Das Testament und die Patientenverfügung

 

Ewige Rechte und ewige Freundschaft soll man befestigen mit Schrift, weil im Laufe der Zeit vergangener und vergänglicher Dinge vergessen wird.

Aus dem Ehrenbürgerbrief der Gemeinde Saas-Fee an den Schriftsteller Carl Zuckmayer

Vorbemerkung: Diesen Artikel aus meinem Buch „Wenn das Licht naht“ habe ich im Februar 2013 überarbeitet und wesentlich erweitert, da sich einige Fakten gegenüber dem Erscheinungsjahr 1997 geändert haben.

24.1 Das Testament hilft zum Leben! 

Wir gehen im Alltag meistens davon aus, dass wir einem Schwerkranken nicht vorschlagen dürfen, sein Testament zu machen, da er dann glauben könnte, wir würden ihn aufgeben oder hätten Interesse an seinem Nachlass. Ich habe mit Schwerkranken über diese Frage gesprochen und erkannt:

Ein Testament kann sehr wohl eine Hilfe zum Leben sein und muss keinen Entschluss zum Tod darstellen. So kann der Patient sein Leben in Ordnung bringen und Anordnungen treffen, damit er besser und ruhiger leben und sich auf die im Moment wesentlichen Dinge wie die Heilung konzentrieren kann. Auch für Sterbende ist das Testament wichtig, damit sie sich auf den geistig-seelischen Prozess konzentrieren können und sich nicht mit materiellen Dingen beschäftigen müssen.

Mein Freund Heinz erzählte neulich, dass er mit seinen fünfzig Jahren in voller Gesundheit das vergangene etwas regnerische Wochenende dazu benützt habe, einen Ordner anzulegen. Darin sind alle seine Versicherungen, Vermögensverhältnisse, Aktien, Kontonummern, Schließfächer und Verbindlichkeiten so übersichtlich zusammengestellt, dass zum Beispiel seine Frau im Falle seines Todes sofort einen vollständigen Überblick hat, um die wichtigsten Schritte gezielt einleiten zu können. Es fehlte nur noch das Testament, aber das wird er in der nächsten Zeit mit seiner Frau gemeinsam schreiben.

Ich regte an, auch noch Bestimmungen für den Ablauf der Trauerfeier und eine Adressen- und Telefonliste der wichtigsten Verwandten und Freunde beizulegen, die informiert oder um Hilfe gefragt werden können. Heinz meinte, es sei schon ein bisschen komisch für ihn gewesen, den Ordner zusammenzustellen, da er ja gerne weiter gut leben wolle. Dennoch musste er zugeben, richtig erleichtert gewesen zu sein, als die Zusammenstellung fertig auf dem Tisch lag.

Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als ich als junger Student einmal am Wochenende nach Hause kam und mein Vater mir in seinem Arbeitszimmer einen Ordner zeigte, auf dessen Rückenschild statt eines Wortes nur ein großes † gemalt war. Er holte ihn heraus und sagte: „Hier steht alles drin, was ihr wissen müsst, wenn ich sterbe. Ich habe den Ordner unterteilt in einzelne Kapitel, was ihr sofort, innerhalb von 24 Stunden und innerhalb von ein paar Tagen nach meinem Tod erledigen müsst! Alle nötigen Adressen, Telefonnummern und die Anordnungen für die Trauerfeier kannst du hier finden.“

Dieses Erlebnis hat mich auch dazu angeregt, mein eigenes Testament zu schrieben, und ich weiß noch sehr genau, dass ich es am Vormittag meines 50. Geburtstags in sehr glücklicher Stimmung geschrieben habe.

24.2 Das Testament und die Patientenverfügung sind ein Teil der Trennungs- und Trauerarbeit 

Herr Walter litt im weit fortgeschrittenen Stadium seiner Leukämie sehr darunter, seine heranwachsenden Kinder im Pubertätsalter nicht mehr erziehen und führen zu können. Ich schlug ihm vor, ihnen einen Brief zu hinterlassen, in dem er seine wesentlichen Ge-danken zur Lebensführung niederlegte. Dieser Vorschlag befreite ihn von einer großen Last. Er schrieb diesen Brief mit Hilfe seiner Frau und übergab ihn den Kindern in einem seiner letzten Gespräche. Ich weiß von seiner Frau, dass er in dieser Beziehung erleichtert starb.

Sie können auch als Patient Ihren liebsten Angehörigen individuell gesprochene Kassetten hinterlassen. Das ist sicherlich eine sehr schwierige und emotional belastende Aufgabe, aber es wäre eine sehr persönliche und bleibende Erinnerung, in der Sie ein Ton- und Sinnvermächtnis hinterlassen könnten.

Aus meiner Zeit als Assistenzarzt in der Kinderklinik erinnere ich mich an Axel, einen achtjährigen Jungen, der mit dem zweiten Schub einer akuten Leukämie in die Klinik kam. Er sagte bei der Aufnahmeuntersuchung: „Ich weiß, dass ich es schaffe, wieder raus-zukommen, aber wir müssen schnell die Therapie machen!“ Beim nächsten Schub sagte er: „Diesmal schaffe ich es nicht mehr. Deshalb habe ich etwas mitgebracht.“ Axel gab uns ein aus dem Schulheft gerissenes Blatt, auf dem in seiner noch ungelenken Kin-derschrift stand: „Mein Taschenmesser bekommt mein Bruder, mein Fahrrad auch. Meine Bücher bekommt mein Freund Tim, und Mama soll Micki67 füttern“. Dann legte er sich ins Bett und bereitete sich mit einer für mich jungen und noch unerfahrenen Arzt beängstigenden Ruhe und Gelassenheit auf seinen Übergang vor. Er starb eine Woche später.

Ein anderes wichtiges Erlebnis hatte ich als frisch niedergelassener Arzt, als ich den jungen Herrn Bayer mit einem weit fortgeschrittenen Melanom68 zu Hause betreute. Er und seine Frau kannten die Diagnose und die Prognose, und wir konnten offen darüber sprechen. Als sich auf Grund der Hirnmetastasen Herrn Bayers Sprache zu verschlechtern begann, wurde ich eines Sonntags bei meinem Besuch mit Herrn Bayers Wunsch konfrontiert: Er wollte unbedingt ein notariell beglaubigtes Testament machen, bevor seine Sprache vollständig versagt. Glücklicherweise gelang es mir, noch an diesem Tag einen Notar ans Krankenbett zu holen, und der Patient konnte wenige Stunden später mit Hilfe des Notars ein rechtsgültiges Testament verfassen. Wir alle, die bei diesem Gespräch dabei waren, spürten, wie schwer es Herrn Bayer fiel, im Angesicht des sicheren Todes seinen letzten Willen zu äußern. Er sank erschöpft und erleichtert in das Kissen zurück, als er seine Unterschrift geleistet hatte. Am Tag danach wurde Herr Bayer bewusstlos und starb kurz darauf.

In diesem Sinn kann man als Vertrauter, als Freund und als Hausarzt auch anregen, bei unklaren Erkrankungen und in schwierigen Lebenslagen letzte Bestimmungen zu treffen, solange der Patient dazu in der Lage ist. Es ist emotional schwierig, solch ein Thema in einer derart kritischen Situation anzusprechen, aber wenn wir es taktvoll und im richtigen Moment schaffen, ist ein Versuch lohnenswert.

24.3 Nicht immer sind endgültige Entscheidungen des Patienten sinnvoll! 

Eine wichtige Ausnahme für weitreichende Bestimmungen liegen zum Beispiel bei einem depressiven Patienten vor, der auf Grund seiner Erkrankung nicht entscheidungsfähig ist. Das bedeutet, dass ein seelisch und geistig Gesunder immer zwischen mehreren Alternativen wählen kann. Ein Depressiver hat keine freie Wahlmöglichkeit.

Das lässt sich an der Geschichte des Ehepaares Lichter zeigen, das in einer verzweifelten Situation zu mir kam. Frau Lichter war der festen Meinung, dass ihr Mann ein Verhältnis mit einer Arbeitskollegin hatte und verfiel in eine tiefe Depression und wollte nur noch „möglichst schnell die Scheidung“. Obwohl Herr Lichter ihr und auch mir in einem vertraulichen Vier-Augen-Gespräch wiederholt versicherte, kein Verhältnis außerhalb der Ehe zu haben, war sie völlig fixiert auf diesen einen Gedanken der Trennung, war unfähig, darüber vernünftig oder gar abwägend nachzudenken. Bei allem Verständnis für die Kränkung, die sie empfand, erkannte ich die Panik und fehlende Wahlfreiheit von Frau Lichter. Es gelang mir nach langem Gespräch, sie wenigstens dazu zu bewegen, jetzt im Moment keine Scheidung einzureichen, solange sie von ihren Gefühlen überflutet war. Wir vereinbarten mehrere therapeutische Gespräche, und Frau Lichter konnte es schaffen, aus ihrer einengenden Depression herauszukommen und mit mehr Distanz über die Situation nachzudenken. Dann erkannte sie ihre Reaktionsmechanismen und konnte sich schließlich frei dazu entscheiden, die Ehe weiterzuführen.

24.4. Die Patientenverfügung

Eine ausführliche Darstellung der Konflikte und Möglichkeiten einer Patientenverfügung finden Sie in meinem Vortrag über die Patientenverfügung.

In der Patientenverfügung legen Sie fest, wie Sie behandelt werden wollen, wenn Sie es nicht mehr selbst sagen oder zum Ausdruck bringen können, z. B. in bewusstlosem oder  dementem Zustand. Im Testament bestimmen Sie, wie es nach Ihrem Tod weitergehen soll mit Ihrem Eigentum und weiteren Verfügungen.

Grundsätzlich ist es sehr wichtig, im Rahmen der Überlegungen, wie Sie Ihre Angelegenheiten regeln wollen, möglichst alte „unerledigte Geschäfte“ bedenken und bereinigen. Der altbekannte Spruch „Lebe jeden Tag, als wäre er der letzte!“ enthält sehr viel Wahres und ist beherzigenswert. Auf jeden Fall sollten Sie Angelegenheiten, die Sie belasten und die Sie für immer entschieden haben wollen, unbedingt entschlossen bearbeiten. Das können Sie möglicherweise schon mit einem Brief oder einem persönlichen Gespräch erreichen. Es wird Sie erleichtern.

Dazu gehören auch so einfache Dinge, wie ich sie vor vielen Jahren einmal erlebt habe. Ich bekam von einem älteren Ehepaar, das ich schon lange nicht mehr gesehen hatte, einen freundlichen Brief und ein Buch, das ich ihnen ausgeliehen und längst vergessen hatte. Sie schrieben, sie seien dabei, ihr Haus zu verkaufen, ins Altenheim zu ziehen und ihre Wohnung in jeder Beziehung aufzuräumen, „… und zu unserer Entlastung(!) schicken wir Ihnen das Buch zurück.“

Ein anderes Beispiel, wie man das Testament zumindest teilweise schon vor dem Tod vollziehen kann, hat mir ein befreundeter Kollege von dem Tod seines Vaters erzählt. Als dieser seinen Tod nahen fühlte, ließ er seine engsten Angehörigen kommen, verabschiedete sich nacheinander von ihnen und verteilte wichtige Dinge, die er im Laufe der Jahre angesammelt hatte und die ihm wertvoll waren.

So kann der Sterbende nicht nur von seinem Besitz Abschied nehmen, sondern auch erleben, wie die Beschenkten darauf reagieren. Diese Freude, wohl vermischt mit Trauer, ist aktive Trennungs- und Trauerarbeit für alle Beteiligten. Nehmen Sie nur das Wichtigste und Wesentliche -das, was Ihr Wesen ausmacht!- auf diesen letzten Weg mit. Sie werden erkennen, dass auch Sie in Wirklichkeit sehr wenig brauchen, um alles zu haben, was Sie zum bewussten und erfüllten Leben benötigen! Dann ist Ihr Weg leichter!

Sie erinnern sich: „Jetzt zählt nur noch die Qualität der Herzen!“ Diesen Satz von Herrn Gruber habe ich schon erwähnt, aber er ist mir so wichtig geworden, dass ich ihn auch in Ihr Gedächtnis prägen will.

Denken Sie bei allen Entscheidungen in Ihrem Leben an folgenden Gedanken: Wenn Sie eine Entscheidung aufschieben, weil Ihnen die Entscheidung aus irgendeinem Grund schwerfällt, haben Sie in diesem Moment die Entscheidung getroffen und vollzogen, dass es so bleibt, wie es ist. Sie haben also entschieden!



67 seinen Hamster

68 der sogenannte „schwarze Hautkrebs“

Copyright Dr. Dietrich Weller

Ein Teil dieses Artikels steh in meinem Buch „Wenn das Licht naht“. Den Abschnitt über Patientenverfügung habe ich am 03. und 04. 02.2013 überarbeitet.

 

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