Der trauernde Mensch

Klären Sie möglichst rasch: Handelt es sich um Traurigkeit, Trauer- und Trennungsprobleme, Ausdruck einer reaktiven Depression oder/und eine andere Depressionsform?

Allen Situationen ist ein trennendes und schmerzvolles Moment eigen, mit dem sich die Patienten auseinandersetzen müssen.

Achten Sie auf Ihre eigenen Gefühle:

Sind Sie hilflos-traurig oder hilflos-ärgerlich oder hilflos-ängstlich?

Aus der Wucht Ihrer eigenen Gefühle können Sie gut auf die Intensität des Mitmenschen schließen und damit Zeit und Energie sparen und die Therapie und Ihr Verhalten in die richtige Richtung lenken.

Die Gefühle, die Sie im Umgang mit dem Patienten spüren, zeigen Ihre persönliche Begabung, eben diese Gefühle zu spüren. Das ist kein Hindernis, sondern eine Hilfe für die Therapierichtung. Ihre Therapie wird mit großer Wahrscheinlichkeit emotional gesteuert, auch wenn Sie rational reagieren wollen. Deshalb sollten Sie über Ihre eigenen Gefühle nachdenken, bevor Sie die Therapie festlegen wollen.

Wenn Sie hilflos-ärgerlich sind, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie unbewusst zum Angriff übergehen, z. B. mit einer Spritze oder einer anderen aggressiveren Therapiemethode. Sie müssen die Therapie finden, die zu Ihnen und dem Patienten passt.

Wenn Sie hilflos-ängstlich sind, könnte es sein, dass Sie zögerlich mit der Therapie sind und vielleicht zu wenig unternehmen oder zu unentschlossen entscheiden und handeln.

Wenn Sie hilflos-traurig sind, besteht die Gefahr, dass Sie sich mit dem Mitmenschen / Patienten identifizieren und nicht genügend Distanz haben, um eine sachlich gerechtfertigte Therapie / Verhaltensweise zu beschließen und durchzuhalten.

Wenn Sie im Umgang mit einem Menschen Aggression verspüren, weil er in seinem Gespräch oder Leben nicht vorwärts kommt, kann es sein, dass Sie seine verdrängte Aggression spüren, die sich bei ihm als Depression manifestiert. Dies ist ein wichtiges diagnostisches Merkmal, das im Gespräch rasch zur Diagnose führen kann! Sie können also ihre eigene Aggression als diagnostisches Kriterium nützen und gezielt weiter nach Zeichen einer Depression suchen.

Depression ist meist eine verdrängte Form der Aggression, die sich gegen den Menschen selbst richtet (= Autoaggression!). Die extreme Form der Aggression ist der Mord. Die extreme Form der Autoaggression / Depression stellt der Suizid [1] dar. Deshalb müssen wir uns bei einem Suizid immer fragen, wem die Tötung wirklich gegolten hat.

Stellen sie fest, wie viel Energie der Patient noch hat. Wenn er „am Ende“ ist, müssen Sie schneller handeln. Bauen Sie dann keine zusätzlichen Widerstände durch Fragen und Vorschriften auf, sondern handeln Sie konsequent.

Wenn Sie das Gefühl haben, dass der Patient suizidal ist, handeln Sie entschlossen und ohne schlechtes Gewissen, ihn einweisen zu müssen.

Trauerarbeit ist Erinnerungsarbeit.

In jedem Fall ist es hilfreich, den trauernden Patienten dazu anzuhalten, über den „Verlorenen“ zu sprechen. Dieser muss sozusagen noch einmal „auferstehen“, um dann möglichst liebevoll losgelassen werden zu können.

Hören Sie zu! Und stoppen Sie den Trauernden nicht mit einer Geschichte, die Sie erlebt oder gehört haben und die noch schlimmer ist. Sie müssen sich nicht profilieren. Der Trauernde hat jetzt Vorrang.

Lassen Sie sich Bilder zeigen, sprechen Sie über den vermissten Partner auch dann, wenn zum Beispiel ein junges Mädchen schrecklich sauer ist, dass der Freund sie verlassen hat. Zeigen Sie Ihr Interesse an der Persönlichkeit des Freundes.

Ermuntern Sie die Patienten, sich intensiv mit dem Verlorenen zu beschäftigen und den Schmerz zu spüren. Dann kommen die Patienten leichter darüber weg, auch wenn sie im Moment mehr Schmerz fühlen und lieber alles verdrängen würden.

Trauer und Angst sind leichter zu überwinden, wenn wir uns damit konfrontieren statt sie zu verdrängen. Wir haben nur eine bestimmte Menge an „Trauer-Energie“. Wenn sie aufgebraucht ist, kann das normale Leben wieder Raum gewinnen.

Bei der Trauer haben wir nur die Wahl, sie jetzt seelisch zu spüren oder in geraumer Zeit in Form von psychosomatisch ausgelösten Beschwerden wie Schlafstörungen, Magenge-schwüren, Atemstörungen oder ähnlichen Symptomen, die schließlich eine Psychotherapie nötig machen.

Insofern ist es auch richtig, die Patienten zu ermuntern, die Trauerfeier nicht im Nebel eines Tranquilizers, sondern im vollen Wachbewusstsein zu erleben. Die Südländer können ihre Trauer ausleben und sind wesentlich schneller wieder frei für neue Gefühle und den normalen Fortgang des Lebens.

Wollen Sie sympathisch oder empathisch reagieren?

Sympathisch [2] reagieren bedeutet in diesem Zusammenhang, sich mit dem Trauernden zu identifizieren, das heißt, ich reagiere, als ob ich an seiner Stelle wäre. Ich lade mir sein Problem auf und leide daran. Sympathische Reaktionen vermitteln menschliche Nähe und verhindern therapeutische Distanz.

Empathisch [3] reagieren bedeutet, dass ich mich in den Trauernden hineinversetze und mir klar mache, warum er so empfindet und reagiert, und dabei mache ich mir gleichzeitig klar, dass seine Empfindung und Probleme nicht meine sind, ich sie also auch nicht lösen muss. Deshalb leide ich auch nicht daran. Damit kann ich eine diagnostische und therapeutische Distanz wahren und den Patienten verstehen und ihm das Gefühl geben, dass ich ihn verstehe. Empathische Reaktionen vermitteln menschliche Nähe und therapeutische Distanz.

Es ist eine sehr individuelle Entscheidung, ob Sie einen Menschen umarmen wollen, z. B. wenn er oder sie verzweifelt neben dem Bett eines soeben verstorbenen Angehörigen steht. Es ist in Ordnung, wenn Sie Ihre eigene Betroffenheit zeigen, aber dann sollten Sie unbedingt in die Distanz der empathischen Haltung zurückkehren.

Ein gezieltes empathisches Verhalten ist immer richtig. Ein sympathisches Verhalten (zum Beispiel mitzuweinen) ist sicherlich echt empfunden und insofern richtig. Allerdings können Sie das Problem bekommen, dass Sie nicht mehr objektiv handeln können, weil Sie die innere Distanz nicht mehr erreichen, die dazu nötig ist.

[1] Bitte benützen Sie nicht das Wort Selbstmord, weil Mord in unserem Sprachgebrauch vorsätzliche Tötung aus niedrigem Beweggrund bedeutet. Besser sind die Wörter Suizid oder Selbsttötung.

[2] wörtlich: Mitfühlend, mitleidend

[3] wörtlich: Hineinfühlend

 

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

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