiterbildung Freude haben oder weil sie damit Geld verdienen müssen oder wollen. Vielleicht sind sie sich auch nicht bewusst oder wollen nicht wahrhaben, welche Aufgaben als Rentner auf sie warten.
Die berufliche Aufgabe, die wir als Rentner lösen müssen, besteht darin, den individuellen Sinn des Lebens zu erkennen, zu erfühlen und mit Leben zu erfüllen. Die wichtigste Herausforderung kommt am Schluss: Wir müssen uns darauf vorbereiten, dieses Leben und das Sterben als natürlichen Teil des Lebens emotional anzunehmen und in Würde und bewusst loszulassen.
Oder persönlich formuliert: Ich muss herausfinden, wie die Frage heißt, auf die mein Leben die Antwort ist.
Mich erinnert das an meinen Mathematiklehrer, der einmal gesagt hat: „Sie müssen die Probleme der Klassenarbeit vor der Prüfung lösen, nicht während der Prüfung. Denn Sie haben zu wenig Zeit, wenn Sie erst dann anfangen, sich mit der Aufgabe zu beschäftigen. Während der Prüfung brauchen Sie alle Konzentration, das Gelernte situationsentsprechend und unaufgeregt anzuwenden.“
Das bedeutet für die Vorbereitungszeit auf die Rente, also für den Azubi-Rentner, eben diese Aufgaben, die wir in der Rentenzeit lösen müssen, in unseren Trainingsplan vor der Rente einzubeziehen und nicht auszuklammern und zu verdrängen. Dabei hilft uns der Gedanke, dass das Sterben zum Leben gehört wie die Geburt auch. Die absolute Gewissheit, dass wir alle durch das letzte große Tor des Sterbens durchgehen müssen, sollte uns ruhiger machen und dazu führen, dass wir uns intensiv und gelassen damit beschäftigen.
Über die Geburt eines Kindes freuen wir uns, und vor dem Sterben und dem Tod haben wir Angst. Warum eigentlich? Beides sind normale Teile des Lebens. Und das Thema loslassen beschäftigt uns das ganze Leben lang in mehr oder weniger drastischer Form.
So wie ein Kind im Uterus keine Ahnung davon hat, wie sehr sich das Leben nach der Geburt ändert, wissen wir nicht, was nach dem Tod auf uns wartet. Der Fötus weiß nicht, dass er einmal mit dem Mund essen wird, statt über die Nabelschnur versorgt zu werden. Er weiß nicht, dass er einmal gehen und mit anderen Menschen sprechen kann. Der Fötus würde wahrscheinlich sagen: „Es kann gar keine Mutter geben, denn ich sehe sie nicht. Also kann sie sich auch nicht um uns kümmern oder gar Gefühle für uns haben. Es kann kein Leben nach der Geburt geben, denn es ist noch keiner von dort zurückgekommen!“
Wir sollten es immerhin im Bereich des Möglichen lassen, dass es sogar nach dem Tod schön werden kann, wenn auch eben ganz anders, als wir es mit unserem irdischen Verständnis denken können.
Wenn wir mit Angst den Gedanken an das Sterben und den Tod verdrängen, beschäftigen wir unser Unterbewusstsein oder unser Bewusstsein intensiv mit negativen Gedanken in Bezug auf diesen Sterbevorgang. Wie viel sinnvoller wäre es, dies positiv zu tun, wenn wir schon wissen, dass wir ihn nicht vermeiden können!
Angst ist eine sehr wirksame Autosuggestion, dass genau das geschieht, wovor wir uns in bangen Nächten fürchten. Denn unser Unterbewusstsein erfüllt die Gedanken und emotionsgeladenen Bilder, mit denen wir unser Unterbewusstsein beschäftigen. Es erkennt keine Verneinungen.
Wir können uns nicht vornehmen, keine rosa Elefanten zu sehen, weil wir ja wissen, dass es sie nicht gibt! Wenn wir darüber nachdenken, dass wir keine rosa Elefanten sehen wollen, sehen wir rosa Elefanten. Angst vor dem Sterben und dem Tod schafft intensiv emotional beladene Prägungen in unserem Unterbewusstsein. Auch die Lernforschung zeigt, dass wir Sachverhalte, die wir unter emotional günstigen Bedingungen gelernt haben, leichter merken können und später gern und erfolgreich anwenden können. Dinge, die wir mit negativen Empfindungen gelernt haben, sitzen ebenfalls tief geprägt in unserem Hirn, aber sie sind an einer anderen Stelle – nämlich im Mandelkern – gespeichert und dort mit Ablehnung und Aggression verbunden. Wenn diese Lerninhalte später im Leben abgerufen werden, tauchen automatisch die damit verbundenen negativen Emotionen wieder auf, und Ergebnisse werden verschlechtert.
Wir müssen unser Unterbewusstsein prägen mit emotional positiv geladenen Gedanken über die Dinge und Ereignisse, die wir erreichen und erleben wollen. Das setzt voraus, dass wir klar wissen, was wir wollen. Viele Menschen wissen nur, was sie nicht wollen, und denken darüber intensiv nach. Sie programmieren sich emotional und sachlich negativ. –
Es gibt den verblüffenden, scheinbar paradoxen Satz: „Hüte dich vor deinen Gedanken, denn sie erfüllen sich.“ – Aber auch diese Aufforderung enthält eine Verneinung („hüte dich vor“), die von unserem Unterbewusstsein nicht erkannt wird und emotional negativ beladen ist. Der Satz muss richtig heißen: „Denke oft darüber nach, was Du willst, und freu dich darauf.“
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Es wäre töricht und unrealistisch zu glauben, wir könnten alles mit unseren Gedanken beeinflussen.
„Wir müssen das Leben nehmen wie es kommt. Aber wir können etwas dafür tun, dass es kommt, wie wir es nehmen möchten.“
Dieser Satz von Curt Goetz ist eine gute Richtschnur. Verbinden wir sie mit Seneca:
„Zweifle nicht, ohne zu hoffen. Hoffe nicht, ohne zu zweifeln.“
Der amerikanische Onkologe Bernie Siegel sagt:
„Im Zweifelsfall ist Hoffnung immer richtig.“
Wir brauchen Hoffnung gerade dann, wenn die Situation hoffnungslos ist. Bei Sonnenschein brauchen wir keinen Regenschirm! Aber wenn es unerträglich wird, alles schwarz erscheint, Schmerzen und Sorgen die Nacht zur Qual machen und der segensreiche Schlaf sich nicht einstellt, dann ist es hilfreich, Hoffnung zu haben auf einen Tod ohne Schmerzen. Sie lassen sich besser ertragen, wenn wir wissen, wann und dass sie enden werden. Wir erleben Erleichterung in dem Bewusstsein und in der Hoffnung, geliebt worden zu sein und gute Spuren zu hinterlassen, die gepflegt werden. Dann helfen uns der Gedanke und das Gefühl, mit uns selbst und der Umwelt im Reinen zu sein.
Wir brauchen die Hoffnung, sterben zu dürfen in der Umgebung, die wir uns wünschen, vielleicht sogar im Arm eines geliebten Menschen, der uns loslässt, weil (!) er uns liebt. Es ist ein Segen, wenn wir auf ein Ende hoffen dürfen mit dem Wissen, ein sinnvolles Leben erlebt und erarbeitet zu haben. Ja, Leben ist Arbeit: meistens in den ersten beiden Dritteln ganz anders – unter anderen Gesichtspunkten – als im letzten Drittel.
Ich bin in meiner Azubi-Rentner-Zeit immer im richtigen Moment den richtigen Menschen, den richtigen Büchern und der richtigen Musik begegnet.
Jedenfalls hatte ich oft den Eindruck, Zufälle fallen uns zu, wenn sie fällig sind.
Meine Aufgabe besteht darin, aufmerksam zu sein und zu merken, wann da scheinbar zufällig wieder der richtige Mensch vor mir steht, die richtige Musik läuft oder ich das richtige Buch in der Hand habe, und was es mir zeigen will, was ich daraus lernen oder woran ich mich freuen kann. Oder wenn wir es religiös formulieren wollen:
Zufall ist Gottes Trick, inkognito zu bleiben.
Wer Sinn erleben will, muss etwas Sinnvolles tun. Auf tun liegt die Betonung! Das ist das Motto des bewussten Rentners. Dabei ist bewusste seelische und emotionale Arbeit mindestens gleich wichtig wie körperliche, die im Alter ja oft durch Behinderungen eingeschränkt ist. Viele Rentner beteiligen sich deshalb sehr bewundernswert und intensiv – oft auch ehrenamtlich – an sozialen und beruflichen Aufgaben, für die sie fähig und erfahren sind. Sie leisten damit einen wertvollen und unverzichtbaren Beitrag zu unserer Gesellschaft.
Auch hier gilt: Helfer müssen immer stark bleiben. Sie haben die Pflicht, für die Stabilität ihres Rückgrates zu sorgen. Und das meine ich nicht nur körperlich mit der Belastbarkeit des Rückens, sondern auch im übertragenen Sinne seelisch, emotional und geistig. Wenn Helfer sich überlasten, werden sie zu hilflosen Helfern. Das nützt dann wirklich niemand. Ganz im Gegenteil: Der Helfer wird auch hilfsbedürftig. Er bringt sich selbst in die Lage, aus der er anderen Menschen heraushelfen will. Deshalb sind eingeplante und von allen Beteiligten akzeptierte Pausen wichtig, um die emotionale und körperliche Kraft immer wieder zu regenerieren.
Ein wichtiger Gesichtspunkt, der uns zum Helfer-Syndrom führt, sind früh eingepflanzte Schuldgefühle. Dadurch haben wir früh ein negatives Urteil anderer Menschen über uns als richtig angenommen und versuchen, durch vermehrte Leistung diese Schuld abzutragen. Je mehr wir dies versuchen, umso mehr merken wir, dass es nichtfunktioniert. Schuld – das negative Urteil anderer – wird zur Aggression, die wir gegen uns selbst richten. Das Einzige, was ich – und nur ich! – wirklich ändern kann – aber das ist oft schwer –, ist meine Einstellung den Dingen gegenüber.
Das zeigt diese Zen-Geschichte: Ein Schüler kommt zum Meister und fragt: „Seit wann bist du Meister?“ – Der Meister sagt: „Als ich noch ganz jung war, wollte ich die ganze Welt ändern. Irgendwann habe ich bemerkt, dass ich das nicht kann. Dann habe ich versucht, alles um mich herum zu verändern. Ich habe lange gebraucht, bis ich mir eingestehen musste, dass ich auch das nicht schaffe. Jetzt versuche ich, mich zu verändern. Seither nennen mich die Menschen Meister.“
Dabei muss klar sein, dass der Abschluss einer Berufsausbildung, z. B. ein Meisterbrief bei den Handwerkern oder ein Staatsexamen bei den Akademikern oder eine Approbation beim Arzt noch kein Zeichen ist, dass der Absolvent alles kann. Er hat nur die Erlaubnis, den Beruf von jetzt an selbstverantwortlich auszuüben. Ab hier beginnt die eigentliche Sammlung von Erfahrung, der wirkliche Lernprozess. Alles hat auch eine gute Seite, selbst wenn wir gerade auf die negative Seite der Medaille (des Lebens) schauen. Wir können die Medaille nicht haben, wenn wir nicht bereit sind, beide Seiten in der Hand zu tragen. Es liegt an uns, welche wir anschauen und was wir daraus machen. Es rettet uns, wenn wir in unserer Azubi-Zeit gelernt haben, dass auch in unserem Leben scheinbar unüberwindbare traumatische Erlebnisse Gutes nach sich gezogen haben. Viele wunderbare Entwicklungen wären nicht möglich gewesen, wenn wir nicht vorher etwas Schlimmes durchgemacht hätten.
Wir brauchen Geduld und Kraft, die Wendung zum Guten zu erleben. Und in diesem Sinn kann auch der Tod etwas Gutes sein.
„Es gibt Zeiten, in denen es gesund ist zu sterben.“
Dieser Satz stammt von Dame Ciceley Saunders, die als Krankenschwester und Ärztin für die Gründung und Entwicklung der englischen Hospizbewegung von der englischen Königin geadelt wurde und deren Wirken die Grundlage für die Hospizbewegung in der ganzen westlich orientierten Welt darstellt. Auch ich habe es mehrfach erlebt, dass ich am Bett eines gerade verstorbenen Patienten stand und mit den Angehörigen sagen konnte: „Jetzt ist es zwar sehr traurig, aber gut so!“
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Ein gültiges Testament und eine möglichst individuell und sorgfältig ausgearbeitete Patientenverfügung helfen, dass wir leichter und bewusster leben können. Damit können wir viel bestimmen, und es lohnt sich, für die Abfassung dieser Dokumente Zeit und Mühe aufzuwenden, denn es sind die wesentlichen Dinge, die wir in Bezug auf Leben und Tod entscheiden können. Wie viel Zeit wenden wir auf, um das richtige Auto, das beste Haus, die schönste Reise auszuwählen? Dann lohnt es sich erst recht, für unser Leben und Sterben unsere Vorstellungen gründlich zu überlegen und zu formulieren, soweit sie in unserer Macht liegen. Auch hier können wir (in bestimmten Grenzen) etwas dafür tun, dass das Leben so kommt, wie wir es nehmen möchten.
Wir können mit einem guten Testament sogar Einfluss auf den Verlauf nach unserem Tod nehmen und damit einen Beitrag zu Frieden (oder Unfrieden!) in der Familie leisten. Mit der Patientenverfügung nehmen wir den Verwandten z.B. Therapieentscheidungen bei unserem Sterbeprozess ab, indem wir selbst entscheiden. Es ist für die Verwandten schwer genug, unserem Sterben zuzusehen und es zu ertragen. Aber sie wissen dann wenigstens, was sie uns Gutes tun können, indem sie unseren festgelegten Willen akzeptieren und umsetzen.
Der Rentner ist ein selbständiger Unternehmer, der das Recht hat, seine Arbeitszeit einzuteilen und seine Lebensweise selbst zu bestimmen. Nichts verpflichtet uns so sehr zur Verantwortung wie Freiheit. Also ist es wichtig, die Arbeitszeit bewusst und sinnvoll einzuteilen und zu nützen.
Die Arbeitszeit des Rentners ist definiert als die Zeit, die nötig ist, um die Aufgabe zu lösen. Das sind im Fall des Rentners 24 Stunden täglich. Dabei muss berücksichtigt werden, dass eine pausenstrukturierte Arbeitsweise nicht nur sinnvoll, sondern dringend erforderlich ist, um die Zeit des Rentnerdaseins optimal zu verlängern.
Ich schreibe bewusst optimal und nicht maximal! Mit optimal meine ich die unter den gegebenen Umständen beste Lebensdauer. Maximal bedeutet die längste erreichbare Lebenszeit – ohne Rücksicht auf die Lebensumstände oder Lebensqualität. Mir ist die Lebensqualität viel wichtiger als die Lebensdauer. Deshalb bin ich auch bereit, auf Lebensdauer zu verzichten, wenn die Lebensqualität mir nicht mehr lebenswert erscheint. Ich lege Wert darauf, dass ich entscheide, was meine Lebensqualität ist und wann ich mein Leben lebenswert empfinde oder nicht (und nicht meine Verwandten oder ein Arzt oder gar ein Pfarrer). Deshalb habe ich dies in meiner Patientenverfügung detailliert formuliert.
Die pausenstrukturierte Arbeitsweise ist wie gesagt nicht nur in der Azubi-Zeit des Rentners wichtig, sondern auch in der Rentnerzeit. Meinen Patienten erkläre ich den Begriff und Wert der pausenstrukturierten Arbeit am Beispiel des EKGs mit der Arbeit des Herzens. Die Phase der Entspannung (Diastole) ist beim gesunden Herz immer länger, beim trainierten Herz sogar manchmal doppelt so lang wie die Phase der Arbeit (Systole). Je besser das Herz trainiert ist, umso kräftiger und wirkungsvoller ist die Arbeitsphase.
Nur weil das Herz von Beginn der ersten Schläge im Mutterleib an streng eingehaltene Pausen macht, kann es ein ganzes Menschenleben lang zuverlässig arbeiten. Schon wenn das Herz des Erwachsenen pro Minute über 140 Schläge macht, werden die Pausen zur Erholung viel zu kurz. Das hält auch ein gesundes Herz nicht lange durch. Wenn diese Schlagzahl höher wird und länger durchgehalten werden soll und gar unrhythmisch wird, droht akute Lebensgefahr!
Ein anderes Beispiel für den Wert der pausenstrukturierten Arbeit habe ich bei der Bundeswehr gelernt: Wenn eine Gruppe Soldaten einen Tagesmarsch von vierzig Kilometer machen soll und alle Männer ohne Pause möglichst rasch über diesen Weg getrieben werden, ist zu erwarten, dass nur ein Teil der Männer das Ziel erreicht. Wenn man aber den Soldaten vorher schon sagt, dass sie alle zehn Kilometer zwanzig Minuten Pause machen müssen(!), ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass alle Männer das Ziel erreichen.
Die Ruhephasen sind auch ein notwendiger (die Not wendender) Bestandteil der Rentnerarbeit. Denn Erholung im Schlaf, bei bewusster Langsamkeit und anderen absichtlich eingelegten Ruhepausen sind ein integrierter Bestandteil der Arbeit. Sie sind unerlässlich und haben den besten Erholungswert und dauerhafte positive Auswirkung, wenn sie mit Freude angenommen und genossen werden.
Dann gibt es auch keine Langeweile! Denn nichts weilt zu lang, weil alle Zeit, die wir haben, ein wichtiger Teil unserer Arbeit als Rentner ist. Auch während des scheinbaren Nichtstuns arbeitet unser Körper. Wir dürfen nicht in den verbreiteten Fehler verfallen zu glauben, körperliches Nichtstun sei immer gleichbedeutend mit Faulheit. Denkpausen in körperlicher Ruhe und Zeiten, Emotionen bewusst aufzunehmen und zu verarbeiten, Meditationsphasen im weitesten Sinn sind unverzichtbar und sollten als Kreativzeit und Phasen zur Erholung des Körpers und des Geistes angesehen und geschätzt werden. Dann verarbeitet unser Gehirn die Eindrücke des Tages, auch z.B. in Träumen, und bildet neue Synapsen und Neurone und baut sie aus.
Die Schlafforschung zeigt, dass Menschen, die nicht mehr träumen können und schlecht schlafen, auch zum Beispiel mit einem Schlafapnoe-Syndrom, also ein pathologisches Schlafmuster haben, körperlich krank werden. Sie haben häufig einen Bluthochdruck und andere gestörte vegetative Funktionen. Ganz abgesehen von ihrer Unfähigkeit, die gesunden Verarbeitungsmechanismen des Schlafes für Alltagserlebnisse und besonders für traumatische Begebenheiten nützen zu können. – Nicht ohne Grund gibt es die Foltermethode Schlafentzug!
Die Hirnforschung hat bewiesen, dass zwei Aktivitäten die Entwicklung der Demenz aufschieben können: geistige Aktivität kombiniert mit Bewegung. Denn dadurch wird die Neubildungen von Synapsen und Neuronen angeregt, und bestehende Verbindungen werden in Funktionen gehalten. Nicht benutzte Synapsen und Funktionsbereiche bilden sich zurück wie ein Muskel in einem eingegipsten Bein. Kognition ist die Fähigkeit, die Umwelt wahrzunehmen und darauf zu reagieren, z.B. mit Aufmerksamkeit, Reaktionsgeschwindigkeit, Gedächtnis, Konzentrationsfähigkeit, Anpassung der Stimmung an die Situation.
Deshalb ist es sinnvoll, gerade im Rentnerberuf Training von Kognition und Bewegung regelmäßig in den Tagesablauf einzubauen. Eindrücke und Aktivitäten in der Natur und /oder bei kreativen Tätigkeiten (Malerei, Musik, handwerkliche Tätigkeiten etc.) können wertvolle Beiträge zur Fülle und Bewältigung der kognitiven Anforderung leisten. Wenn die Feinmotorik und Gleichgewichtsreaktionen gleichzeitig mit der Konzentration und Reaktionsgeschwindigkeit gefördert werden wie beim Spielen eines Instrumentes oder beim Fahrradfahren oder Tanzen, können wir unsere Hirnfunktion optimal fördern und dabei die Lebensqualität regelmäßig verbessern. Dass wir damit auch die körperliche und kardiale Kondition optimieren, ist ein sehr angenehmer und erstrebenswerter Begleiteffekt.
Die vielfältigen Möglichkeiten, Kognition zu trainieren, lassen uns eine große Wahl: Vom Spaziergang, Joggen, Fahrradfahren, Wandern, Tanzen bis zum Lesen, Schreiben, künstlerischen Arbeiten, Gedächtnis- und Konzentrationstraining bietet sich eine große Bandbreite an.
Manche Rentner haben während ihrer Ausbildung interessante Tätigkeiten gelernt, die damals ihr Beruf waren und jetzt in der Rentenzeit zur Erbauung und zum kognitiven Training genützt werden können, auch in vermindertem zeitlichem Umfang. Die Rentner helfen den anderen Menschen, die sich noch in der Vorbereitung zum Rentner befinden, z. B. durch Vertretungen im alten Azubi-Bereich, mit ihrer Erfahrung, und sich selbst mit Erfolgserlebnissen.
Neben all den beruflichen schweren Aufgaben darf der Rentner nicht vergessen, sein Berufsleben so freudig und heiter wie möglich zu führen. Wohl dem, der das in seiner Azubi-Zeit gelernt und mit einer positiven Gesinnung und Familie und Freunden geprägt hat.
Eine glückliche Partnerschaft und eine harmonische Einbindung in eine friedlich funktionierende familiäre Struktur bereichern nicht nur den Alltag, die allgemeine Lebensqualität und emotionale Stabilität und Belastbarkeit, sondern verlängern auch statistisch nachgewiesen die Lebensdauer.
Allein lebende Menschen leben kürzer als partnerschaftlich verbundene. Sogar ein Haustier, um das sich ein alter Mensch kümmern kann, wenn er allein lebt, erhöht erwiesenermaßen die Lebensqualität und die Lebensdauer des alten Menschen. Auch aus diesem Grund gibt es häufig in Altenheimen und Betreuten Wohnanlagen eine Hauskatze, die eine Verbindung zu den alten Menschen untereinander herstellt und Wärme, Fürsorge und Pflichtgefühl fördert.
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Dankbarkeit über die eigene Gesundheit und die Möglichkeiten, den Beruf täglich aufs Neue ausfüllen zu dürfen und vielleicht sogar treue Begleiter in der Familie und in Freunden zu haben, sollte eine dauerhafte Grundhaltung sein.
Das Motto dazu könnte lauten: Die Vergangenheit ist Geschichte, die Zukunft ist Geheimnis, der Augenblick ist ein Geschenk. (Ina Deter)
Es gibt immer Menschen, denen es viel schlechter geht als uns selbst. Ein Blick auf die Intensivstation im nächsten Krankenhaus beweist das. Auch wenn wir selbst auf dieser Intensivstation liegen, ist immer noch eine schlechtere Situation denkbar. Dann brauchen wir die Hoffnung, von der ich vorhin schon sprach.
Auch das Einkommen des Rentners, das er sich in seiner Ausbildungszeit erarbeitet hat und von dem er in der Rente lebt, kann durch Beschäftigung mit Aktivitäten aus der Azubi-Zeit vergrößert werden, indem der Rentner seinen Beruf zumindest stunden- oder tagesweise weiter ausübt.
Wahrscheinlich ist es sehr schwierig, plötzlich mit Beginn des Rentnerberufs ein neues Hobby zu beginnen. Viel sinnvoller und realistischer erscheint es mir, während der Ausbildung zum Rentner solche Hobbys zu entwickeln, die wir dann zeitlich verstärkt in der Rentenzeit nützen können, um Kreativität, Lebensfreude und zwischenmenschliche Kontakte zu erweitern oder positiv zu erleben. Erfahrene Lebensberater sagen, ein Hobby müsse mindestens zwei Jahre lang in den Alltag des Azubi-Rentners integriert sein, damit es nachher in der Rentnerzeit auch sinnvoll, effektiv, dauerhaft und mit Freude ausgeübt wird.
Zwischenbemerkung: Bei hat die Liebe zur klassischen Musik schon als junger Schüler begonnen. Mein Lesedrang begann, als ich lesen lernte und wurde richtig angefacht, als ich als Neunjähriger wegen einer Knochenvereiterung neun Monate zu Hause mit Gipsbein verbringen musste und meine Mutter mir alle zwei oder drei Tage zwei neue Bücher aus der Stadtbibliothek brachte. Meinen Hang zur Literatur und meine Liebe zum kreativen Umgang mit der Sprache habe ich meinem Lateinlehrer zu verdanken. Er war einer der wenigen Lehrer, von denen ich wirklich etwas Bleibendes fürs Leben mitbekam. Als Student fing ich an, Gedichte und lange Briefe zu schreiben und Prosatexte für meine Studentenverbindung, in der Geist und Musik wichtiger waren als Saufen. Mein wichtigstes Werkzeug war eine kleine Schreibmaschine, die ich benutzte, bis ich den ersten PC kaufte..
Wenn man früh genug mit einem oder mehreren Hobbys beginnt und diese während der Berufszeit ausübt, wenn auch in vermindertem Maß, gibt es dann gar keine Zeit, in denen der gut ausgebildete Rentner in ein so oft gefürchtetes schwarzes Loch fallen kann. Denn die 24 Stunden des Tages sind mit der Arbeit an dem in der Einleitung definierten Ziel ausgefüllt. Der gut ausgebildete Rentner ist ein bewusst lebender und arbeitender Mensch. Er hat gute Chancen, sein Arbeitsziel – das ist auch sein Lebensziel! – erfolgreich zu erreichen.
Bei Krankheit werden wir möglicherweise durch körperliche Beeinträchtigung an der gewohnten Bewegung gehindert. Wir müssen/können uns bewusst machen, dass (leider?) Wachstum und seelische Entwicklung durch Leiden erheblich befördert werden.
„Krankheiten sind die Reisen der armen Leute“, sagte Jean
Améry. Hier reifen wir beschleunigt – oft auch gegen unseren momentanen Willen, weil es so schwierig, ja manchmal unerträglich ist. Keiner kommt aus einer Krankheit heraus wie er hineinging. Die Sichtweise auf das Leben mit all seinen Facetten verändert sich mehr oder weniger stark.
Auch Prioritäten verändern sich während der Krankheit. Palliativmedizinische Forschungsprojekte zeigen, dass bei Sterbenden die Qualität der Beziehungen zu Familienmitgliedern oder anderen wichtigen Personen in den Vordergrund rücken und vom Sterbenden oft als wichtiger empfunden werden als das eigene Befinden. Eine Begleitung durch geschulte Hospizmitarbeiter und / oder einfühlsame Freunde und Familienmitglieder ist in dieser Phase der Rentnerarbeit sehr hilfreich.
Da ist das Licht am Ende des Tunnels, auf das wir hoffen dürfen – das große ewige Licht, von dem übereinstimmend viele Menschen in allen Kulturen sprechen, die über Nahtodeserlebnisse berichten.
Das Ziel des Lebens kommt immer mehr in den Brennpunkt der Arbeit des Rentners. Wer an eine Reinkarnation oder ein ewiges Leben unserer Seele glaubt, hat es leichter. Bei der Reinkarnation erhalten wir in einem nächsten Leben eine neue Chance, die Ausbildung zum Rentner und seine Rentenzeit effektiver zu gestalten. Beim ewigen Leben brauchen wir das alles nicht, weil wir bereits am letzten großen Ziel angekommen sind. Und Menschen, die sich sehr gequält fühlen mit ihrem Leben, sehen im Tod eine Erlösung, wenn sie davon ausgehen, dass dann alles Leid ein Ende hat und danach nichts mehr kommt.
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Ein weiterer Gesichtspunkt, der das Rad des Lebens erklärt und zeigt, wie wir uns bewusst auf die Inhalte der Rentnerarbeit vorbereiten können, liegt in der Überlegung, dass wir am Ende des Lebens wieder mehr oder weniger schnell in einen kindlichen Zustand wechseln. Diesen Gedanken hat mein Vater, der Kinderarzt war, schon geäußert, als ich noch Schüler war. Er sagte, er fühle sich „ab siebzig aufwärts“ wieder als Arzt zuständig.
Tatsächlich habe auch ich diese Sichtweise in meiner Arbeit als Kinderarzt und Allgemeinarzt und besonders als Palliativarzt bestätigt gefunden. Dann können Arzt und Familienmitglieder oft mit Verhaltensweisen sehr gut kommunizieren, die beim Kind erfolgreich sind. Ein plakativer Vergleich soll das an einigen Beispielen zeigen.
Das Neugeborenen ist nach der Geburt völlig pflegebedürftig und kann außer den vegetativen Funktionen (Essen, Trinken, Stuhlgang, Miktion, Atmung, Schmerzäußerung) noch nichts aktiv tun.
Der alte Mensch ist am Ende auch völlig pflegebedürftig und kann außer den vegetativen Funktionen nichts mehr tun.
Der Säugling lernt zunehmend Kontrolle über seine vegetativen Funktionen wie und freut sich darüber, weil es ihm als Lernleistung positiv von der Umwelt reflektiert wird.
Der alte Mensch verliert langsam die Kontrolle über diese Funktionen, leidet darunter, wenn er das wahrnimmt, und wird leider zu oft dafür verlacht.
Der Säugling hat noch Windeln.
Der alte Mensch braucht sie wieder. – Ein Freund, früherer Direktor der Paul Hartmann AG, die Fixies-Windeln herstellt, erzählte mir, die Zahl der verkauften Windeln für Erwachsene sei viel höher als die Zahl der Kinderwindeln!
Der Säugling schläft beruhigt im Arm der Eltern ein.
Der alte Mensch ist (oft) beruhigt, wenn seine Kinder da sind und ihn umsorgen.
Während der Zeit des Neugeborenen beschäftigen sich die Eltern am intensivsten mit dem Kind.
Während der Zeit des alten Menschen beschäftigen sich viele Kinder am intensivsten mit den Eltern.
Unruhige Säuglinge können mit der Ruhe im Arm der Mutter oder des Vaters beruhigt werden. Medikamente sind dann oft nicht nötig.
Alte unruhige Menschen können sehr gut von ihren Kindern oder Pflegepersonen beruhigt werden. Auch damit kann die Menge der verabreichten Sedativa erheblich reduziert werden. Ein Merkmal für die gute persönliche Fürsorge von alten Menschen in Pflegeheimen kann die geringe Verordnungsmenge von Beruhigungsmitteln sein! Das erfordert aber eine hohe persönliche Zuwendung!
Beim Säugling wachsen und gedeihen die kognitiven Funktionen (Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Konzentrationsfähigkeit, Reaktionsgeschwindigkeit).
Beim alten Menschen lassen sie immer mehr nach.
Der Säugling lernt, sich anfänglich mit Lauten, dann als Kleinkind mit ganzen Wörtern, später mit vollständigen Sätzen zu verständigen.
Beim alten Menschen geht es genau in der umgekehrten Reihenfolge zum Ende. Besonders dramatisch erkennen wir das an dem degenerierenden Verlauf einer Alzheimer-Demenz, bei der die Sprache und Gedankenwelt des Patienten oft strukturell und in Bezug auf den Wortschatz geradezu zerfällt.
Der Säugling lernt den Gebrauch von Gegenständen als Hilfsmittel.
Das verlernt der alte Mensch wieder.
Der Säugling lernt zu gehen mit Hilfe der Eltern und mit Hilfsmitteln.
Der alte Mensch geht zuerst mit Hilfsmitteln, dann an der Hand bzw. mithilfe der Kinder seine letzten Schritte. Schließlich ist er dauerhaft bettlägerig.
Das Neugeborenen braucht langsam ansteigende Flüssigkeitsmengen, weil der Körper sich auf zunehmende Leistung und Wachstum einstellen muss.
Der sterbende Mensch braucht immer weniger Nahrung und Flüssigkeit, weil der Körper sich auf abnehmende Leistung und Stoffwechsel-Stillstand einstellt. Deshalb sind auch eine (gut gemeinte) Überwässerung und Zwangsernährung eines sterbenden Menschen gefährlich und widernatürlich! Mundpflege und Ernährung nach Wunsch sind besser, weil sie der Situation angemessen sind – auch wenn der Patient stirbt.
Der Säugling hat die Eltern als natürliche und gesetzliche Betreuer.
Der alte Mensch hat (oft) die Kinder oder enge Verwandte als gesetzliche Betreuer.
Das Kind freut sich anfänglich über wenige Pfennige Taschengeld, später über steigende Summen und schließlich über das selbst verdiente Geld.
Der alte Mensch freut sich, wenn er mit der erarbeiteten Rente leben kann. Dann braucht er immer weniger Geld, weil er auf Grund der nachlassenden Fähigkeiten weniger verbrauchen kann. Er verursacht eher mehr Kosten durch die aufwändige Pflege und teure Therapie des Kranken, die entweder von seiner Rente oder von den Kindern bezahlt werden müssen, so wie er einst als Elternteil für seine heranwachsenden Kinder bezahlt hat.
In der Rentner-Azubi-Zeit hat der Mensch mehr Geld und weniger Zeit, es auszugeben. In der Rentnerzeit hat er weniger Geld und mehr Zeit, es auszugeben.
Die Kinder kommen in die Kinderkrippe und bekommen dort die Grippe und/oder andere Virusinfekte und werden dadurch immunstark und wieder gesund. Sie werden dort von Erwachsenen betreut.
Die alten Menschen kommen ins Betreute Wohnen oder Pflegeheim und sterben dort an der Grippe oder einer anderen Infektion, weil sie immunschwach sind. Sie werden von jüngeren Menschen betreut.
Das bedeutet, dass wir am Ende unseres Lebens wieder wie Kinder werden.
Gläubigen hilft dieser Satz: „Wer sich das Reich Gottes nicht wie ein Kind schenken lässt, wird nie hineinkommen.“ (Markus 10, 15)
Es ist bitter und verzweifelnd, das Nachlassen der eigenen Kräfte und Fähigkeiten bewusst zu erleben. Da es aber oft den naturgegebenen Tatsachen entspricht und nur vergleichsweise wenige Menschen aus voller Gesundheit heraus zum Beispiel durch einen Unfall plötzlich sterben, ist es wichtig, dass wir uns seelisch auf diesen degenerativen Verlauf des Lebens vorbereiten.
Deshalb sind die Aufgaben des Rentnerberufs auch die schwersten des Lebens. Wir brauchen eine lange Vorbereitungszeit – ein ganzes Leben! –, um all diese Zusammenhänge zu erleben, zu verstehen, daran zu reifen und sie zu akzeptieren. Hier geht es im wörtlichen Sinn um Leben und Tod.
Wenn wir das mit dem Verstand erfasst haben, kommt die schwerste Aufgabe: Wir müssen diesen Weg emotional annehmen und JA zu diesem Leben sagen – in einem Moment, in dem wir es loslassen. Wenn wir das erreichen, haben wir unser Leben und unsere Aufgabe als Rentner erfüllt.
Ich kenne kein schlichteres und gleichzeitig ausdrucksstärkeres Bild, um unsere notwendige (die Not wendende) Einstellung dazu deutlich zu machen, als dieses:
Dieser Essay ist im Almanach deutschsprachiger Schriftstellerärzte 2013 und in meinem Buch Mein Leben ist bunt erschienen.