Will der Kranke wirklich leben?

 

Gewiss ist es fast noch wichtiger,  wie der Mensch sein Schicksal nimmt, als wie sein Schicksal ist.

Alexander von Humboldt (1769-1859), deutscher Geograph und Naturforscher

Oft trifft man sein Schicksal auf Wegen, die man eingeschlagen hat, um ihm zu entgehen.

Jean de La Fontaine (1621-1695), französischer Dichter und Erneuerer der Fabel

Wir müssen unser Schicksal nehmen, wie es kommt. Aber wir können etwas dafür tun,                                                                                    damit es kommt, wie wir es nehmen möchte

Curt Goetz (1888-1960), deutscher Schriftsteller und Schauspieler

11.1 Grundsätzliche Gedanken

Es muss geklärt werden, ob der Kranke wirklich gesund werden will. Das ist für manche Leser sicherlich eine provozierende Behauptung. Ich stelle sie deshalb auf, weil ich viele Menschen kennen gelernt habe, die nicht wirklich gesund werden wollen, weil sie sonst Verpflichtungen übernehmen müssten, die sie nicht übernehmen wollen oder können.

Es gibt viele Menschen, die einfach müde und erschöpft sind und es als Last empfinden, weiter leben zu müssen. Sie fühlen „Es ist jetzt lang genug!“ oder „Ich will nicht noch älter werden!“ oder „Ich will einfach mich nicht mehr plagen müssen!“ Für diese Men-schen kommt im Allgemeinen eine Selbsttötung nicht in Frage, sie haben aber keinen aktiven, zupackenden Lebenswillen mehr und wären dankbar, wenn sie „möglichst im Schlaf“ oder „ganz schnell und schmerzlos“ sterben dürften. Wenn ihnen dann eine Krankheit die Chance gibt, ihren Wunsch zu erfüllen, sind sie tief in ihrem Herzen froh um die Aussicht, „dass der Kampf endlich ein Ende hat!“ Aber das dürfen viele Patienten nicht zugeben, weil die Angehörigen mit solch einem ehrlichen Geständnis nicht umge-hen können und dann den Patienten zu allen möglichen Therapien zwingen und mit Schuld „motivieren“.

Viele Kranke leben lange und mit beeindruckender Lebenskraft unter dem Schutzschild der schweren Krankheit. Ich kenne Familien, die jahrzehntelang von einer schwer depressiven und bettlägerigen Mutter oder einem asthmakranken Vater in Schach gehalten und unterdrückt worden sind.

Der Lebenswille muss vorhanden sein, damit ein Weiterleben möglich ist. Zum Lebenswillen ist ein Ziel nötig. Ein wesentlicher therapeutischer Akt besteht darin, abzuklären, warum der Mensch von seinem ursprünglichen Lebensziel abkam, und wie er ein neues oder das alte wieder neu finden kann. Diese Therapie kann durchaus von der Familie bewirkt werden, zum Beispiel indem der Kranke für ein neues Ziel interessiert und begeistert wird, das ihm erstrebenswert gemacht wird.

Viele Menschen sterben erst, wenn sie eine bestimmte Aufgabe erledigt oder ein bestimmtes Ereignis noch erlebt haben. Sie haben also eine hohe Motivation wei-terzuleben. Eben diese Motivation kann helfen, aus einer schweren Krankheit wieder gesund zu werden. Hilfreich sind kleine oder größere Ziele, die in absehbarer Zeit liegen: Feste und Aufgaben, für die es sich lohnt zu leben und zu arbeiten oder den Kindern oder dem Partner bei bestimmten Hausarbeiten zu helfen. Diese Ziele muss der Patient selbst setzen. Und die Familie kann ihn unterstützen.

11.2 Praktische Beispiele 

In einer Studie über Menschen in Konzentrationslagern hat der Psychotherapeut Viktor Frankl herausgefunden, dass alle Überlebenden einen besonders klar definierten Lebenssinn hatten! Die Literatur ist voll von überzeugenden Dokumenten für diese Erkenntnis. 

Beispielhaft dafür will ich Ihnen empfehlen, von Martin Gray „Des Lebens Ruf wird niemals enden“ zu lesen, ein leidenschaftliches Bekenntnis zum Leben trotz tragischer Katastrophen. Das Buch ist vor einigen Jahren unter dem Titel „Schrei nach Leben“ verfilmt worden.

Es gibt keinen Grund dafür, warum wir in einer besonders riskanten Lebenssituation nicht in der Lage sein sollten, trotzdem eine der Situation angemessene gute Lebensqualität aufrechtzuerhalten. Lebensqualität findet letztlich ja in unseren Gefühlen statt und ist, wenn man’s genau betrachtet, nicht wesentlich oder gar nicht von materiellen Dingen abhängig.

Johanna, die ich Ihnen ganz am Anfang des Buches vorgestellt habe, hat durch eine schwere Osteoporose immer wieder sehr starke Schmerzen wegen ihrer neuen Wirbelkörperfrakturen, nimmt aber selten schmerzstillende Medikamente. Dennoch sagt sie: „Es geht mir gut, ich bin zufrieden und dankbar, dass ich geliebt werde und mein Leben wach und bewusst führen und jeden Tag an meinen Büchern schreiben kann.“

Auch eine Krebsdiagnose ist nicht automatisch ein Todesurteil, das den Patienten und die Familie dazu zwingt, dem Leben zu entsagen. Erstens werden viele Krebskrankheiten geheilt. Das erfahren wir nur oft nicht, weil sich diese glücklichen Ereignisse zu Hause, in der Klinik und in der Arztpraxis abspielen und meist nicht publik gemacht werden. Mindestens der Hälfte aller Krebskranken können wir echte Hoffnung auf eine vollständige Heilung durch die richtige Therapie machen. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass die Prognose bei den einzelnen Krebsarten unterschiedlich ist.

Zweitens: Das Schicksal kann uns viel auferlegen, aber es kann uns nicht dazu zwingen, wie wir darauf reagieren! Von meinem eigenen Leben weiß ich, dass die Konflikte, die ich bewältigen musste, obwohl sie mir manchmal unüberwindlich erschienen, immer wieder den Boden für neue und positive Erkenntnisse und Erlebnisse geschaffen haben. Ohne die Ereignisse hätte ich das Glück nicht erlebt und auch ganz sicherlich nicht so zu schätzen gewusst. Warum sollte das beim Schwerkranken oder auch beim Sterbenden anders sein?

Manchmal dachte ich: Der Sterbende hat es leichter als der Überlebende. Wenn es richtig ist, was uns die moderne Forschung vom Sterben und vom Tod vermittelt, ist es gewiss so: Hölle gibt es hier auf Erden, weil wir sie uns selbst machen, und dort, wo der Ste-rbende hingeht, ist Frieden. Auch das ist eine Bestätigung der universell geltenden Gesetzmäßigkeit der Polarität.

Mascha Kaléko, die jüdisch-deutsche Lyrikerin, schrieb in dem Gedicht „Memento“:

Bedenkt: Den eignen Tod, den stirbt man nur,
doch mit dem Tod der anderen muss man leben!

Copyright Dr. Dietrich Weller

Der Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“

 

 

 

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