Mein besonders Weihnachtsgeschenk

Es begann wie ein übliches harmonisches Weihnachtsfest in unserer Familie. Noch wußte ich nicht, dass etwas für mich Lebensprägendes geschehen würde. Meine Eltern, die Großmutter und wir beiden Kinder waren eingestimmt auf den Heiligen Abend und auf die Bescherung unter dem festlich geschmückten Baum mit den selbst gebastelten Figuren, die meine Mutter, meine Schwester und ich mit der Laubsäge aus Sperrholz geformt und mit Lackfarbe angemalt hatten. Da hingen Nikolausmänner mit roten Mänteln und weißen Bärten, kleine Züge mit grünen und blauen Anhängerwagen und grau dampfender Lokomotive, gepunktete und gestreifte Bälle, rosa, blaue, rote und weiße Blumen, lachende Sonnen, niedliche kleine Bären und allerlei Fantasiefiguren an der zimmerhohen Tanne mit dem silbrigen Stern auf der Spitze. Dazwischen hatten die Eltern unsere verschiedenen selbst gefertigten Strohsterne gehängt, und der Baum trug so auch in diesem Jahr einen für uns besonders wertvollen Schmuck, denn unsere Kombination aus Basteleien gab es nirgendwo sonst. Es war uns wichtig, diese Sammlung ständig wachsen zu lassen und uns an Weihnachten immer neu daran zu freuen.

Nach der mit Spannung erwarteten Bescherung mit schönen Geschenken setzten wir uns an den Eßtisch und genossen das Abendessen. Wie immer hatte Mutter ein köstliches Essen vorbereitet: zartes Roastbeef und den leckeren schwäbischen Kartoffelsalat, und wir freuten uns an der gemütlichen Runde. Als wir anschließend miteinander musiziert hatten und die Kerzen wieder am Baum brannten, holte mein Vater ein kleines Heftchen hervor: „Hört mir bitte mal zu!“

Er begann mit einer kurzen Erklärung: „Diese Weihnachtsgeschichte habe ich vor ein paar Tagen von einem Pharmareferenten geschenkt bekommen. Ich will sie euch vorlesen.“ Das war ungewöhnlich, denn Vater las normalerweise nicht vor.

Wir schenkten uns noch etwas zum Trinken ein, um seine Erzählung nicht unterbrechen zu müssen, und setzten uns bequem in die Polstersessel. Die stattliche Weihnachtskerze brannte auf dem runden Tisch auf einem mit geschmückten Tannenzweigen bedeckten Porzellanteller, der auf der Brockattischdecke mit den wertvollen Stickereien stand. Die indirekte Wohnzimmerbeleuchtung verbreitete einen warmen Ton.

Vater begann zu lesen, und ich spürte mit jeder Zeile immer deutlicher, wie wichtig es ihm war, gerade diese Geschichte vorzutragen. Ich fühlte, wie er innerlich in der Handlung mitging und ergriffen wurde von der Dramatik. Wichtig war und ist für mich, was in dieser Erzählung, in meinem Vater und in mir dabei geschah.

Ich weiß nicht mehr, wie die Geschichte hieß, auch nicht mehr den Autor. Denn als ich einige Jahre später das Heft suchte, war es nicht mehr da. Ich habe die Geschichte nur an diesem Abend gehört und sie so intensiv erlebt, dass ich sie jetzt nach über vierzig Jahren leicht und mit neuer Erschütterung aus dem Gedächtnis erzählen kann.

Dr. Konrad saß in einer abgelegenen Gegend am Heiligen Abend mit seiner Frau im Wohnzimmer ihres großen Landarzthauses. Der Baum war geschmückt, die Kerzen brannten, aber das Haus war erfüllt von großer Trauer. Die Eltern wussten, dass Katharina, ihre kleine Tochter, im Sterben lag. Gerade am großen Geburtstag des Christuskindes würde ihr einziges Kind sterben. Die Eltern waren in ihrer Verzweiflung und Schicksalsergebenheit zusammengerückt. Sie hatten Kathys Bett ins Wohnzimmer neben den Baum gestellt, um ihr ein letztes Fest zu schenken. Jetzt saßen sie auf harten Stühlen neben dem bewusstlosen Mädchen. Dr. Konrad legte seinen Arm um seine Frau, und sie streichelten die blassen Hände und das hohläugige Gesicht ihres Kindes.

In diese heilige Stimmung platzte ein lautes Pochen an der Haustür. Die beiden Eltern zuckten zusammen und schauten einander fragend an. Dr. Konrad löste sich langsam von seiner Frau und der Tochter, sein Gesicht bekam ärgerliche Falten. Er ging hinaus zum Eingang, schob den Riegel zur Seite und öffnete. Ein Mann stand schneebedeckt und schlotternd vor ihm: „Herr Doktor,“ drängte er sofort, „wir brauchen Ihre Hilfe! Kommen Sie schnell!“

Dr. Konrad musterte den verschneiten Besucher im dämmrigen Licht, dann sagte er: „Herr Moser, jetzt erkenne ich Sie erst, Sie haben ja einen langen und schwierigen Weg hinter sich von Ihrem Hof hierher, und das in diesem Schneetreiben! Was ist denn los? Kommen Sie herein!“

Schon im Hausflur sprudelte der späte Gast sein dringendes Anliegen heraus: „Herr Doktor, meine Tochter, die Resi, ist vom Heuboden fünf Meter heruntergefallen, sie liegt bewusstlos in unserer Scheune und stirbt, wenn Sie nicht sofort helfen! Schnell Ihren Mantel und die Tasche!“

Dr. Konrad zuckte kaum sichtbar zusammen und nach einem kurzen Blick in die sorgenvoll geweiteten Augen des Bauern öffnete er die Wohnzimmertür und machte eine einladende Geste: „Bitte, kommen Sie zuerst herein!“ Herr Moser beharrte: „Nein, nein, lassen Sie uns sofort fahren! Bitte! Es ist sehr dringend!“

Aber Dr. Konrad war schon vorausgegangen und führte Herrn Moser an Katharinas Bett. Frau Konrad begrüßte ihn knapp, und er spürte die Mischung aus erzwungener Freundlichkeit und dem unausgesprochenen Vorwurf: Wie können Sie es wagen, uns jetzt zu stören?!

Dr. Konrad schluckte und bemühte sich, seine Stimme sachlich klingen zu lassen: „Herr Moser, unsere Kathy wird heute Nacht sterben. Und Sie wollen mich jetzt hier wegholen, weil Ihre Resi bewusstlos in der Scheune liegt.“

Es wurde plötzlich eiskalt im Raum. Frau Konrads Augen weiteten sich vor Schreck, als sie die Gefahr erkannte. Sie war auf dem Sprung wie eine Löwin, deren Junge bedroht werden.

Herr Moser schrak zusammen. Mit dieser tragischen Situation hatte er nicht gerechnet, schon gar nicht bei seinem immer einsatzbereiten Hausarzt. Eine Weile schwieg er. Langsam zog er seine kalten Finger aus den dicken Handschuhen, rieb sie aneinander, hauchte sie an und schaute verlegen auf den Boden. Dabei trat er von einem Stiefel auf den anderen, und langsam breitete sich um ihn eine Lache von Schneewasser aus.

Dann blickte er langsam auf, schaute Dr. Konrad direkt an und sagte mit fester Stimme: „Bitte kommen Sie mit! Ich habe meiner Frau und Resi versprochen, Sie mitzubringen. Bitte, Herr Doktor!“

Dr. Konrad schüttelte den Kopf: „Ja, aber Sie sehen doch, dass meine Kathy und meine Frau mich brauchen! Das ist für mich genauso wichtig wie Ihre Familie für Sie!“ Jetzt war Dr. Konrads Stimme wieder entschlossener: „Wir haben monatelang mit allen guten Ärzten um Kathy gekämpft, sogar in der Universitätsklinik waren wir mit ihr. Da kann ich sie doch jetzt nicht allein lassen, wo sie sterben wird!“

Frau Konrad mischte sich ein, ihre Stimme klang scharf, und sie fuhr Herrn Moser an: „Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen? Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, daß Sie meinen Mann von unserem sterbenden Kind wegholen! Das lasse ich nicht zu!“

Herrn Moser wurde heiß, er knöpfte den Mantel auf. Sein herbes Bauerngesicht, das lebhafte Geschichten über die entbehrungsreiche Landarbeit erzählte, wurde blass, als er leise zu Dr. Konrad sagte: „Ich verstehe ja Ihren großen Kummer, niemand versteht ihn besser als ich. Meine Resi stirbt nämlich auch!“ Und er setzte nach: „Wenn Sie nicht sofort mitgehen!“

Dr. Konrad ließ sich auf den Stuhl fallen, stützte seinen Kopf in die Hand und sagte mehr zu sich als zu den Umstehenden: „Ich kann doch jetzt nicht gehen!“ Frau Konrad stellte sich hinter ihn und legte ihm ihre Hände festhaltend auf beide Schultern: „Ja, Fritz, du bleibst da!“ Danach schaute sie Herrn Moser offen und triumphierend ins Gesicht, und dieser fühlte ihre Entschlossenheit.

Herr Moser überlegte. Er ging ein paar Schritte im Zimmer auf und ab und zog die Wasserspur hinter sich her. Dann schob er den leeren Stuhl vor den Doktor und setzte sich so darauf, dass er dem blassen Arzt Auge in Auge gegenüber saß. Er legte ihm die rechte Hand auf das Knie und sagte mit einer drohend leisen Stimme: „Wenn Sie nicht sofort mitkommen und meine Resi stirbt, sind Sie schuldig. Dann verklage ich Sie wegen unterlassener Hilfeleistung!“

Dr. Konrad reagierte nicht. Er schaute durch den entschlossenen Vater hindurch. Dann drehte er sich langsam zu Katharina, legte seine Hand auf ihren Kopf, und ihr Gesicht verschwamm hinter seinen Tränen.

Als Herr Moser spürte, dass seine Drohung nicht wirkte, versuchte er, mit weicherer Stimme sein Ziel zu erreichen: „Herr Doktor, Ihr Kind stirbt sicher, mein Kind stirbt nur, wenn Sie nicht kommen!“ Er machte eine Pause, um den Satz in Dr. Konrads Bewusstsein hineinfließen zu lassen wie einen Tropfen einer Chemikalie, die eine trübe Flüssigkeit klärt. Der Doktor rührte sich nicht.

Herr Moser bekräftigte seine Aussage: „Ihre Kathy können Sie nicht mehr retten, so leid es mir tut. Aber meine Resi könnte mit Ihrer Hilfe noch viele Jahre gesund leben.“ Und dann betonte er jedes Wort: „Herr Doktor, wir vertrauen auf Sie!“

Frau Konrad kniete neben Kathy auf dem Boden und beobachtete ihre kaum sichtbaren Atembewegungen und dann ihren Mann, der wie in einer Glaskapsel von ihr getrennt war und jetzt ringend seine Hände knetete. Die Wanduhr tickte monoton, und Herr Moser schaute auf das Zifferblatt, um zu kontrollieren, wie lange er noch brauchen würde, um endlich mit dem Doktor nach Hause fahren zu können.

Da floss eine sanfte Bewegung durch den Arzt. Dr. Konrad nahm behutsam den Kopf seiner Kathy in beide Hände, küsste sie auf die Stirn und auf den Mund und stand auf. Tränen liefen über seine Wangen, und sein Blick zeigte, dass er sich entschieden hatte. Er umarmte wortlos seine schluchzende Frau, die ihn umklammerte: „Bitte, bitte, bleib da!“

Aber sie kannte ihren Mann aus den vielen Jahren der Ehe und seiner hingebungsvollen Arbeit. Er würde bis zu seinem letzten Moment helfen und noch an seinem eigenen Krankenbett Patienten empfangen. Sie konnte ihn nicht halten. Langsam ließ sie ihn los, und ihre Schultern sanken resigniert herab.

Er zog den dicken Winterpelz mit der Kapuze und die Fellschuhe an, nahm die Tasche mit den Instrumenten und Medikamenten und stapfte schweigend und ohne zurückzuschauen in das schwere Schneetreiben zum Pferdefuhrwerk hinaus.

Herr Moser verbeugte sich linkisch vor Frau Konrad und sagte mit weicher Stimme: „Danke, Frau Doktor, und eine gesegnete Weihnacht!“ Er zögerte, und dann ergänzte er: „Ich meine wirklich: Gottes Segen für Sie und Kathy in dieser Nacht!“ Dann drehte er sich um, knöpfte im Hinausrennen seinen Mantel zu, legte den warmen Schal um den Hals, setzte die Mütze mit den Ohrenklappen auf und half Dr. Konrad, der gerade auf die offene Bank der Kutsche stieg.

Frau Konrad stand vor der Haustür und blickte dem peitschenknallenden Bauer und ihrem auf dem Kutschbock kauernden Mann schweigend nach, als diese in rascher Fahrt den Hof verließen und in die schneeflockenerfüllte Nacht eintauchten. Sie verschloss sich mit zitternden Händen den Mund, um nicht ihre übermächtige Hilflosigkeit, Angst, Wut, Trauer und Hoffnungslosigkeit und ihr endloses Gefühl des Verlassenseins in die Heilige Nacht hinaus zu schreien.

Als der Pferdewagen schon lange im Schneegestöber verschwunden war und die unheimliche Ruhe der Nacht sie umfing, schloss sie am ganzen Leibe bebend und mit weißen Flocken auf ihrem Umhang die Tür und kehrte in das warme Zimmer zu der Tochter zurück.

Kurz vor dem Morgengrauen kam der erschöpfte Doktor mit der Kutsche zurück. Er eilte mit seiner schneebedeckten Kleidung und den nassen Stiefeln ins Wohnzimmer, wo das spärliche Licht einer einzigen Kerze das starre Gesicht Kathys beschien. Er sank weinend neben Kathy auf die Knie und küsste sie auf die kalte Stirn und den leblosen Mund. Dann legte er schluchzend seine Arme um seine Frau, die mit ihren leer geweinten Augen durch ihn hindurchschaute. Frau Konrad ließ die Umarmung teilnahmslos geschehen.

Nach einer ganzen Weile brach Dr. Konrad das Schweigen: „Aber ich hab doch wenigstens die Resi retten können!“ Seine Frau schaute ihn aus ihren rot geränderten und geschwollenen Augen an, schüttelte langsam den Kopf und verschloss ihm mit tonloser Stimme den Mund: „Du warst nicht dabei!“

Die letzten Zeilen hatte mein Vater mit stockender Stimme gelesen, die Tränen liefen über seine Wangen, und ich sah ihn durch meinen eigenen Schleier zum ersten Mal weinen.

Das war ein besonderer Weihnachtsabend, weil mein Vater eine Geschichte vorgelesen hatte, die ihn mir sehr nahe brachte. Ich habe sie als sein wertvollstes Weihnachtsgeschenk bis heute im Gedächtnis und im Herzen getragen.

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diese Geschichte habe ich in meinem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere Kurzgeschichten veröffentlicht.

 

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