„Wir müssen ins alte Industriegebiet, dort hat eine Frau starke Schmerzen!“, sagte der Rote-Kreuz-Fahrer, als ich an dem Sonntagspätnachmittag in den Notarztwagen stieg. Wir fuhren durch die menschenleere Stadt und freuten uns in der Sommerhitze am Fahrtwind, der durchs offene Fenster blies. Schließlich kamen wir in die Gegend mit abbruchreifen Häusern, und verwahrloste Grundstücke waren angefüllt mit Müll, alten Reifen und Schrott aus zerlegten Autowracks.
Das Navigationsgerät dirigierte zu uns zu einem verfallenen Einfahrtstor aus zerrissenem Maschendraht, dahinter sahen wir ein zweistöckiges Haus mit einem verwitterten Firmennamen an der abbröckelnden Fassade. Die Holzläden hingen schräg in den Angeln und klapperten im aufkommenden Abendwind. Die zersplitterten Glasscheiben in den dreckigen Fenstern stachen mit ihren Spitzen in die Luft. Als wir durch ölverschmierte Pfützen und steinige Schlaglöcher über den Hof fuhren, fragte der Fahrer: „Wohnt hier wirklich jemand? Die Adresse stimmt!“
Wir betraten den Hausflur durch die angelehnte Eingangstür, die kein Schloss mehr hatte. Stickige Luft schlug uns entgegen. „Hallo, wo sind Sie?“, rief ich in die Stille und sah mit einem kurzen Blick, dass die Büroräume im Erdgeschoss längst verlassen waren, alte Aktenordner und ein Stuhl lagen am Boden, leere Schränke starrten uns offen entgegen. Mit einem Fingerzeichen bat ich den Fahrer die Treppe hoch zu gehen, da hörte ich leise aus der offenen Kellertür eine Frauenstimme: „Ich bin hier!“
Wir schauten uns fragend an und gingen auf der schmutzigen Treppe in das Kellergeschoß hinunter. Mein Versuch, Licht am Schalter anzumachen, scheiterte. Kein Strom! Glücklicherweise hatte der Fahrer eine Taschenlampe dabei, und so suchten wir im Scheinwerferlicht den Weg im Kellerflur an den mit Latten abgeteilten Verschlägen vorbei und stiegen über Kisten, Mülltüten und anderes Gerümpel, das uns den Weg versperrte. Es fiel mir auf, dass da besonders viele alte Schuhe herumlagen.
„Ich bin ganz hinten!“, hörten wir im Dunkel. Wir gingen der Stimme nach. Da sahen wir einen Kerzenschein im letzten Kabuff. Die Tür war ausgehängt und zwischen Mülltüten und Gerümpel eingeklemmt.
Auf dem Boden lagen zwei vergammelte Matratzen, auf einer lag neben einem zerrissenen und verdreckten Laken eine Frau, halb mit einem Fetzen bekleidet, der früher mal ein Nachthemd gewesen war. Sie war abgemagert und hohlwangig, die Augen leuchteten gespenstisch im Kegel der Taschenlampe. Wir kamen erst an die Matratze heran, als wir noch über Kochgeschirr, zerlumpte Kleider, leere Bierflaschen, alte Kerzenstummel und einen vollen stinkenden Aschbecher gestiegen waren und mit dem Scheinwerferlicht eine Maus in ihr Versteck im hochgetürmten Müll verjagt hatten.
Und überall Schuhe! Zerfetzte Turnschuhe, alte Schlappen, dreckige Stiefel, Halbschuhe mit zerrissenem Leder und abgewetzten Sohlen und sogar kaputte hochhackige Damenschuhe. Ein Kerzenrest hatte sich auf einer Glasscherbe festgetropft und verbreitete ein schwach flackerndes Licht. Der dumpfe Gestank aus Dreck, abgestandener Luft, Schweiß, Alkohol und Zigaretten machte uns das Atmen schwer. Ich spürte, wie sich ein leichter Brechreiz in meinem Magen ausdehnte. Konzentriert bleiben!, dachte ich, wir stehen mitten in einer Messie-Absteige mit spezieller Schuhmüllhalde!
Nachdem ich uns der Frau vorgestellt hatte, fragte ich: „Was haben Sie denn?“ Ich schaute im Dämmerlicht der Taschenlampe das blasse und eingefallene Gesicht der Patientin an: Augen mit einem leeren Blick, schmale und blasse Lippen, ein fast zahnloser Mund, strähniges Haar, das sicher seit Wochen nicht mehr gewaschen war, faltige Haut an den Armen, gelbe Finger mit schwarzen Rändern unter den abgebrochenen Nägeln, die uns die Frau zum Gruß entgegenstreckte. Ich sah viele Einstiche in den Unterarmen und auf den Handrücken, die teilweise blutunterlaufen und mit Narben bedeckt waren.
„Da tut´s weh!“, sagte die Frau leise, schob den Fetzen zur Seite, der sie halb bedeckte und deutete auf ihre faltige nackte Pobacke. Der Fahrer richtete den Schein der Lampe dorthin, und ich sah einen kräftigen menschlichen Bissabdruck mitten auf dem Gesäß. „Wie ist denn das passiert?“, fragte ich so sachlich wie möglich und war froh, dass mein verblüfftes Gesicht im Dunkeln nicht zu sehen war. – „Ach, wissen Sie, ich mag´s gern mit Beißen, und da hat mein Freund wohl ein bisschen zu stark zugebissen! Danach hat er mich hier liegen gelassen und ging ins Stadion. Auf dem Weg dorthin hat er sie angerufen. Geben Sie mir einfach eine Salbe! Die kann mein Freund dann holen, wenn er nicht zu besoffen zurück kommt.“
Als der Fahrer die Patientin nach einem Ausweis fragte, um die Personalien aufzunehmen, sah ich in ihrem Personalausweis, den sie aus einer zerknitterten Stofftasche unter der Matratze hervor zog, dass die Frau gerade mal 30 Jahre alt war. „Sind Sie das wirklich?“, fragte ich, denn auf dem Passfoto schaute mir eine hübsche junge Frau entgegen. „Nein,“ sagte die Patientin mit müder Stimme, „das war ich mal – bevor ich anfing zu drücken.“ Ich schaute nach: Der Ausweis war fünf Jahre alt. Ich hatte die Frau auf etwa 50 geschätzt. Ich schrieb kommentarlos im Licht der Lampe eine Salbe auf.
Dann ließ ich das Licht einmal im Lattenverschlag herumscheinen. Durch meine Drehung stieß ich versehentlich eine Kiste von einem Regal, auf dem auch Lebensmittel lagen. Da sah ich verfaulte Kartoffeln, einen vergammelten Blumenkohl, braun-weiß verfärbte Äpfel, verschimmeltes Brot und viele volle Plastiktüten, die teilweise von einer schmutzigen Männerhose und graubrauner Unterwäsche zugedeckt waren. Auf den Brettern standen noch mehr alte und zerfetzte Schuhe neben benutzten Spritzen und Kanülen. Plötzlich traf ich mit dem Scheinwerferkegel ganz hinten im Regal einen neuen hochhackigen, karmesinroten Damenwildlederschuh mit Plateausohle und besonders langen roten Lederschnürsenkeln.
Ich konnte meine Verblüffung nicht verbergen und sagte: „Sie scheinen außer Müll besonders gern alte Schuhe zu sammeln. Dieser neue Schuh passt aber gar nicht in Ihre Sammlung der anderen Schlappen!“ – Sie versuchte zu lächeln und legte dabei die wenigen noch verbliebenen Zähne frei: „Den hat mein Freund vor drei Jahren in einem Schuhladen geklaut, weil er ihn mir zum Geburtstag schenken wollte. Als die Verkäuferin ihm hinterher rannte, warf er ihr einen Schuh vor die Füße und floh mit dem anderen. Den kann ich zwar nicht benutzen, aber wegwerfen will ich ihn auch nicht! Er erinnert mich zu sehr an die Zeit, als ich noch clean und kein Messie war.“
Wir verabschiedeten uns von ihr, vermieden einen Händedruck und versuchten, möglichst ohne etwas zu berühren aus dem Haus zu kommen. Dort blieben wir vor dem Haus stehen und atmeten mehrfach tief ein und aus, um den entsetzlichen Gestank aus der Nase zu bekommen. Und wir hatten das dringende Bedürfnis nach einer gründlichen Dusche und frischen Kleidern.
Bemerkung:
Diesen Hausbesuch habe ich tatsächlich unter den beschriebenen Umständen mit dem erwähnten „Krankheitsbild“ gemacht. Die Geschichte steht in meinem Buch „Als Schiffsarzt unterwegs und andere ärztliche Kurzgeschichten“, Betulius-Verlag Stuttgart. Die Idee mit dem Schuh ist im Rahmen einer Hausaufgabe in der Schreibwerkstatt, an der ich regelmäßig teilnehme. neu „eingebaut“, die Geschichte insgesamt neu formuliert.
Copyright Dr. Dietrich Weller