Erinnern Sie sich an Rolf?

Mein Beitrag zum BDSÄ-Kongress in Wismar, Donnerstag 10.05.2018, 16 Uhr in der Lesung zum Thema „Wenn die Liebe ruft“

„Erinnern Sie sich an Rolf?“

Als ich 2012 begann, in der Notfallpraxis im Krankenhaus Leonberg Sprechstunde zu machen, begegnete ich einer Krankenschwester, die jetzt in der Anästhesie-Abteilung in Leonberg arbeitete und die in den 70-er-Jahren während meiner Weiterbildung zum Kinderarzt im Olgahospital Stuttgart auf meiner Station tätig war. Nach wenigen Sätzen fragte sie unvermittelt: „Erinnern Sie sich an Rolf?“

Sofort war mir das Bild präsent. Ich wusste genau, wen sie meinte, obwohl es viele Männer mit diesem Namen gibt. Aber dieser Rolf, den wir auf der Station bereits 1976 kennengelernt hatten, war offensichtlich auch in ihrem Herz unvergesslich eingeprägt.

Der damals neunjährige Rolf wurde von der Chirurgie auf meine internistische Station verlegt. Er hatte bei einem Verkehrsunfall mehrere komplizierte Frakturen und ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Nach Verheilung seiner Brüche lag er auf meiner Station, weil er immer noch bewusstlos war und keiner wusste, ob er noch einmal aufwachen würde. Ich muss gestehen, dass ich in meiner Unerfahrenheit die Chancen für Rolf sehr gering einschätzte. Jeden Tag kam die Mutter aus einer entfernt liegenden Stadt zu uns, setzte sich mit einer unendlichen Geduld an sein Bett, erzählte ihm Geschichten, sang ihm Lieder vor, streichelte und massierte ihn und half der Krankengymnastin bei ihren Übungen mit dem bewusstlosen Jungen. Ich muss ehrlicherweise zugeben, dass ich insgeheim die Frau etwas belächelte und damals glaubte, sie beruhige eigentlich nur sich selbst mit ihrem Tun.

So ganz nebenbei erfuhr ich dann, dass sie kurz vor Rolfs Unfall ihren Mann durch eine Krankheit verloren hatte und noch mitten in der Trauerphase war. Und so dachten wir, dass sie sich auch ablenken würde mit den Besuchen bei Rolf. Sie sagte einmal zu mir in einer stillen Stunde ganz ruhig: „Wissen Sie, ich muss alles für Rolf tun. Noch einen aus der Familie zu verlieren, das kann ich nicht! Ich weiß, dass er aufwacht!“

Die Schwestern berichteten immer wieder, dass Rolf tagsüber sehr unruhig war und sich nicht ansprechbar dauernd hin und her bewegte. Aber wenn die Mutter ins Zimmer kam und ihn auch nur kurz ansprach, wurde er ruhig. Es schien so, als ob er ihr zuhörte, wenn sie wieder ein Märchen erzählte oder ein Lied sang. So begann auch ich, an meiner hoffnungslosen Meinung zu zweifeln.

Eines Tages, kurz vor Rolfs zehntem Geburtstag, erzählte Rolfs Mutter ihm, wie es wäre, wenn er jetzt gesund zu Hause feiern könnte. Dann würde sie ihm seine Lieblingsspeise als Festessen machen. In diesem Moment öffnete sich langsam Rolfs Mund, und ganz leise, langsam und gut verstehbar kam das Wort „S-p-a-g-h-e-t-t-i“ heraus.

Wir waren fassungslos, weil wir das nicht erwartet hatten. Ich schämte mich über meinen Pessimismus und meine etwas abschätzige Meinung, die ich über die Mutter gehabt hatte. Gleichzeitig spürten wir alle eine riesige Freude und Dankbarkeit über das, was uns wie ein Wunder vorkam und vielleicht wirklich eines war.

Von diesem Moment an ging’s sichtbar bergauf mit Rolfs Heilung. Er wurde wacher und wacher, begann mit Hilfe seiner Mutter fleißig Gymnastik zu machen und lernte, an Krücken völlig neu zu gehen. Da er schwere Bein- und Hüftfrakturen gehabt hatte, war das sehr kompliziert und langwierig. Aber diese Frau, seine bewundernswerte Mutter, hat es geschafft, ihm immer wieder Mut zu machen und so seine Fort-Schritte im wörtlichen Sinn wirksam zu unterstützen. So konnte Rolf einige Monate nach seinem Unfall auf eigenen Beinen das Krankenhaus verlassen.

Ich habe oft an ihn gedacht. Etwa zehn Jahre später, als ich längst meine eigene Praxis hatte, meldete meine Arzthelferin „Da ist jemand, der Sie nur mal kurz sprechen will.“

Als er hereinkam, erkannte ich ihn nicht sofort, aber als er seinen Namen nannte, umarmte ich ihn mit herzlicher Freude. Er war mittlerweile ein gut aussehender junger Mann geworden, mitten in seiner Ausbildung zum Bankkaufmann. Und wenn ich nicht sehr genau hingeschaut und hingehört hätte, wären mir sein ganz geringes Hinken und ein kleiner Sprechfehler nicht aufgefallen.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

PS: Diese Geschichte habe ich bereits in meinem Buch „Wenn das Licht naht“ geschrieben und für den BDSÄ-Kongress minimal abgeändert.

 

 

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