Fahrlässig?

Der Notarztwagen brachte mich an die Unfallstelle. Ich hatte über Funk während der Anfahrt nur gehört, es sei ein schwerer Autounfall gewesen. Meine Nerven waren angespannt. Ich versuchte gedanklich zu ordnen, was zuerst zu tun, zu beachten sei. Trotz langjähriger Erfahrung als Notarzt waren diese Minuten auf dem Weg zu Verletzten immer besonders spannend für mich. Wenn ich an der Unfallstelle bin und weiß, was los ist, kann ich Entscheidungen treffen und handeln und habe keine Zeit mehr, auf meine Verfassung zu achten.

Der Wagen bremste kreischend vor einem großen Müllauto. Eine Menschenmenge hatte sich angesammelt wie so oft an einer Unfallstelle. Ich war häufig wütend gewesen über das rücksichtslos Verhalten der Gaffer, die Rettungsarbeiten behindern.

Einmal hatte mich ein Mann besonders behindert, der sich zu dem Unfallauto vorgedrängt hatte, um auch wirklich alles zu sehen. Ich wies ihn zurecht, und hinterher meinte der Sanitäter: „Herr Doktor, mit dem hätten Sie aber nicht so scharf sein dürfen, das war der Bürgermeister von der Ortschaft!“ Ich meinte damals verärgert: „Dann erst recht müsste er wissen, dass man Rettungsmannschaften nicht behindern soll!“

Aber diesmal gingen die Menschen auseinander, als ich auf den jungen Mann zutrat, der am Boden lag. Ein Mann in mittlerem Alter kniete neben ihm und schluchzte immer wieder: „Junge, du musst es schaffen, bitte, bitte! Was hab ich bloß getan! Verzeih mir!“

Mit einer kurzen Frage erfuhr ich die Geschichte: Der Vater war als Fahrer bei der Müllabfuhr beschäftigt und hatte seinem Sohn einen Ferienjob in der Firma besorgt und ihn in seinem Wagen mitgenommen. Als der Sohn den Vater rückwärts an eine Hauswand einweisen wollte, um die Mülleimer geschickt aufladen und entleeren zu können, wurde der Sohn so unglücklich zwischen Wagen und Wand eingeklemmt, dass die Stellfläche für die Mülleimer ihm direkt in den Bauch gedrückt wurde. Von außen war dem jungen Mann keine Verletzung anzusehen, aber ich wusste, dass gerade sogenannte stumpfe Bauchtraumen besonders heimtückisch waren. Der Patient lag in tiefem Schock und hatte sehr wahrscheinlich innere Verletzungen mit möglicherweise tödlichen Blutungen.

Der Vater war völlig verzweifelt und bat mich sehnlichst, während der Fahrt bei seinem Sohn bleiben zu dürfen. Ich willigte ein, und er stieg vorn auf den Beifahrersitz. Der zweite Rettungssanitäter blieb bei mir und dem Verletzten hinten. Wir öffneten das kleine Fenster im Wagen, und so konnte der Vater während der Fahrt zu uns nach hinten schauen und mit uns sprechen. Nachdem ich den Jungen im Wagen rasch transportfähig gemacht und auf der Liege angeschnallt hatte, fuhren wir los.

Der Blutdruck des Patienten sank rasch, wie ich es befürchtet hatte. Das war für mich auch ein zusätzliches Zeichen für die vermutete Bauchraumblutung. Ich legte zwei zusätzliche Infusionen an und versuchte alles, um den Patienten lebend in die Klinik zu bringen. Der Vater war außer sich vor Selbstvorwürfen, und immer wieder fragte er: „Kommt er durch?“ Er flehte mich an, alles zu tun, noch schneller zu handeln. Und ich hatte schon drei Infusionen mit Blutersatzlösungen zur Kreislaufstabilisierung gleichzeitig laufen!

Bereits beim Abfahren am Unfallort hatten wir die Klinik alarmiert, trotz des vollen Programmes sofort einen Saal freizumachen, damit der Patient unverzüglich operiert werden könne. Als wir ankamen, war alles vorbereitet. Eine rasch durchgeführte Bauchspülung zeigte eine Blutung an. Der junge Mann kam sofort in den hastig umorganisierten Operationssaal. Das Team stand bereit, der lebensentscheidende Kampf begann.

Der erfahrene Oberarzt, die Ruhe in Person und ein sehr geschickter Chirurg, sollte operieren. Bevor er in den Operationsbereich ging, sagte er zu dem besorgten Vater: „Ich werde alles tun, was ich kann, um Ihren Sohn zu retten, aber es ist sehr, sehr ernst!“

Ich saß zeitweise vor dem Operationstrakt bei dem Vater und der inzwischen dazugekommenen Mutter. Ich bot an, mit den Eltern in einen anderen Raum zu gehen, wo sie unbeobachtet sein könnten von den vielen Menschen, die ständig vor dem Operationstrakt hin- und herliefen, aus- und eingingen. Nein, das wollten sie nicht, so nahe wie möglich wollten sie bei dem Jungen sein. Am liebsten wären sie neben dem Operationstisch gestanden.

Der Vater geriet völlig außer sich: „Ich bring mich um, wenn er stirbt. Das ertrag ich nicht!“ Er weinte, betete, jammerte, schluchzte und war nicht zu beruhigen. Ich konnte nichts tun, als immer wieder zu ihnen zu gehen, wenn ich mich von meiner Arbeit in der Ambulanz losreißen konnte. Die Eltern waren mit ihrem Schmerz allein.

Jedesmal, wenn die Tür zu dem Operationsbereich aufging, schauten sie auf und hofften auf eine Nachricht. Und an diesem Morgen lief wie immer werktags ein großes Operationsprogramm in drei Sälen gleichzeitig. Dementsprechend herrschte viel Betrieb, und das Warten wurde länger und schwieriger. Auch die Mutter weinte und versuchte, sich und ihren Mann zu trösten: „Er wird es schaffen, ganz bestimmt, er ist doch immer so stark gewesen! Und die Ärzte tun alles, um ihn zu retten, er wird es schaffen! Wir müssen ihn nicht hergeben. Vertrau drauf!“

Nach endlos scheinender Zeit ging die Tür auf, der Oberarzt kam heraus, noch in seiner grünen Operationskleidung, verschwitzt, abgekämpft und setzte sich neben die Eltern. Er nahm die Hand des Vaters und der Mutter und schaute sie an. Die Eltern waren bis zum Äußersten angespannt: „Und?“ Der Oberarzt schüttelte nur langsam den Kopf.

Sein mitfühlender Satz: „Sie müssen jetzt sehr stark sein!“ ging in einem Aufschrei des Vaters unter, der auf den Boden sank, in sich zusammengekauert wie ein kleines Kind, und wimmerte. Er konnte nicht mehr weinen. Die Mutter kniete neben ihn und umfing ihn schützend, schluchzend. Es war ein Bild der vollständigen Verzweiflung eines Elternpaares.

Die Minuten danach kann und will ich nicht beschreiben. Es wäre nur ein untauglicher Versuch zu schildern, was das Schicksal mit den Gefühlen anrichtet, wenn ein Vater sich am Tod seines geliebten Sohnes schuldig fühlt und mit der Mutter des Kindes den unvorstellbaren Riss im Herzen spürt. Ich denke, ein Außenstehender kann auch nicht annähernd fühlen und schon gar nicht in passende Worte fassen, was in diesen Momenten in und zwischen diesen beiden Menschen ablief. Wir ließen den Eltern Zeit und führten sie dann in einen Raum, wo sie sich, so weit es eben in dieser Verfassung möglich war, ihrer maßlosen Trauer überlassen konnten.

Jahre später erfuhr ich, dass der Vater sich das Leben genommen hatte.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diese Geschichte habe ich in dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

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