Im Liegestuhl

Der hohe Himmel zeichnet mattes Grau
satt auf abendglattes Wasser.
Kräuselwellen lecken feinen Sand,
rascheln monotone Neptun-Lieder
in den menschenleeren Strand.
Das rote Segel bläht im lauen Wind
das blaue Boot dem Ziel entgegen.
Möwen suchen kreischend ihren Fang.
Fischduft lockt zum Grill.

14.07.2012 im Urlaub

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

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Im Stau

Was für ein prächtiges Wetter, dachte Beate und genoss den Fahrtwind in der Sommersonne, während sie durch die grüne Landschaft fuhr. Sie freute sich an ihrem gelben Cabrio, und noch mehr war sie von der Idee begeistert, heute Abend bei ihrer früheren Studienfreundin Dragica in Maribor anzukommen und mit ihr ein paar Tage Urlaub zu machen.
Da vorn blinkten Warnlichter an den Autos! Beate bremste langsam, ließ den Wagen ausrollen und kam hinter einer langen Schlange von Wagen zum Stehen. Sie stellte das Radio an, um die Staumeldungen zu hören und schaute sich um: Rechts neben ihr stand ein älteres Ford-Modell mit einem jungen Pärchen, die freundlich zu ihr herüber lächelten.
Da wurde die Musiksendung unterbrochen: „Auf der Autobahn von Graz nach Maribor kurz vor der österreichisch–slowenischen Grenze Vollsperrung wegen eines brennenden Lastzugs! Der Brand ist gelöscht. Die Bergungsarbeiten haben begonnen. Mit einem länger dauernden Stau muss trotzdem gerechnet werden. Der Stau beträgt zehn Kilometer.“
Ach du meine Güte, auch das noch!, schoss es Beate durch den Kopf. In diesem Moment drehte der junge Mann im Auto nebenan die Scheibe herunter: „Haben Sie die Verkehrsmeldung gerade gehört?“ – „Ja!“, antwortete Beate. „Da können wir nicht einmal die Autobahn verlassen, die nächste Ausfahrt ist zehn Kilometer entfernt.“
Sie sah, wie die junge Frau etwas zu ihrem Partner sagte, er nickte und drehte sich zu Beate: „Wir trinken jetzt einfach Kaffee. Karin hat eine volle Thermoskanne dabei, und ein paar Stückchen Kuchen können wir auch anbieten. Dürfen wir Sie einladen?“ „Ja, gern“, antwortete Beate, stellte den Motor ab und während die junge Frau einen Korb vom Rücksitz hob, stellte der Mann einen Klapptisch und einfache Hocker aus dem Kofferraum neben dem Auto auf die Straße auf. Offensichtlich hatten auch andere Autofahrer die Meldung gehört. Es wurden Türen geöffnet, Menschen stiegen aus, vertraten sich die Beine und sprachen miteinander.
Der junge Mann stellte sich und seine Partnerin vor: „Ich heiße Frieder, und das ist Karin!“ Während Karin den Tisch deckte, fragte Frieder: „Wo willst du denn hinfahren?“ – „Nach Maribor zu einer Freundin. Ich hoffe, ich schaffe das heute noch bei dem Stau! Und ihr?“ „Wir besuchen Karins Schwester in Slowenien!“
Er deutete auf den Tisch: „Lass uns jetzt mal Pause machen, wenn es schon nicht weiter geht.“ Karin und Frieder setzten sich so, dass Beate auf ihrem Hocker die Ford-Autotür als Lehne benutzen konnte. „Na, das ist ja bequem! Schon bin ich im Urlaub!“, sagte sie und genoss die Sonne! – Sie plauderten miteinander, tranken Kaffee, aßen Apfelkuchen, und Beate machte sich Gedanken über die beiden Gastgeber. Frieder und Karin schätzte sie auf Anfang dreißig. Beide trugen blaue verwaschene Jeans, bunte Hemden und leichte Lederstiefel. Sie hatten strähnige Haare, die eine Wäsche verdient hätten – genauso wie die Hemden und Jeans.
In der Nachmittagswärme krempelte Frieder die Ärmel hoch, und Beate sah blaue Flecken in der Ellenbeuge, sagte aber nichts dazu. Sie störte sich eher an den ungepflegten Händen mit den schwarzen Fingernägeln, die bei Karin von schrill bemalten Fingernägeln überdeckt waren. Ziemlich schmuddelig, schoss es Beate durch den Kopf. Frieder stand öfters auf und machte sich an seinem Auto zu schaffen, und Beate war mit Karin im Gespräch vertieft, die sich genau erklären ließ, was Beate an der Uni in Graz arbeitet.
„Ja“, seufzte Karin, „ich hab auch mal Germanistik studiert, aber nach zwei Semestern habe ich aufgegeben, weil ich krank wurde.“
So verging mit Plaudern eine Stunde, bis Frieder plötzlich sagte: „Schaut mal, da vorn bewegt sich die Schlange! Wir sollten einpacken.“
Frieder verstaute den Tisch und die Hocker, sie verabschiedeten sich, und Beate bedankte sich für den Kaffee und die Unterhaltung. Nach ein paar Minuten setzte sich die Autoschlange langsam in Bewegung. Frieder überholte bei der ersten Möglichkeit rasch die vorderen Autos und verschwand aus Beates Blick.
Auf dem Weg kam sie an dem ausgebrannten Lastwagen vorbei und erreichte nach einer Viertelstunde die Grenze. Dort war sie überrascht, wie viele Zöllner auf der österreichischen Seite der Grenze standen, dazu noch mit Maschinenpistolen bewaffnet. Sie fuhr im Schritttempo weiter. Als sie kurz vor dem Grenzhäuschen angekommen war, versperrten ihr zwei Zöllner den Weg, und ein dritter, neben dem ein Polizeihund stand, stellte sich neben sie und sagte mit scharfem Ton: „Hände hoch! Steigen Sie aus!“ Sie erschrak über den schroffen Befehlston. Der Zöllner öffnete ihre Autotür, sodass sie mit erhobenen Händen aus dem Wagen steigen konnte.
„Was wollen Sie von mir? Ich bin doch keine Verbrecherin!“, sagte sie verängstigt.
„Das werden Sie gleich hören und sehen!“, schnarrte er zurück. „Stellen Sie sich zwei Meter vom Auto weg, und schauen Sie zu, was jetzt geschieht.“
Sie gehorchte und sah, wie zwei Zöllner mit raschen Griffen ihren Koffer und zwei Taschen vom Rücksitz nahmen und einen kleinen blauen Reisebeutel zwischen ihren Gepäckstücken hervor zogen. Diesen schwenkte er vor Beates Augen hin und her und sagte: „Und was ist das?“ –
Beate erschrak: „Das gehört mir nicht!“ antwortete sie mit fester Stimme.
„Kommen Sie mal mit!“, forderte sie der Zöllner mit einer schwenkenden Bewegung seiner Maschinenpistole zum Zollhaus auf. Beate folgte ihm verwirrt.
Im Haus klappte die Tür hinter ihr zu, ein Zöllner versperrte ihr den Weg, ein anderer legte die blaue Tasche auf den Tisch, öffnete sie und zog mehrere kleine weiße Beutel und ein Handy heraus.
„Hasso, was sagst du denn dazu?“, fragte der Zöllner den Schäferhund und ließ ihn an den Beuteln schnuppern. Der Hund setzte sich auf die Hinterbeine und begann laut zu bellen.
„Möchten Sie gleich ein Geständnis ablegen, oder sollen wir Sie verhören?“ Der Zöllner blieb ruhig und sachlich. Das machte Beate Angst.
„Das ist Rauschgiftbesitz in erheblichem Ausmaß. Ausführen wollten sie die Drogen auch, Das ist eine typische Dealermenge, die Sie mit sich führen! Sie hätten damit richtig Geld gemacht in Slowenien. Da hat der Staatsanwalt in Graz lohnende Arbeit!“
Beate schnappte nach Luft, so wütend war sie über die ungerechte Anschuldigung. „Der Beutel gehört mir nicht, glauben Sie mir doch!“
„Das erzählen Sie dem Richter!“
Der Zöllner schaute sie unerbittlich an. Beate spürte plötzlich, in welche ausweglose Situation sie geraten war. Sie konnte nicht beweisen, dass der Beutel nicht ihr gehört. Sie spürte ihren trockenen Mund, den Schweiß auf ihrem Rücken. Sie bekam einen roten Kopf. Sie wollte nur raus hier! Aber der Schäferhund stand neben dem bewaffneten Zöllner vor der Tür und zeigte ihr knurrend seine langen Fangzähne. Die nackte Angst kroch in ihr hoch. Sie begann zu weinen.
„Na, dann setzen Sie sich mal hier hin!“, sagte der Zöllner plötzlich freundlich und deutete auf einen Stuhl: „Sie haben Glück gehabt!“ –
„Wie das denn?“, fragte Beate wütend, „Glück nennen Sie das, hier angeklagt zu sitzen wegen eines Rauschgiftdeliktes, das ich nicht begangen habe?“
„Nein, weil sie zwei Helfer haben!“
„Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Zwei Helfer? Hier sind doch alle gegen mich!“ Beate schüttelte den Kopf.
Er öffnete die Tür, zwei sportlich gekleidete Männer kamen herein, die Beate auf etwa Mitte dreißig schätzte. Sie lächelten freundlich und begrüßten Beate mit Handschlag.
„Erkennen Sie uns wieder?“, fragte der eine.
Beate zögerte, musterte die Männer von oben bis unten und schüttelte den Kopf: „Nein, ich habe Sie noch nie gesehen!“ Und nach einer kleinen Pause fügte sie aufgeregt hinzu: „Was machen Sie hier mit mir?“
„Wir helfen Ihnen! Schauen Sie mal, was wir hier haben.“ Er zog eine kleine Videokamera aus der Tasche und schaltete sie ein.
Da sah Beate in dem kurzen Videoclip, wie sie mit Frieder und Karin am Straßenrand sitzt, Kaffee trinkt, mit Karin plaudert und Frieder aufsteht und hinter ihrem Rücken aus seinem Auto den kleinen blauen Beutel nimmt, sein Handy hinein legt und den Beutel unter ihre Taschen auf dem Cabriorücksitz steckt.
Sie schrie entsetzt: „Die haben mich reingelegt! Das ist ja eine üble Schweinerei!“
„Stimmt genau! Und wir haben das Ganze gefilmt.“ –
Sie fragte verwundert: „Wie konnten Sie so schnell reagieren, das zu filmen?“
Der Mann lächelte: „Wir sind zivile Drogenfahnder und hatten das Pärchen schon länger im Visier. Deshalb sind wir ihnen auf die Autobahn gefolgt, blieben im Stau hinter Ihnen ihm Auto sitzen und warteten nur darauf, dass den beiden kurz vor der Grenze irgendein Trick einfällt, um ein krummes Ding zu drehen. Die Kamera hatten wir schon schussbereit. Die beiden, die Sie so freundlich zum Kaffee eingeladen haben, ließen gezielt den Hocker für Sie frei, wo Sie mit dem Rücken zu dem Ford sitzen mussten und nicht sehen konnten, was der Mann machte, während die Frau sie im Gespräch ablenkte.“
Beate schüttelte den Kopf: „Das ist ja unglaublich!“ Sie brauchte eine ganze Weile, bis sie erkannte, dass die beiden Männer tatsächlich ihre Retter waren.
Der Fahnder erzählte weiter: „Von unterwegs haben wir hier den Grenzposten verständigt. Meine Kollegen haben das Pärchen schon abgefangen und verhaftet. Die beiden Gauner hätten das Handy im Beutel über die Handyortung hinter der Grenze rasch gefunden und Ihnen den Stoff wieder abgenommen. Ihnen wollten wir nur zeigen, was passiert, wenn man zu gutgläubig ist. Sie dürfen natürlich sofort weiterfahren. Ihre Personalien haben wir schon über die Autonummer ermittelt. Zeigen Sie mal Ihren Ausweis, ob Sie auch die Beate Schöntag sind, der das Auto gehört. Dann sehen wir uns bei dem Prozess wieder!“
Jetzt lachten alle Männer, und Beate wusste nicht, ob sie wütend oder dankbar sein sollte. Ihr gelang nur ein gezwungenes Lächeln und ein erleichtertes „Danke!“
Als sie wieder in ihrem Auto saß und das Zollhaus aus ihrem Rückspiegel verschwunden war, flog ein zufriedenes Lächeln über ihr Gesicht. Welch ein Glück, dass die Zöllner unter der Abdeckplatte in ihrem Kofferraum die russischen Ikonen nicht gefunden hatten!

 

Die Geschichte entstand in der Schreibwerkstatt. Das Thema für die Hausaufgabe lautete „Im Stau“.

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Angriff aus der Vergangenheit

Heinrich Klarsen wurde  1890 auf einem kleinen Gehöft in Holstein geboren. Seine Mutter Klara war ein paar Monate vorher als Magd auf den Hof gekommen, nachdem ihr Arbeitgeber in Hamburg, ein junger Bankier, ihre Dienste als Hausangestellte zu sehr in Anspruch genommen hatte und Klara schwanger geworden war. Da der Schein der untadeligen Familienverhältnisse gewahrt werden musste, sorgte die Bankiersfrau für den Umzug der Schwangeren und einen Abbruch der Beziehungen.

Heinrich wuchs in der dörflichen Gemeinschaft auf und war ein sehr guter Schüler. Nach dem Abitur zog er nach Hamburg, um sich dort eine Ausbildungsstelle zu suchen, da die Mutter kein Studium bezahlen konnte. Er fand eine Privatbank, in der er einen Ausbildungsvertrag zum Bankkaufmann erhielt. Als er diesen Vertrag seiner Mutter zur Unterschrift vorlegte, denn Heinrich war noch nicht volljährig, sah er überrascht, wie ihr Gesicht plötzlich rot wurde, als sie den Briefkopf und die Unterschrift unter dem Vertrag sah.

„Was ist mit dir?“, wollte er wissen. Sie sagte nach einer kurzen Bedenkpause: „Ich freue mich sehr für dich, die Rosenzweig-Bank ist eine gute Bank!“

Heinrich Klarsen erlebte eine erfolgreiche Ausbildung. Manchmal stellte Rosenzweig sogar private Fragen, auch zu Klarsens Mutter. Als er hörte, dass es ihr gut gehe, fragte Rosenzweig auch einmal nach Klarsens Vater. Der sei schon ganz jung bei einem Unfall verstorben, antwortete Klarsen und wunderte sich, warum Rosenzweig sich plötzlich hustend abwandte.

Da Klarsen wegen seiner Leistungen in der Bank bald einen guten Ruf besaß und seine Hilfsbereitschaft geschätzt wurde, gelang ihm der Aufstieg zum Abteilungsleiter.  Rosenzweig erreichte sogar, dass Klarsen im 1. Weltkrieg wegen Unabkömmlichkeit nicht eingezogen wurde.

Klarsen gründete mit der Tochter eines reichen Hamburger Kaufmanns eine Familie, die mit zwei gesunden Kindern beschenkt wurde. Er schuf sich als Vizedirektor der Bank einen angesehenen Platz in der Gesellschaft. In der Bank überließ Rosenzweig ihm immer mehr Entscheidungen und zog sich langsam vom täglichen Geschäft zurück. Als die braune Partei immer mächtiger wurde, führte Heinrich Klarsen die Bank zielsicher parteikonform und machte sich bei den wichtigen Politikern unverzichtbar, indem er Gelder für Parteizwecke günstig zur Verfügung stellte und Politkonten gewinnbringend führte.

Im Stillen aber konnte Klarsen nicht verstehen und es widerstrebte ihm zutiefst, dass dieser sympathische Bankier, der ihn so wohlwollend gefördert hatte, ein Volksschädling sein sollte. Klarsen litt unter dem Konflikt, denn er hätte Rosenzweig angreifen und aus der Bank drängen müssen, wenn er nach den offiziellen politischen Regeln und seinen eigenen Reden gehandelt hätte. Der Führer forderte die Vertreibung aller Juden und eine rücksichtslose Endreinigung des Volkes. Hitler überzeugte mit hetzenden Reden die Massen davon, dass Unterdrückung und Ausrottung der Gegner den eigenen Wert hebt und sichert. Klarsen behandelte Rosenzweig aber weiterhin mit Hochachtung und Dankbarkeit wie vor der braunen Ära. Und beide waren klug genug, politischen Diskussionen in der Bank aus dem Weg zu gehen.

Rosenzweig versammelte an seinem 70. Geburtstag die Belegschaft der Bank in seinem Arbeitszimmer und hielt eine Ansprache. Er endete mit dem Satz: „Da meine Frau und ich …“, da stockte seine Stimme, und er fuhr nach kurzem Schlucken fort, „leider keine Kinder haben, übereigne ich mein Lebenswerk voll Vertrauen an unseren verdienten langjährigen Mitarbeiter und Vizedirektor Heinrich Klarsen und wünsche ihm und uns, dass er auch in den kommenden Jahren dieses Haus erfolgreich führt, das ab jetzt den Namen Klarsen-Bank tragen wird.“ –

Die friedliche Fassade der Enteignung blieb gewahrt, und Rosenzweig machte im Überschwang seiner Gefühle sogar einen zaghaften Versuch, seinen Nachfolger zu umarmen. Dann verabschiedete er sich feierlich von jedem einzelnen Angestellten. Ab diesem Tag kam er nicht mehr in die Bank.

Nach einigen Monaten erhielt Klarsen einen Anruf von Frau Rosenzweig. Er hatte sie nie in der Bank gesehen, nie mit ihr gesprochen und immer gewürdigt, wie strikt sein Chef Geschäftliches von Privatem trennte. Klarsen war auch nie im Hause Rosenzweig eingeladen gewesen. Frau Rosenzweig sagte freundlich und kurz: „Herr Klarsen, mein Mann bittet Sie, so rasch wie möglich zu uns nach Hause zu kommen. Es geht ihm nicht gut.“

Heinrich Klarsen spürte die Dringlichkeit der Bitte wie einen Befehl und reagierte spontan: „Ich komme sofort!“ Er war mit dem Chauffeur nach wenigen Minuten an der Villa Rosenzweig. Frau Rosenzweig begrüßte ihn: „Es ist gut, dass ich Sie nach so vielen Jahren jetzt kennenlerne. Mein Mann möchte mit Ihnen reden!“ Sie führte Heinrich Klarsen ins Schlafzimmer. Dort saß Shlomo Rosenzweig blass im Sessel an einem Tischchen, atmete schwer und streckte Klarsen die knochige Hand zum Gruß hin. Klarsen erschrak, wie abgemagert Rosenzweig aussah. Aber er ließ sich nichts anmerken und grüßte zackig: „Heil Hitler!“ –

Shlomo Rosenzweig lächelte verzwungen und sagte mit einer Stimme, die brüchig war wie Zwieback: „Lassen Sie das hier in diesem Haus! Vergessen Sie einen Moment die Politik. Ich will mit Heinrich Klarsen reden, nicht mit dem braunen Politiker! Setzen Sie sich zu mir!“

Klarsen ließ sich in den Sessel sinken.
Rosenzweig sagte ruhig: „Danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Ich habe Lungenkrebs und werde nicht mehr lange leben. Ich will mein Leben aufräumen, und dazu gehört dieses Gespräch. Ist Ihnen in all den Jahren aufgefallen, dass ich Sie besonders geschätzt und gefördert habe?“

„Ja natürlich, dafür bin ich sehr dankbar.“ Klarsen lächelte seinen Mentor herzlich an, der weitersprach: „Das hat nicht nur etwas damit zu tun, dass Sie ein tüchtiger Bankier und in der Tiefe Ihres Herzens ein guter Mann sind! Es hat noch einen anderen Grund.“
Klarsen beugte sich überrascht vor: „Welchen?“

Rosenzweig holte tief Luft, und Klarsen sah Tränen in den Augen des alten Herrn. Mit brüchiger Stimme sagte Rosenzweig: „Heinrich, du bist mein Sohn!“

Der Widerspruch kam sofort und mit entschiedener Stimme: „Sie wissen, das kann gar nicht sein, mein Vater ist vor meiner Geburt bei einem Unfall ums Leben gekommen!“
Rosenzweig bekräftigte sanft: „Doch, ich bin dein Vater. Und jetzt erzähle ich dir die Geschichte. Erst dann kann ich ruhig sterben!“ –

Klarsen sah, wie im Hintergrund Frau Rosenzweig leise eintrat, am Türrahmen stehen bleib und aufmerksam beobachtete, wie ihr Mann ruhig und gefasst seinem Sohn beichtete.

Rosenzweig schloss mit den Sätzen: „In all den Jahren hat meine Frau zu mir gehalten, weil sie mich wirklich liebt, und dafür bin ich ihr unendlich dankbar. Ich bin glücklich, dass ich erleben durfte, wie mein Sohn zielstrebig seinen beruflichen Weg macht. Auch deshalb habe ich dir gern unsere Bank überlassen, nachdem die antijüdische Polemik mir den Boden zum Leben entzieht. Ich weiß, dass du mein Lebenswerk gut weiterführst, wenn auch unter anderen Gesichtspunkten, als ich es bis jetzt getan habe. Ich habe nie über unsere Verwandtschaft gesprochen, weil ich dich nicht mit meiner Vergangenheit belasten wollte. Ich hoffe, Du kannst mir das verzeihen.“

Er machte eine Pause, um seine Stimme fester werden zu lassen. Klarsen war so betroffen von dem Geständnis seines Vaters, dass er, der schlagfertige Diskussions-redner, kein Wort sagen konnte. Dann begann Rosenzweig noch einmal:
„Aber jetzt an meinem Lebensende und in der momentanen politischen Situation muss ich dir sagen, dass du Halbjude bist. Wie du das mit deinem politischen Engagement in Zukunft vereinbarst, musst du selbst klären. Du bist mit deiner Familie in großer Gefahr, wenn unsere Geschichte entdeckt wird.“

Rosenzweig nahm Klarsens Hand: „Bitte schütze deine Familie und meine Enkel! Und grüße deine Mutter von mir. Ich bin sehr dankbar, dass sie dich so gut erzogen hat. Ich verspreche dir, dass von uns beiden“, er deutete auf seine Frau und sich, „keiner etwas über deine Abstammung erfährt. Aber in meinem Herzen bleibst du mein Sohn!“

Rosenzweig breitete seine Arme aus. Klarsen löste sich langsam aus seiner Starre, kniete vor den Sessel und nahm seinen Vater herzlich in die Arme. Nach einer sehr langen Weile lösten sich die beiden Männer voneinander, und Rosenzweig sagte: „Ich bin sehr erschöpft, aber auch sehr froh, dass ich dir mein Geheimnis anvertrauen konnte, das jetzt auch deines ist. Bitte lass mich jetzt allein. Aber bitte komm bald wieder. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Du und deine Frau und meine Enkel sind immer sehr herzlich hier willkommen. Shalom!“

Klarsen zuckte zusammen, denn Shalom hatte er noch nie aus dem Mund seines Vaters gehört, und gerade in dieser Situation spürte er das Wort Friede als sehr zwiespältig, so aufgewühlt fühlte er sich und so fremd klang diese Provokation aus jüdischem Mund in seinen Ohren, die nur Naziparolen gewohnt waren. Er beherrschte sich aber, schaute seinem Vater direkt in die Augen, nickte mit einem leisen „Alles Gute!“, lächelte wie in Trance im Vorbeigehen auch einen freundlichen Gruß zu Frau Rosenzweig und verließ nachdenklich das Haus.

Erst als er im anfahrenden Auto die Augen schloss und tief durchatmete, spürte er seinen rasenden Puls, und Fragen, Gedanken und Bilder explodierten in seinem Kopf:
„Ich gehöre zu denen, die ich immer öffentlich verdammt habe! Wie bringe ich das Erika und den Kindern bei? Wie kann ich sie vor Nachstellungen schützen? Können sie das Geheimnis für sich behalten? Die Kinder sind in der Hitlerjugend völlig auf Linie gebracht, sie werden sich verplappern oder mich vielleicht sogar verraten! Soll ich es überhaupt erzählen? Ich muss es irgendwie erklären, wenn ich Konsequenzen ziehe, die sie betreffen. Auf jeden Fall muss Erika wissen, was Rosenzweig mir gestanden hat! Erika schätzt Rosenzweig als Bankier und Mensch, aber dass er mein Vater ist, ändert die Situation in der Familie total! Was geschieht, wenn ich das Geheimnis für mich behalte und auch Erika nichts sage? Kann ich das durchhalten mit allen Konsequenzen? Ich kann doch Erika so etwas Wichtiges nicht verschweigen! Aber wenn es uns doch vielleicht rettet?! Was wird Mutter sagen, wenn sie erfährt, dass ich jetzt weiß, wer mein Vater ist?“

Klarsen spürte das Hemd schweißnass an seinem Rücken kleben und wischte sich die feuchte Stirn ab.

„Was sagt Erikas Vater? Ich sehe und höre ihn schon toben! Ich kann meine Glaubwürdigkeit in der Partei nicht retten, wenn herauskommt, dass ich Halbjude bin! Ich muss alle meine Ämter niederlegen und werde mit Schimpf und Schande verjagt! Noch schlimmer: Was ist mit den Judentransporten, von denen immer wieder gemunkelt wird? Betrifft uns das auch? Wie kann ich unsere Leben retten? Wie kann ich unser Vermögen in Sicherheit bringen? Fliehen oder dableiben und kämpfen? Familie oder Partei? Kann ich weiter eine Beziehung zu meinem Vater pflegen? Wie lange lebt er noch? Sollen wir zu sechst gemeinsam fliehen? Geld hätte ich genug. Was mache ich mit Mutter? Sollen wir sie mitnehmen? Wohin sollen wir fliehen? Wie viel Zeit habe ich, um Pläne zu machen und unsere Rettung vorzubereiten?“

Er sah schon die Schlagzeilen und sein Bild in den Zeitungen: „Klarsen ist ein verlogener Halbjude!“, „Klarsen als Bastard entlarvt!“, „Bankier mit unterschlagenem Vermögen auf der Flucht!“, „Unverschämter jüdischer Komplott in der Klarsen–Bank!, „Das Bankenschwein Klarsen muss hängen!“

Kurz bevor Klarsen an der Bank ankam und völlig verwirrt war von dem Gedankengewitter in seinem Kopf, sagte er gefasst zum Fahrer: „Ich bin etwas durcheinander. Bitte bringen Sie mich an die Alster, wo ich möglichst niemandem begegne. Ich muss bei einem Spaziergang nachdenken und dann eine wichtige Entscheidung fällen!“

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diese Geschichte entstand als Hausaufgabe in der Schreibwerkstatt.

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Ein Mann wie ein Baum

Siegmund Kraft wurde 1945 in Bremen geboren. Sein Vater fiel kurz vor Siegmunds Geburt in einem der letzten Gefechte in Russland. Die Mutter zog den Jungen liebevoll auf und verdiente als Lehrerin den Lebensunterhalt. Siegmund entdeckte früh seine Liebe zum Langlauf und lief ein Jahr vor dem Abitur den ersten Marathon. Auch dadurch lernte er, mit Disziplin schwierige Momente zu bewältigen und gegen innere Widerstände bis zum selbst gesetzten Ziel auszuhalten. Seine Mutter erzog ihn im ehrenden Gedanken an den Vater, der ihr immer wie starker Baum erschienen war, an dem sie sich anlehnen konnte. Sie wollte aus Siegmund auch einen solch kräftigen und durchsetzungsstarken Mann machen, und Siegmund nahm diese Prägung früh auf.

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Warum eigentlich nicht?

Warum eigentlich nicht

Schon als Kind hat Peter unter den gnadenlosen Hänseleien seiner Mitschüler gelitten. Bei jeder Gelegenheit verspotteten sie ihn wegen seines Übergewichts. Er versuchte, seine Vorliebe für Marzipan zu verbergen. Aber einmal, als er kurzatmig hinter dem Fußball herlief, rief ein Klassenkamerad, „du brauchst noch ein paar Marzipankugeln, dann wirst du schneller!“

So hatte Peter seinen Spitznamen weg. Und als dann auch noch einer der Kameraden mit ihm in die Hotelfachschule ging und Peters empfindlichsten Punkt preisgab, wurde Peter dort nur Marzipankugel oder, in der Hektik des täglichen Betriebs, Marzipan gerufen.

Peter aß Marzipan in allen Variationen, um sich nach den Kränkungen wohler zu fühlen. Dieser weich schmelzende Geschmack verschaffte ihm ein wonnevolles Gefühl der Zärtlichkeit und inneren Ruhe, wenn die geifernden Kollegen und die jungen Mädchen ihn mit abschätzigen Blicken und provozierenden Bemerkungen beleidigten.

Deshalb hatte er sich eine besonders freundliche, ja fast unterwürfige Art des Umgangs angewöhnt, nicht nur die Höflichkeit, die zum alltäglichen Geschäftsgebaren in der Gastronomie gehört. Er spürte jeden Tag, wie er sich mit der frisch gestärkten Kellnerjacke die dringend nötige Sicherheit anzog und mit der gebügelten weißen Schürze seine Beleibtheit bedeckte, um mehr Beliebtheit zu gewinnen. Er versteckte den angegessenen Schutzpanzer, der ihn vor den Schlägen der Mitmenschen bewahren sollte, so gut es ging. Mit dieser hohen Empfindsamkeit für Schwächen und Verletzlichkeit betreute er auch die Gäste in dem vorzüglichen Lokal, zu dessen Oberkellner er mittlerweile aufgestiegen war.

Seit einem Jahr kam regelmäßig samstags ein älterer Herr mit seiner jungen Frau zum Abendessen. So attraktiv sie war mit ihren schlicht-eleganten und eng anliegenden Kleidern, der verführerischen Figur und den weich gewellten, schulterlangen Haaren, die Peters Fantasie zu kühnen Tag- und Nachtträumen verleitete, so demütigend verhielt sich der Mann ihr gegenüber. Bei jeder Gelegenheit nörgelte er an ihr herum, wies sie beim Essen zurecht, kritisierte ihre Aussprache und machte sich über das kesse Lächeln lustig, das Peter verzaubert hatte.

Diese groben Unhöflichkeiten waren für Peter schwer zu ertragen. Er tarnte seine Wut über den Mann und seine heimliche Zuneigung für dessen Frau hinter einer antrainierten Fassade von Höflichkeit und Dienstbereitschaft.

Was er jedoch nicht verbergen konnte, war das Leuchten in seinen Augen, wenn die Dame ihn beim Kommen und Gehen mit einem geradezu herzlichen Blick grüßte. Peter musste darauf achten, dass seine Freude darüber nicht allzu offensichtlich und verräterisch wurde.

Und war es Zufall, dass diese sonst so achtsame und wohl erzogene Dame die Serviette vom Schoß ihres elegant geschnittenen Kleides rutschen ließ? Sie berührte Peter im flüchtigen Vorbeigleiten mit ihren schlanken Fingern an der Hand, als er eilig die Serviette vom Boden aufhob und ihr mit leicht errötetem Gesicht reichte. War das ein Zeichen der zarten Annäherung? Täuschte er sich auch nicht? Es konnte doch gar nicht sein, dass diese vornehme Dame – und dazu noch in Gegenwart ihres Mannes! – ihm, dieser abstoßenden Marzipankugel, Sympathie zeigte! Und doch schwankte er zwischen Hoffen und Selbstzweifel. Er spürte ihre Zärtlichkeit, sah ihren kurzen und doch innigen Blick, der sofort kalt wurde, wenn er in die trägen Augen des Ehemannes traf.

Immer wenn die Sekretärin des Mannes einen Tisch für das Paar reservierte, begann Peter auf den sanften Wolken der Vorfreude zu schweben, weil er wusste, dass er wieder seinen weiblichen Lieblingsgast am angestammten Platz bedienen und ihre Nähe genießen durfte. Peter hatte mehrfach gehört, wie der Mann seine Frau mit Helene ansprach. Und Peter bemerkte, dass er in Gedanken längst nur von Helene sprach. Zu der offiziellen Anrede musste er sich im Restaurant ganz bewusst überwinden, um keine Indiskretion oder Unhöflichkeit zu begehen.

Eines Tages, als Peter an der Kasse etwas buchte, hörte er einen leisen, aber scharfen Wortwechsel zwischen dem Paar. Er spitzte seine Ohren, aber er hörte nur, wie Helene ihren Mann anzischte, „dann eben nicht!“

Der Ehemann verlangte kurz angebunden die Rechnung, bezahlte, und das Paar verließ rasch das Lokal. Dabei eilte der Mann achtlos voraus, sodass Peter Helene den Mantel reichen, galant die Tür öffnen und sich besonders freundlich verabschieden konnte.

„Es war sehr schön, Sie wieder als Gast zu haben!“, sagte er mit einer kleinen Verbeugung und war sich bewusst, dass er nur Helene und nicht ihren Mann meinte. Offensichtlich hatte sie das auch so verstanden, denn sie nickte, lächelte in ihrer unwiderstehlichen Art und flüsterte: „Ich komme auch gern zu Ihnen!“ Und ganz leise, sodass Peter es gerade noch hören konnte, fügte sie hinzu: „Tut mir leid wegen gerade!“ Dann drehte sie sich um und folgte ihrem Mann in die klirrende Januar-Kälte hinaus.

Peter blieb etwas verwirrt zurück. Sie kommt gern zu mir! Sie hat meine Hand berührt! Und dieser Blick!

Peter lag lange wach in dieser Nacht und wollte seiner Fantasie freien Lauf lassen, aber die anerzogene Disziplin hemmte ihn, sich Wunschbilder auszumalen oder hoff-nungsvolle Gefühle zuzulassen.

Dann geschah etwas Unerwartetes. Das Paar kam nicht wieder. Peter empfand Helenes Ausbleiben als schwer zu ertragende Trennung. In ruhigen Momenten schaute er das Telefon an und erwartete mit dem nächsten Anruf die Reservierung für Samstag. Er versuchte immer, den Platz für Helene freizuhalten. So vergingen Monate, in denen Peter sich nur mit Erinnerungen an sie tröstete.

Eines Tages, als er im warmen Frühsommer beim Einkaufen war, sah er sie auf dem Gehsteig entgegenkommen. Das lange Haar mit rotem Stirnband zusammengefasst, ein roter, eng anliegender Sommerpulli, ein weißer weiter Rock und die schlanken Beine in passend roten, halbhohen Schuhen. Eine weiße Tasche hing locker über der Schulter.

Sein Herz schlug schneller, seine Schritte beschleunigten sich. Er spürte, wie eine Welle der zärtlichen Freude seinen ganzen Körper überrollte und erwärmte. Dann ging er entschlossen auf Helene zu und sah ihren erfreuten Blick, als sie ihn wahrnahm. Sie blieben voreinander stehen. Nach einem kurzen Moment der Stille, in der nur die beiden Augenpaare ein Glückslied sangen, hörte Peter wie von fern seine eigene Stimme:

„Es ist wunderbar, dass ich Sie sehe. Ich habe Sie sehr vermisst.“

Helene neigte den schlanken Kopf zur Seite und lächelte in ihrer charmanten Art, die Peter immer verzückt hatte.

„Ich freue mich auch!“ Dann deutete sie auf ihren rechten Ringfinger, wo Peter keinen Ehering mehr sah und fragte, „können Sie es so verstehen?“

Peter holte etwas erschrocken Luft. Es klang wie ein erleichterter Seufzer.

„Oh ja, das kann ich gut verstehen.“

Bevor er darüber nachdenken konnte, deutete er auf die freien kleinen Tische des Straßencafés neben sich.

„Darf ich Sie zu einem Cappuccino einladen?“

Sie strahlte ihn an. „Ja gern, warum eigentlich nicht!“

 

***

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diese Geschichte entstand als Hausaufgabe in der Schreibwerkstatt. Grundlage war ein Bild, das einen sehr beleibten kleinen Kellner und eine schlanke, große Frau zeigte. Das Thema war vorgegeben: „Warum eigentlich nicht?“

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Haiku – Senryu – Tanka

 

Haiku (3-zeilig zu 5 – 7 – 5 Silben), für Naturbetrachtung.
Der Plural heißt auch Haiku, nicht Haikus.
Senryu (3-zeilig zu 5 – 7 – 5 Silben),
bezieht alle Bereiche des Lebens meist karikierend ein)
Tanka (5-zeilig zu 5 – 7 – 5 – 7 -7 Silben)

 

Haiku

 Wenn Tragik uns quält
müssen wir umso ernster
den Humor pflegen

 Der Tiger ist voll
Kraft und weiß nicht, was er soll.
Das Gitter macht toll.

 Lieber das Haiku
und in der Stille bleiben
als laute Dramen!

Purzelbaumsätze
Eichhörnchenkinder tollen
über dieses Blatt

Natur wiederholt
ständig die Grundideen
variiert genial.

Haiku füllt Blätter
mit natürlichen Klängen
Wer singt die Lieder

Haiku reduziert
die Natur auf das Wesen
und zeigt die Essenz.

Wenn das Haiku ruft
ist die Natur das Thema
und füllt die Zeilen.

Tulpenknospenblatt
Im Frühling entfaltet rasch
Sanftes Glücksgefühl

Sonnenstrahlenlicht
Erhellt tiefdunkle Seele
Heilend fürs Leben

Kinderlockenglanz
Unverstelltes Säuglingsglück
Eltern sind dankbar

Tulpenmeerwogen
Kirschblütenregentropfen
Frühling macht glücklich

Schneeglöckchenklingeln
und Osterglockenläuten
Frühlingskonzertglück

Tulpenrot-Teppich
magnolienweißer Baum
Umzug der Natur

Apfel und Kirsche
Frühlingsblütenbotschaften
zaubern Glücksgefühl

Senryu

 Senryu nimmt es nicht krumm,
wenn ich Zeilen tausch,
denn es ist Stimmungsneutrum.

Feine Zeilenart
hat wie Feilen keinen Bart.
Beine feilen zart.

Der Reim wiederholt
Silben von oben am Schluss.
Das kann nicht, das muss!

Mein Freund sagte klug:
Beziehungen schaden nur
dem, der sie nicht hat.

Will Zeilen finden
die bei dem Feilen zünden.
Schüttelreimglück.

Schreibwerkstatttexte
Erleichtern Gedankenspiel
Heitere Stunden

Politikerwort
Verschwurbeltes Geschwafel
Zeitverschleuderung

Tanka

Haiku-Melodie
Ungarische Rhapsodie
Musikparodie
In der Steigerung liegt Kraft.
Leises auch das Tanka schafft.

Natur ist polar.
Deshalb muss im Vers der Witz
treffen wie der Blitz.

Haiku ist ein Spiel
in meinem Kopf und Herzen.
Drum darf ich scherzen.
Wenn´s jedoch ein Tanka wird
sind die Zellen sehr verwirrt.

Der Versuch ist´s wert,
auch wenn der Meister mir wehrt
ich will´s unbeschwert,
möchte auch den Reim probieren,
ich muss mich nicht genieren.

Positives All?
Alle Vögel singen Dur!
Warum die Spannung?
Nur wo Gegensätze sind,
kann Bewegung entwickeln.

Mein Vater sagte:
Das Leben ist zu kurz für
die schlechten Weine.
Deshalb bot er den Gästen
den guten an. Lebensart.

Aus allen Blüten
gedeihen reiche Früchte.
Naturgeschenke.
Apfelblüte schenkt Äpfel,
Haikublüte Erkenntnis.

Bald wird´s kalt im Wald,
wenn Willibald den Fuchsbalg
mit der Flinte knallt
der Schall hell im Wald verhallt
und Willibald schnapsig lallt.

Copyright Dr. Dietrich Weller

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Wie kam der rote Schuh hinter das Gemüseregal im Keller?

„Wir müssen ins alte Industriegebiet, dort hat eine Frau starke Schmerzen!“, sagte der Rote-Kreuz-Fahrer, als ich an dem Sonntagspätnachmittag in den Notarztwagen stieg. Wir fuhren durch die menschenleere Stadt und freuten uns in der Sommerhitze am Fahrtwind, der durchs offene Fenster blies. Schließlich kamen wir in die Gegend mit abbruchreifen Häusern, und verwahrloste Grundstücke waren angefüllt mit Müll, alten Reifen und Schrott aus zerlegten Autowracks.

Das Navigationsgerät dirigierte zu uns zu einem verfallenen Einfahrtstor aus zerrissenem Maschendraht, dahinter sahen wir ein zweistöckiges Haus mit einem verwitterten Firmennamen an der abbröckelnden Fassade. Die Holzläden hingen schräg in den Angeln und klapperten im aufkommenden Abendwind. Die zersplitterten Glasscheiben in den dreckigen Fenstern stachen mit ihren Spitzen in die Luft. Als wir durch ölverschmierte Pfützen und steinige Schlaglöcher über den Hof fuhren, fragte der Fahrer: „Wohnt hier wirklich jemand? Die Adresse stimmt!“

Wir betraten den Hausflur durch die angelehnte Eingangstür, die kein Schloss mehr hatte. Stickige Luft schlug uns entgegen. „Hallo, wo sind Sie?“, rief ich in die Stille und sah mit einem kurzen Blick, dass die Büroräume im Erdgeschoss längst verlassen waren, alte Aktenordner und ein Stuhl lagen am Boden, leere Schränke starrten uns offen entgegen. Mit einem Fingerzeichen bat ich den Fahrer die Treppe hoch zu gehen, da hörte ich leise aus der offenen Kellertür eine Frauenstimme: „Ich bin hier!“

Wir schauten uns fragend an und gingen auf der schmutzigen Treppe in das Kellergeschoß hinunter. Mein Versuch, Licht am Schalter anzumachen, scheiterte. Kein Strom! Glücklicherweise hatte der Fahrer eine Taschenlampe dabei, und so suchten wir im Scheinwerferlicht den Weg im Kellerflur an den mit Latten abgeteilten Verschlägen vorbei und stiegen über Kisten, Mülltüten und anderes Gerümpel, das uns den Weg versperrte. Es fiel mir auf, dass da besonders viele alte Schuhe herumlagen.

„Ich bin ganz hinten!“, hörten wir im Dunkel. Wir gingen der Stimme nach. Da sahen wir einen Kerzenschein im letzten Kabuff. Die Tür war ausgehängt und zwischen Mülltüten und Gerümpel eingeklemmt.

Auf dem Boden lagen zwei vergammelte Matratzen, auf einer lag neben einem zerrissenen und verdreckten Laken eine Frau, halb mit einem Fetzen bekleidet, der früher mal ein Nachthemd gewesen war. Sie war abgemagert und hohlwangig, die Augen leuchteten gespenstisch im Kegel der Taschenlampe. Wir kamen erst an die Matratze heran, als wir noch über Kochgeschirr, zerlumpte Kleider, leere Bierflaschen, alte Kerzenstummel und einen vollen stinkenden Aschbecher gestiegen waren und mit dem Scheinwerferlicht eine Maus in ihr Versteck im hochgetürmten Müll verjagt hatten.

Und überall Schuhe! Zerfetzte Turnschuhe, alte Schlappen, dreckige Stiefel, Halbschuhe mit zerrissenem Leder und abgewetzten Sohlen und sogar kaputte hochhackige Damenschuhe. Ein Kerzenrest hatte sich auf einer Glasscherbe festgetropft und verbreitete ein schwach flackerndes Licht. Der dumpfe Gestank aus Dreck, abgestandener Luft, Schweiß, Alkohol und Zigaretten machte uns das Atmen schwer. Ich spürte, wie sich ein leichter Brechreiz in meinem Magen ausdehnte. Konzentriert bleiben!, dachte ich, wir stehen mitten in einer Messie-Absteige mit spezieller Schuhmüllhalde!

Nachdem ich uns der Frau vorgestellt hatte, fragte ich: „Was haben Sie denn?“ Ich schaute im Dämmerlicht der Taschenlampe das blasse und eingefallene Gesicht der Patientin an: Augen mit einem leeren Blick, schmale und blasse Lippen, ein fast zahnloser Mund, strähniges Haar, das sicher seit Wochen nicht mehr gewaschen war, faltige Haut an den Armen, gelbe Finger mit schwarzen Rändern unter den abgebrochenen Nägeln, die uns die Frau zum Gruß entgegenstreckte. Ich sah viele Einstiche in den Unterarmen und auf den Handrücken, die teilweise blutunterlaufen und mit Narben bedeckt waren.

„Da tut´s weh!“, sagte die Frau leise, schob den Fetzen zur Seite, der sie halb bedeckte und deutete auf ihre faltige nackte Pobacke. Der Fahrer richtete den Schein der Lampe dorthin, und ich sah einen kräftigen menschlichen Bissabdruck mitten auf dem Gesäß. „Wie ist denn das passiert?“, fragte ich so sachlich wie möglich und war froh, dass mein verblüfftes Gesicht im Dunkeln nicht zu sehen war. – „Ach, wissen Sie, ich mag´s gern mit Beißen, und da hat mein Freund wohl ein bisschen zu stark zugebissen! Danach hat er mich hier liegen gelassen und ging ins Stadion. Auf dem Weg dorthin hat er sie angerufen. Geben Sie mir einfach eine Salbe! Die kann mein Freund dann holen, wenn er nicht zu besoffen zurück kommt.“

Als der Fahrer die Patientin nach einem Ausweis fragte, um die Personalien aufzunehmen, sah ich in ihrem Personalausweis, den sie aus einer zerknitterten Stofftasche unter der Matratze hervor zog, dass die Frau gerade mal 30 Jahre alt war. „Sind Sie das wirklich?“, fragte ich, denn auf dem Passfoto schaute mir eine hübsche junge Frau entgegen. „Nein,“ sagte die Patientin mit müder Stimme, „das war ich mal – bevor ich anfing zu drücken.“ Ich schaute nach: Der Ausweis war fünf Jahre alt. Ich hatte die Frau auf etwa 50 geschätzt. Ich schrieb kommentarlos im Licht der Lampe eine Salbe auf.

Dann ließ ich das Licht einmal im Lattenverschlag herumscheinen. Durch meine Drehung stieß ich versehentlich eine Kiste von einem Regal, auf dem auch Lebensmittel lagen. Da sah ich verfaulte Kartoffeln, einen vergammelten Blumenkohl, braun-weiß verfärbte Äpfel, verschimmeltes Brot und viele volle Plastiktüten, die teilweise von einer schmutzigen Männerhose und graubrauner Unterwäsche zugedeckt waren. Auf den Brettern standen noch mehr alte und zerfetzte Schuhe neben benutzten Spritzen und Kanülen. Plötzlich traf ich mit dem Scheinwerferkegel ganz hinten im Regal einen neuen hochhackigen, karmesinroten Damenwildlederschuh mit Plateausohle und besonders langen roten Lederschnürsenkeln.

Ich konnte meine Verblüffung nicht verbergen und sagte: „Sie scheinen außer Müll besonders gern alte Schuhe zu sammeln. Dieser neue Schuh passt aber gar nicht in Ihre Sammlung der anderen Schlappen!“ – Sie versuchte zu lächeln und legte dabei die wenigen noch verbliebenen Zähne frei: „Den hat mein Freund vor drei Jahren in einem Schuhladen geklaut, weil er ihn mir zum Geburtstag schenken wollte. Als die Verkäuferin ihm hinterher rannte, warf er ihr einen Schuh vor die Füße und floh mit dem anderen. Den kann ich zwar nicht benutzen, aber wegwerfen will ich ihn auch nicht! Er erinnert mich zu sehr an die Zeit, als ich noch clean und kein Messie war.“

Wir verabschiedeten uns von ihr, vermieden einen Händedruck und versuchten, möglichst ohne etwas zu berühren aus dem Haus zu kommen. Dort blieben wir vor dem Haus stehen und atmeten mehrfach tief ein und aus, um den entsetzlichen Gestank aus der Nase zu bekommen. Und wir hatten das dringende Bedürfnis nach einer gründlichen Dusche und frischen Kleidern.

Bemerkung:

Diesen Hausbesuch habe ich tatsächlich unter den beschriebenen Umständen mit dem erwähnten „Krankheitsbild“ gemacht. Die Geschichte steht in meinem Buch „Als Schiffsarzt unterwegs und andere ärztliche Kurzgeschichten“, Betulius-Verlag Stuttgart. Die Idee mit dem Schuh ist im Rahmen einer Hausaufgabe in der Schreibwerkstatt, an der ich regelmäßig teilnehme. neu „eingebaut“, die Geschichte insgesamt neu formuliert.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

 

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Späte Abbitte

Ich durfte schon als kleiner Junge oft bei Oma das Wochenende oder später während der Schulferien auch mehrere Wochen in Herrenberg verbringen. Ich hatte einige Freunde in der Nachbarschaft, mit denen ich spielen konnte. Außerdem war Opas Eisenwarenhandlung ein wunderbares Entdeckungs- und Spielfeld mit dem großen Lagerhaus direkt neben dem Wohnhaus, in dem der Laden im Erdgeschoss untergebracht war. Opa war früh gestorben, und Oma hatte die Leitung des Geschäfts übernommen.

Als ich etwa sechs war, hatte Oma an einem Winternachmittag Tante Wig und Tante Bertel zum Kaffeekränzchen eingeladen. Tante Wig hieß eigentlich auch Hedwig wie meine Oma, aber alle sagten Wig zu ihr. Ich war zum Spielen auf der Straße und kam zurück ins Wohnzimmer, um ein Stück von Omas wunderbarem Käsekuchen zu essen. Natürlich wollte ich auch schauen, was da geschieht. Es konnte doch gar nicht sein, dass die drei Frauen nur reden und Kaffee trinken! Aber sie erzählten sich Geschichten, die für mich langweilig waren, während ich meinen Kuchen genoss: Wer war bei welchem Friseur, was kosten die Kartoffeln, und wie teuer war das neue rote Kleid der Nachbarin? Da passierte aber etwas Neues: Oma bat Tante Wig und Tante Bertel ins Nebenzimmer, weil sie ihnen eine neue Tischdecke zeigen wollte. –

Das brachte mich auf eine Idee. Ich nützte den Moment und rief: „Ich geh wieder runter!“ und wartete, bis Oma antwortete: „Ja, ist gut!“ Dann öffnete ich die Tür zum Flur, schloss sie mit deutlich hörbarem Klicken wieder und täuschte dadurch vor, das Zimmer zu verlassen. Stattdessen schlich ich im Zimmer auf Zehenspitzen in ein Versteck, das mir plötzlich einfiel: Neben dem schwarzen, wuchtigen Eichenschrank im Wohnzimmer mit den wertvollen alten Zinnkrügen aus Opas Sammlung gab es zwischen Fenstervorhang, Wand und Schrank eine Lücke, in die ich gut hineinpasste. Von der Sitzgruppe aus konnte man in diese Ecke nicht hinein sehen. Außerdem verdeckte der lange Vorhang den breiten Spalt. Ich zog mich in den hintersten Winkel zurück und wartete ab.

Bald kamen die Damen aus dem Nebenzimmer wieder zurück,  verzehrten bei der nächsten Tasse Kaffee die letzten Kuchenstücke und unterhielten sich lebhaft. Weil die Sitzgruppe ganz in meiner Nähe stand, hörte ich alles sehr gut. Nach einer ganzen Weile sagte Oma: „Der Dietrich sollte jetzt mal hochkommen, es wird langsam dunkel!“ Sie öffnete das Fenster und rief nach mir. Meine Freunde, die auf der Straße Fußball spielten, riefen zurück: „Der ist nicht da!“ – „Ja, wo ist er denn?“ – „Das wissen wir nicht!“

Ich spürte, wie Oma unsicher wurde: „Oje, der Junge ist doch sonst immer in der Nähe.“ – Sie bat die Jungs, mich zu suchen. Sie selbst rief immer wieder zum Fenster hinaus nach mir. – Ich hörte es gut, blieb aber still in meiner Ecke. Die Tanten begannen zu überlegen, wo ich sein könnte. „Er ist bestimmt bei der Frau Vieten im Laden, wo er wieder Bonbons geschenkt bekommt.“ – „Nein, er ist sicher im Lager und holt sich einen Hammer!“ – Oma schlug vor: „Er kann natürlich auch bei Helmut im Adler sein!“ – Der Adler war die Wirtschaft  gegenüber, in dem mein Freund Helmut wohnte.

Oma schlug vor: „Jetzt sollen die Angestellten mal im Lager nachschauen.“ Sie verließ das Wohnzimmer, um den Auftrag zur Suche zu erteilen. Dann kam sie zurück und telefonierte mit einigen Nachbarn. Mit jeder neuen Gewissheit, dass ich auch dort nicht war, wurde Oma ängstlicher und wählte hektisch die nächste Nummer. Tante Bertel spekulierte inzwischen weiter, wo ich sein könnte: „Neulich war doch der Schwarze auf der Straße, hoffentlich hat der den Dietrich nicht …. – Oje, das wäre ja nicht auszudenken!“ Ihre Stimme zitterte. Tante Wig wusste noch etwas Schreckliches: „Ja, ich habe gehört, neulich hat in Stuttgart ein Schwarzer ein Kind entführt! Und jetzt ist es schon ganz dunkel. Wie sollen wir denn finden?“ Dann gab Oma am Telefon auf, weil sie keine nächste Nummer mehr hatte, die sie anrufen konnte: „Jetzt weiß ich überhaupt nicht mehr, wo ich suchen soll!“

Na, die kriegen alle richtig Angst, dachte ich in meiner Ecke und freute mich an meiner tollen Idee. Aber ich fühlte mich auch sehr unwohl, und mir wurde ganz mulmig, weil ich spürte, wie sich Oma Sorgen um mich machte. Dann überlegte ich: Wenn ich jetzt aus meinem Versteck komme, schimpft sie sicher schrecklich mit mir, das war ich mir klar. Ich wagte nicht, meinen sicheren Platz zu verlassen. Oma hatte eine aufgeregte Stimme, die ich gar nicht kannte. „Wie soll ich das denn der Sigrid und dem Gustav klar machen, dass ihr Bub nicht mehr da ist? Ich hab doch die Verantwortung! Das ist ja eine Katastrophe! Es wird ihm doch nichts zugestoßen sein!“ –

„Na ja, so ganz sicher können wir ja nicht sein!“, fügte Tante Bertel hinzu und merkte gar nicht, wie sie weiter Öl ins Feuer goss. Oma und Tante Wig waren schrecklich aufgeregt: „Wir müssen jetzt sofort die Polizei rufen, die müssen ihn suchen!“ Sie wollte gerade nach dem Telefonhörer greifen, da klopfte es an der Tür. Ein Angestellter trat ein und war ganz außer Atem: „Also im Laden und im Lagerhaus ist er auch nicht. Wir haben jetzt in den Nachbarhäusern gefragt. Überall Fehlanzeige. Wir suchen weiter!“ Er schloss die Tür und lief wieder davon.

Dann klingelte es an der Haustür. Oma ging hinaus und kam nach einem kurzen Moment zurück und sagte mit zitternden Stimme: „Die Buben haben ihn auch nicht gefunden!“ Die drei Frauen redeten wirr durcheinander. Die Stimmen schnappten über und wurden lauter. Ich hörte noch Wortfetzen: „Entführung – Misshandlung – Autounfall – im Adlerbrunnen ertrunken!“

Omas Stimme stockte, ich hörte, wie sich in den Sessel fallen ließ. Dann brach ihre ganze Angst aus ihr heraus, und sie begann bitterlich zu weinen. Ihr Stimme war kaum mehr zu verstehen. Diese immer beherrschte tapfere Frau schluchzte hemmungslos. Tante Wig und Tante Bertel versuchten mit leiser, weinender Stimme, Oma zu beruhigen. Aber Omas Weinen wurde immer heftiger.

Oma dachte, ich sei tot! – Das war zu viel für mich. Sie tat mir plötzlich richtig leid, und ich wollte nicht, dass sie so verzweifelt ist. Ich schob den Vorhang langsam zur Seite und kam vorsichtig aus meinem Versteck. Da sah ich die Bescherung, die ich angerichtet hatte: Drei Frauen mit Tränen in den Gesichtern umarmten einander in unendlicher Hilflosigkeit. Ich blieb neben dem Schrank stehen, unschlüssig, was ich jetzt tun sollte.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Tante Wig mich bemerkte. Sie deutet auf mich und stieß einen leisen Schrei aus: „Da ist er!“ – Oma schaute auf. Sie sah mich an, ihr Mund stand im Schluchzen plötzlich offen, ihre Augen vor Schreck geweitet, die weinende Stimme brach ab. Eine Sekunde lang war absolute Stille im Raum. Oma deutete stumm auf mein Versteck mit dem fragenden Blick: Da warst du die ganze Zeit? –

Ich nickte. Mir steckte ein Kloß im Hals. Ich konnte nichts sagen und fühlte, wie mir Tränen den Blick verschleierten. Plötzlich war Oma klar, welches böse Spiel ich ihr aufgezwungen hatte. Ihr Gesicht wurde schlagartig wutrot, dann blass, ihr Körper war starr aufgerichtet. Dann löste sich die Spannung, und sie sank wie in Zeitlupe ganz langsam vom Sessel mit den Knien auf den Teppich, breitete die Arme aus und nahm mich weinend vor Erleichterung in ihre Arme. Ich weiß noch, dass wir beide bei der Berührung unserer Wangen ganz nasse Gesichter hatten.

Als Oma sich beruhigt hatte, hielt sie mich an beiden Armen ein Stück weg von sich, schaute mich aus ihren geröteten Augen durch den Tränenschleier an und sagte leise und mit mühsam beherrschter Stimme, jedes Wort betonend: „Hörst du: Mach nie wieder so was! Hast du das verstanden?!“ Das war die ganze Strafpredigt.

Wenn ich heute an diesen Nachmittag denke, schäme ich mich noch immer für meine Gemeinheit. Das hatte Oma wirklich nicht verdient.

Copyright Dr. Dietrich Weller

Die Geschichte entstand als Hausaufgabe in der Schreibwerkstatt

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Euphemismen

Im weitesten Sinn ist ein Mythos eine Sache oder Begebenheit, die aus irrationalen Gründen glorifiziert wird. In diesen Bereich passen auch die im deutschen Sprachgebrauch häufigen Euphemismen. Euphemia bedeutet im Griechischen Worte von guter Bedeutung. Damit werden Sachverhalte beschönigt, verhüllt, verbrämt, bagatellisiert oder banalisiert. Gefühle sollen geschont und unangenehme Gefühle möglichst nicht erweckt werden. Deshalb gehören diese sprachtaktischen Verrenkungen zum Handwerkszeug all derer, die etwas zu verbergen oder zu verkaufen haben, was im klaren Licht gesehen unangenehm, abstoßend oder gar kriminell ist. Die häufigsten Anwender von Euphemismen sind deshalb Politiker, Wirtschaftsbosse und Menschen, die zu ihren Taten nicht wirklich stehen wollen. Auch im Alltagsbereich finden wir Euphemismen im körperlichen, sexuellen, religiösen und sozialen Bereich.

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Das Berufsbild des Rentners

In der Woche vor meinem 65. Geburtstag, genau eine Woche, bevor ich Rentner wurde, begegnete ich einem alten Bekannten wieder, der ein paar Jahre vor mir in die Rente gegangen war. Er sagte lachend:

„Rentner ist der schönste Beruf, den es gibt! Nur die Ausbildungszeit ist so lang!“

Dieser Satz beschäftigte mich in den nächsten zwei Nächten. Rentner war für mich immer gleichbedeutend mit nicht mehr im Beruf zu sein. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, dass Rentner eine Berufsbezeichnung sein könnte. Was ein Arzt, ein Rechtsanwalt, ein Schreiner, ein Architekt beruflich machen, weiß ich, aber was macht ein Rentner? Und mal angenommen, Rentnersein wäre ein Beruf: Was ist dann seine Aufgabe, und wie bereitet er sich darauf vor? Wann kann er sagen, er habe sein Berufsaufgabe gut erfüllt und sein Berufsziel erreicht?

Ein prägendes Erlebnis, das mich als jungen Arzt mit dem Thema Rentnersein konfrontiert hat, will ich vorweg erzählen.

Als ich meine Praxis erst kurz eröffnet hatte, wurde ich eines Morgens von der Ehefrau eines Mannes angerufen, den ich aus dem privaten Bereich kannte: groß, stattlich, gut aussehend, erfolgreich, zwei Söhne, eigenes Haus. Er war einer der Direktoren eines Weltkonzerns. Die Frau bat mich um einen dringenden Hausbesuch, da ihr Mann morgens weinend aufgewacht sei und sich nicht beruhigen lasse. Sie wisse überhaupt nicht, was er habe und wie sie mit ihm umgehen solle.

Als ich kurz darauf am Bett des schluchzenden und verzweifelten Patienten saß und ihn langsam „heruntergeredet“ hatte, sodass wir miteinander sprechen konnten, kam der erklärende Satz: „Gestern wurde ich in der Firma mit allen Ehren in die Rente verabschiedet. Heute Morgen bin ich aufgewacht, und jetzt bin ich nichts mehr wert. Ich weiß überhaupt nicht, was ich jetzt tun soll.“

Im weiteren Verlauf des Gesprächs wurde auch ihm klar, dass er sich sein Leben lang nur über die Leistung bei seiner Arbeit definiert und zum Beispiel keine Hobbys hatte. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, womit er sich als Rentner beschäftigen sollte und wollte.

***

Manchmal hilft es, Dinge ganz neu zu erkennen oder Neues an Bekanntem zu entdecken, wenn man den Blickwinkel oder den Kontext einer Betrachtung wechselt. Und weil Englisch neben Latein mittlerweile die medizinische Fachsprache geworden ist, nützen die Psychotherapeuten und Psychiater das Wort frame für Rahmen und geben dem Bild und den Ansichten der Patienten oder Klienten einen neuen Rahmen, damit er neue Erkenntnisse gewinnen kann. Die Therapeuten sagen dazu Reframing. Dies will ich in dem folgenden Text tun.

Üblicherweise sehen wir in der Rentenzeit ein erstrebenswertes Ziel, weil wir dann nichts mehr arbeiten müssen und nur noch frei sind und keine Pflichten mehr haben. Und die Rente kommt von allein.

Heinrich Zille hat das Motto dazu gereimt:

„Wie herrlich ist es, nichts zu tun und dann vom Nichtstun auszuruhn!“

Das ist eine fröhliche und sehr oberflächliche Sichtweise. Deshalb will ich sie in den folgenden Überlegungen mit einem neuen Gedanken umrahmen und dann genauer anschauen.

Ich schreibe diesen Essay auch, weil ich ab dem nächsten Monat Rentner bin. Dabei weiß ich, dass wir Ärzte immer beichten, wenn wir anderen Menschen, besonders unseren Patienten, etwas empfehlen. Wir raten ihnen (oft), was wir selbst machen müss(t)en. Ich verfasse diesen Essay also sehr bewusst auch für mich selbst.

Der neue Rahmen des jetzt zu betrachtenden Bildes heißt:

Rentner zu sein ist ein Beruf, auf den wir uns lange vorbereiten müssen, und der uns viele schöne und schwierige Aufgaben stellt und dadurch an die Grenzen unserer physischen und psychischen Möglichkeiten führt und uns zwingt, sie zu überschreiten.

Die meisten Menschen haben eine etwa 65-jährige Ausbildung für diesen Rentnerberuf durchlaufen. Manche fühlen sich schon früher reif dafür, denn fürs vermeintliche Nichtstun brauchen wir ja keine Ausbildung. Das können wir schon lange! Manche Menschen wollen eine längere Ausbildungszeit nützen, weil sie an dieser Weiterbildung Freude haben oder weil sie damit Geld verdienen müssen oder wollen. Vielleicht sind sie sich auch nicht bewusst oder wollen nicht wahrhaben, welche Aufgaben als Rentner auf sie warten.

Die berufliche Aufgabe, die wir als Rentner lösen müssen, besteht darin, den individuellen Sinn des Lebens zu erkennen, zu erfühlen und mit Leben zu erfüllen. Die wichtigste Herausforderung kommt am Schluss: Wir müssen uns darauf vorbereiten, dieses Leben und das Sterben als natürlichen Teil des Lebens emotional anzunehmen und in Würde und bewusst loszulassen.

Oder persönlich formuliert: Ich muss herausfinden, wie die Frage heißt, auf die mein Leben die Antwort ist.

Mich erinnert das an meinen Mathematiklehrer, der einmal gesagt hat: „Sie müssen die Probleme der Klassenarbeit vor der Prüfung lösen, nicht während der Prüfung. Denn Sie haben zu wenig Zeit, wenn Sie erst dann anfangen, sich mit der Aufgabe zu beschäftigen. Während der Prüfung brauchen Sie alle Konzentration, das Gelernte situationsentsprechend und unaufgeregt anzuwenden.“

Das bedeutet für die Vorbereitungszeit auf die Rente, also für den Azubi-Rentner, eben diese Aufgaben, die wir in der Rentenzeit lösen müssen, in unseren Trainingsplan vor der Rente einzubeziehen und nicht auszuklammern und zu verdrängen. Dabei hilft uns der Gedanke, dass das Sterben zum Leben gehört wie die Geburt auch. Die absolute Gewissheit, dass wir alle durch das letzte große Tor des Sterbens durchgehen müssen, sollte uns ruhiger machen und dazu führen, dass wir uns intensiv und gelassen damit beschäftigen.

Über die Geburt eines Kindes freuen wir uns, und vor dem Sterben und dem Tod haben wir Angst. Warum eigentlich? Beides sind normale Teile des Lebens. Und das Thema loslassen beschäftigt uns das ganze Leben lang in mehr oder weniger drastischer Form.

So wie ein Kind im Uterus keine Ahnung davon hat, wie sehr sich das Leben nach der Geburt ändert, wissen wir nicht, was nach dem Tod auf uns wartet. Der Fötus weiß nicht, dass er einmal mit dem Mund essen wird, statt über die Nabelschnur versorgt zu werden. Er weiß nicht, dass er einmal gehen und mit anderen Menschen sprechen kann. Der Fötus würde wahrscheinlich sagen: „Es kann gar keine Mutter geben, denn ich sehe sie nicht. Also kann sie sich auch nicht um uns kümmern oder gar Gefühle für uns haben. Es kann kein Leben nach der Geburt geben, denn es ist noch keiner von dort zurückgekommen!“

Wir sollten es immerhin im Bereich des Möglichen lassen, dass es sogar nach dem Tod schön werden kann, wenn auch eben ganz anders, als wir es mit unserem irdischen Verständnis denken können.

Wenn wir mit Angst den Gedanken an das Sterben und den Tod verdrängen, beschäftigen wir unser Unterbewusstsein oder unser Bewusstsein intensiv mit negativen Gedanken in Bezug auf diesen Sterbevorgang. Wie viel sinnvoller wäre es, dies positiv zu tun, wenn wir schon wissen, dass wir ihn nicht vermeiden können!

Angst ist eine sehr wirksame Autosuggestion, dass genau das geschieht, wovor wir uns in bangen Nächten fürchten. Denn unser Unterbewusstsein erfüllt die Gedanken und emotionsgeladenen Bilder, mit denen wir unser Unterbewusstsein beschäftigen. Es erkennt keine Verneinungen.

Wir können uns nicht vornehmen, keine rosa Elefanten zu sehen, weil wir ja wissen, dass es sie nicht gibt! Wenn wir darüber nachdenken, dass wir keine rosa Elefanten sehen wollen, sehen wir rosa Elefanten. Angst vor dem Sterben und dem Tod schafft intensiv emotional beladene Prägungen in unserem Unterbewusstsein. Auch die Lernforschung zeigt, dass wir Sachverhalte, die wir unter emotional günstigen Bedingungen gelernt haben, leichter merken können und später gern und erfolgreich anwenden können. Dinge, die wir mit negativen Empfindungen gelernt haben, sitzen ebenfalls tief geprägt in unserem Hirn, aber sie sind an einer anderen Stelle – nämlich im Mandelkern – gespeichert und dort mit Ablehnung und Aggression verbunden. Wenn diese Lerninhalte später im Leben abgerufen werden, tauchen automatisch die damit verbundenen negativen Emotionen wieder auf, und Ergebnisse werden verschlechtert.

Wir müssen unser Unterbewusstsein prägen mit emotional positiv geladenen Gedanken über die Dinge und Ereignisse, die wir erreichen und erleben wollen. Das setzt voraus, dass wir klar wissen, was wir wollen. Viele Menschen wissen nur, was sie nicht wollen, und denken darüber intensiv nach. Sie programmieren sich emotional und sachlich negativ. –

Es gibt den verblüffenden, scheinbar paradoxen Satz: „Hüte dich vor deinen Gedanken, denn sie erfüllen sich.“ – Aber auch diese Aufforderung enthält eine Verneinung („hüte dich vor“), die von unserem Unterbewusstsein nicht erkannt wird und emotional negativ beladen ist. Der Satz muss richtig heißen: „Denke oft darüber nach, was Du willst, und freu dich darauf.“

***

Es wäre töricht und unrealistisch zu glauben, wir könnten alles mit unseren Gedanken beeinflussen.

„Wir müssen das Leben nehmen wie es kommt. Aber wir können etwas dafür tun, dass es kommt, wie wir es nehmen möchten.“

Dieser Satz von Curt Goetz ist eine gute Richtschnur. Verbinden wir sie mit Seneca:

„Zweifle nicht, ohne zu hoffen. Hoffe nicht, ohne zu zweifeln.“

Der amerikanische Onkologe Bernie Siegel sagt:

„Im Zweifelsfall ist Hoffnung immer richtig.“

Wir brauchen Hoffnung gerade dann, wenn die Situation hoffnungslos ist. Bei Sonnenschein brauchen wir keinen Regenschirm! Aber wenn es unerträglich wird, alles schwarz erscheint, Schmerzen und Sorgen die Nacht zur Qual machen und der segensreiche Schlaf sich nicht einstellt, dann ist es hilfreich, Hoffnung zu haben auf einen Tod ohne Schmerzen. Sie lassen sich besser ertragen, wenn wir wissen, wann und dass sie enden werden. Wir erleben Erleichterung in dem Bewusstsein und in der Hoffnung, geliebt worden zu sein und gute Spuren zu hinterlassen, die gepflegt werden. Dann helfen uns der Gedanke und das Gefühl, mit uns selbst und der Umwelt im Reinen zu sein.

Wir brauchen die Hoffnung, sterben zu dürfen in der Umgebung, die wir uns wünschen, vielleicht sogar im Arm eines geliebten Menschen, der uns loslässt, weil (!) er uns liebt. Es ist ein Segen, wenn wir auf ein Ende hoffen dürfen mit dem Wissen, ein sinnvolles Leben erlebt und erarbeitet zu haben. Ja, Leben ist Arbeit: meistens in den ersten beiden Dritteln ganz anders – unter anderen Gesichtspunkten – als im letzten Drittel.

Ich bin in meiner Azubi-Rentner-Zeit immer im richtigen Moment den richtigen Menschen, den richtigen Büchern und der richtigen Musik begegnet.

Jedenfalls hatte ich oft den Eindruck, Zufälle fallen uns zu, wenn sie fällig sind.

Meine Aufgabe besteht darin, aufmerksam zu sein und zu merken, wann da scheinbar zufällig wieder der richtige Mensch vor mir steht, die richtige Musik läuft oder ich das richtige Buch in der Hand habe, und was es mir zeigen will, was ich daraus lernen oder woran ich mich freuen kann. Oder wenn wir es religiös formulieren wollen:

Zufall ist Gottes Trick, inkognito zu bleiben.

Wer Sinn erleben will, muss etwas Sinnvolles tun. Auf tun liegt die Betonung! Das ist das Motto des bewussten Rentners. Dabei ist bewusste seelische und emotionale Arbeit mindestens gleich wichtig wie körperliche, die im Alter ja oft durch Behinderungen eingeschränkt ist. Viele Rentner beteiligen sich deshalb sehr bewundernswert und intensiv – oft auch ehrenamtlich – an sozialen und beruflichen Aufgaben, für die sie fähig und erfahren sind. Sie leisten damit einen wertvollen und unverzichtbaren Beitrag zu unserer Gesellschaft.

Auch hier gilt: Helfer müssen immer stark bleiben. Sie haben die Pflicht, für die Stabilität ihres Rückgrates zu sorgen. Und das meine ich nicht nur körperlich mit der Belastbarkeit des Rückens, sondern auch im übertragenen Sinne seelisch, emotional und geistig. Wenn Helfer sich überlasten, werden sie zu hilflosen Helfern. Das nützt dann wirklich niemand. Ganz im Gegenteil: Der Helfer wird auch hilfsbedürftig. Er bringt sich selbst in die Lage, aus der er anderen Menschen heraushelfen will. Deshalb sind eingeplante und von allen Beteiligten akzeptierte Pausen wichtig, um die emotionale und körperliche Kraft immer wieder zu regenerieren.

Ein wichtiger Gesichtspunkt, der uns zum Helfer-Syndrom führt, sind früh eingepflanzte Schuldgefühle. Dadurch haben wir früh ein negatives Urteil anderer Menschen über uns als richtig angenommen und versuchen, durch vermehrte Leistung diese Schuld abzutragen. Je mehr wir dies versuchen, umso mehr merken wir, dass es nichtfunktioniert. Schuld – das negative Urteil anderer – wird zur Aggression, die wir gegen uns selbst richten. Das Einzige, was ich – und nur ich! – wirklich ändern kann – aber das ist oft schwer –, ist meine Einstellung den Dingen gegenüber.

Das zeigt diese Zen-Geschichte: Ein Schüler kommt zum Meister und fragt: „Seit wann bist du Meister?“ – Der Meister sagt: „Als ich noch ganz jung war, wollte ich die ganze Welt ändern. Irgendwann habe ich bemerkt, dass ich das nicht kann. Dann habe ich versucht, alles um mich herum zu verändern. Ich habe lange gebraucht, bis ich mir eingestehen musste, dass ich auch das nicht schaffe. Jetzt versuche ich, mich zu verändern. Seither nennen mich die Menschen Meister.“

Dabei muss klar sein, dass der Abschluss einer Berufsausbildung, z. B. ein Meisterbrief bei den Handwerkern oder ein Staatsexamen bei den Akademikern oder eine Approbation beim Arzt noch kein Zeichen ist, dass der Absolvent alles kann. Er hat nur die Erlaubnis, den Beruf von jetzt an selbstverantwortlich auszuüben. Ab hier beginnt die eigentliche Sammlung von Erfahrung, der wirkliche Lernprozess. Alles hat auch eine gute Seite, selbst wenn wir gerade auf die negative Seite der Medaille (des Lebens) schauen. Wir können die Medaille nicht haben, wenn wir nicht bereit sind, beide Seiten in der Hand zu tragen. Es liegt an uns, welche wir anschauen und was wir daraus machen. Es rettet uns, wenn wir in unserer Azubi-Zeit gelernt haben, dass auch in unserem Leben scheinbar unüberwindbare traumatische Erlebnisse Gutes nach sich gezogen haben. Viele wunderbare Entwicklungen wären nicht möglich gewesen, wenn wir nicht vorher etwas Schlimmes durchgemacht hätten.

Wir brauchen Geduld und Kraft, die Wendung zum Guten zu erleben. Und in diesem Sinn kann auch der Tod etwas Gutes sein.

„Es gibt Zeiten, in denen es gesund ist zu sterben.“

Dieser Satz stammt von Dame Ciceley Saunders, die als Krankenschwester und Ärztin für die Gründung und Entwicklung der englischen Hospizbewegung von der englischen Königin geadelt wurde und deren Wirken die Grundlage für die Hospizbewegung in der ganzen westlich orientierten Welt darstellt. Auch ich habe es mehrfach erlebt, dass ich am Bett eines gerade verstorbenen Patienten stand und mit den Angehörigen sagen konnte: „Jetzt ist es zwar sehr traurig, aber gut so!“

***

Ein gültiges Testament und eine möglichst individuell und sorgfältig ausgearbeitete Patientenverfügung helfen, dass wir leichter und bewusster leben können. Damit können wir viel bestimmen, und es lohnt sich, für die Abfassung dieser Dokumente Zeit und Mühe aufzuwenden, denn es sind die wesentlichen Dinge, die wir in Bezug auf Leben und Tod entscheiden können. Wie viel Zeit wenden wir auf, um das richtige Auto, das beste Haus, die schönste Reise auszuwählen? Dann lohnt es sich erst recht, für unser Leben und Sterben unsere Vorstellungen gründlich zu überlegen und zu formulieren, soweit sie in unserer Macht liegen. Auch hier können wir (in bestimmten Grenzen) etwas dafür tun, dass das Leben so kommt, wie wir es nehmen möchten.

Wir können mit einem guten Testament sogar Einfluss auf den Verlauf nach unserem Tod nehmen und damit einen Beitrag zu Frieden (oder Unfrieden!) in der Familie leisten. Mit der Patientenverfügung nehmen wir den Verwandten z.B. Therapieentscheidungen bei unserem Sterbeprozess ab, indem wir selbst entscheiden. Es ist für die Verwandten schwer genug, unserem Sterben zuzusehen und es zu ertragen. Aber sie wissen dann wenigstens, was sie uns Gutes tun können, indem sie unseren festgelegten Willen akzeptieren und umsetzen.

Der Rentner ist ein selbständiger Unternehmer, der das Recht hat, seine Arbeitszeit einzuteilen und seine Lebensweise selbst zu bestimmen. Nichts verpflichtet uns so sehr zur Verantwortung wie Freiheit. Also ist es wichtig, die Arbeitszeit bewusst und sinnvoll einzuteilen und zu nützen.

Die Arbeitszeit des Rentners ist definiert als die Zeit, die nötig ist, um die Aufgabe zu lösen. Das sind im Fall des Rentners 24 Stunden täglich. Dabei muss berücksichtigt werden, dass eine pausenstrukturierte Arbeitsweise nicht nur sinnvoll, sondern dringend erforderlich ist, um die Zeit des Rentnerdaseins optimal zu verlängern.

Ich schreibe bewusst optimal und nicht maximal! Mit optimal meine ich die unter den gegebenen Umständen beste Lebensdauer. Maximal bedeutet die längste erreichbare Lebenszeit – ohne Rücksicht auf die Lebensumstände oder Lebensqualität. Mir ist die Lebensqualität viel wichtiger als die Lebensdauer. Deshalb bin ich auch bereit, auf Lebensdauer zu verzichten, wenn die Lebensqualität mir nicht mehr lebenswert erscheint. Ich lege Wert darauf, dass ich entscheide, was meine Lebensqualität ist und wann ich mein Leben lebenswert empfinde oder nicht (und nicht meine Verwandten oder ein Arzt oder gar ein Pfarrer). Deshalb habe ich dies in meiner Patientenverfügung detailliert formuliert.

Die pausenstrukturierte Arbeitsweise ist wie gesagt nicht nur in der Azubi-Zeit des Rentners wichtig, sondern auch in der Rentnerzeit. Meinen Patienten erkläre ich den Begriff und Wert der pausenstrukturierten Arbeit am Beispiel des EKGs mit der Arbeit des Herzens. Die Phase der Entspannung (Diastole) ist beim gesunden Herz immer länger, beim trainierten Herz sogar manchmal doppelt so lang wie die Phase der Arbeit (Systole). Je besser das Herz trainiert ist, umso kräftiger und wirkungsvoller ist die Arbeitsphase.

Nur weil das Herz von Beginn der ersten Schläge im Mutterleib an streng eingehaltene Pausen macht, kann es ein ganzes Menschenleben lang zuverlässig arbeiten. Schon wenn das Herz des Erwachsenen pro Minute über 140 Schläge macht, werden die Pausen zur Erholung viel zu kurz. Das hält auch ein gesundes Herz nicht lange durch. Wenn diese Schlagzahl höher wird und länger durchgehalten werden soll und gar unrhythmisch wird, droht akute Lebensgefahr!

Ein anderes Beispiel für den Wert der pausenstrukturierten Arbeit habe ich bei der Bundeswehr gelernt: Wenn eine Gruppe Soldaten einen Tagesmarsch von vierzig Kilometer machen soll und alle Männer ohne Pause möglichst rasch über diesen Weg getrieben werden, ist zu erwarten, dass nur ein Teil der Männer das Ziel erreicht. Wenn man aber den Soldaten vorher schon sagt, dass sie alle zehn Kilometer zwanzig Minuten Pause machen müssen(!), ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass alle Männer das Ziel erreichen.

Die Ruhephasen sind auch ein notwendiger (die Not wendender) Bestandteil der Rentnerarbeit. Denn Erholung im Schlaf, bei bewusster Langsamkeit und anderen absichtlich eingelegten Ruhepausen sind ein integrierter Bestandteil der Arbeit. Sie sind unerlässlich und haben den besten Erholungswert und dauerhafte positive Auswirkung, wenn sie mit Freude angenommen und genossen werden.

Dann gibt es auch keine Langeweile! Denn nichts weilt zu lang, weil alle Zeit, die wir haben, ein wichtiger Teil unserer Arbeit als Rentner ist. Auch während des scheinbaren Nichtstuns arbeitet unser Körper. Wir dürfen nicht in den verbreiteten Fehler verfallen zu glauben, körperliches Nichtstun sei immer gleichbedeutend mit Faulheit. Denkpausen in körperlicher Ruhe und Zeiten, Emotionen bewusst aufzunehmen und zu verarbeiten, Meditationsphasen im weitesten Sinn sind unverzichtbar und sollten als Kreativzeit und Phasen zur Erholung des Körpers und des Geistes angesehen und geschätzt werden. Dann verarbeitet unser Gehirn die Eindrücke des Tages, auch z.B. in Träumen, und bildet neue Synapsen und Neurone und baut sie aus.

Die Schlafforschung zeigt, dass Menschen, die nicht mehr träumen können und schlecht schlafen, auch zum Beispiel mit einem Schlafapnoe-Syndrom, also ein pathologisches Schlafmuster haben, körperlich krank werden. Sie haben häufig einen Bluthochdruck und andere gestörte vegetative Funktionen. Ganz abgesehen von ihrer Unfähigkeit, die gesunden Verarbeitungsmechanismen des Schlafes für Alltagserlebnisse und besonders für traumatische Begebenheiten nützen zu können. – Nicht ohne Grund gibt es die Foltermethode Schlafentzug!

Die Hirnforschung hat bewiesen, dass zwei Aktivitäten die Entwicklung der Demenz aufschieben können: geistige Aktivität kombiniert mit Bewegung. Denn dadurch wird die Neubildungen von Synapsen und Neuronen angeregt, und bestehende Verbindungen werden in Funktionen gehalten. Nicht benutzte Synapsen und Funktionsbereiche bilden sich zurück wie ein Muskel in einem eingegipsten Bein. Kognition ist die Fähigkeit, die Umwelt wahrzunehmen und darauf zu reagieren, z.B. mit Aufmerksamkeit, Reaktionsgeschwindigkeit, Gedächtnis, Konzentrationsfähigkeit, Anpassung der Stimmung an die Situation.

Deshalb ist es sinnvoll, gerade im Rentnerberuf Training von Kognition und Bewegung regelmäßig in den Tagesablauf einzubauen. Eindrücke und Aktivitäten in der Natur und /oder bei kreativen Tätigkeiten (Malerei, Musik, handwerkliche Tätigkeiten etc.) können wertvolle Beiträge zur Fülle und Bewältigung der kognitiven Anforderung leisten. Wenn die Feinmotorik und Gleichgewichtsreaktionen gleichzeitig mit der Konzentration und Reaktionsgeschwindigkeit gefördert werden wie beim Spielen eines Instrumentes oder beim Fahrradfahren oder Tanzen, können wir unsere Hirnfunktion optimal fördern und dabei die Lebensqualität regelmäßig verbessern. Dass wir damit auch die körperliche und kardiale Kondition optimieren, ist ein sehr angenehmer und erstrebenswerter Begleiteffekt.

Die vielfältigen Möglichkeiten, Kognition zu trainieren, lassen uns eine große Wahl: Vom Spaziergang, Joggen, Fahrradfahren, Wandern, Tanzen bis zum Lesen, Schreiben, künstlerischen Arbeiten, Gedächtnis- und Konzentrationstraining bietet sich eine große Bandbreite an.

Manche Rentner haben während ihrer Ausbildung interessante Tätigkeiten gelernt, die damals ihr Beruf waren und jetzt in der Rentenzeit zur Erbauung und zum kognitiven Training genützt werden können, auch in vermindertem zeitlichem Umfang. Die Rentner helfen den anderen Menschen, die sich noch in der Vorbereitung zum Rentner befinden, z. B. durch Vertretungen im alten Azubi-Bereich, mit ihrer Erfahrung, und sich selbst mit Erfolgserlebnissen.

Neben all den beruflichen schweren Aufgaben darf der Rentner nicht vergessen, sein Berufsleben so freudig und heiter wie möglich zu führen. Wohl dem, der das in seiner Azubi-Zeit gelernt und mit einer positiven Gesinnung und Familie und Freunden geprägt hat.

Eine glückliche Partnerschaft und eine harmonische Einbindung in eine friedlich funktionierende familiäre Struktur bereichern nicht nur den Alltag, die allgemeine Lebensqualität und emotionale Stabilität und Belastbarkeit, sondern verlängern auch statistisch nachgewiesen die Lebensdauer.

Allein lebende Menschen leben kürzer als partnerschaftlich verbundene. Sogar ein Haustier, um das sich ein alter Mensch kümmern kann, wenn er allein lebt, erhöht erwiesenermaßen die Lebensqualität und die Lebensdauer des alten Menschen. Auch aus diesem Grund gibt es häufig in Altenheimen und Betreuten Wohnanlagen eine Hauskatze, die eine Verbindung zu den alten Menschen untereinander herstellt und Wärme, Fürsorge und Pflichtgefühl fördert.

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Dankbarkeit über die eigene Gesundheit und die Möglichkeiten, den Beruf täglich aufs Neue ausfüllen zu dürfen und vielleicht sogar treue Begleiter in der Familie und in Freunden zu haben, sollte eine dauerhafte Grundhaltung sein.

Das Motto dazu könnte lauten: Die Vergangenheit ist Geschichte, die Zukunft ist Geheimnis, der Augenblick ist ein Geschenk. (Ina Deter)

Es gibt immer Menschen, denen es viel schlechter geht als uns selbst. Ein Blick auf die Intensivstation im nächsten Krankenhaus beweist das. Auch wenn wir selbst auf dieser Intensivstation liegen, ist immer noch eine schlechtere Situation denkbar. Dann brauchen wir die Hoffnung, von der ich vorhin schon sprach.

Auch das Einkommen des Rentners, das er sich in seiner Ausbildungszeit erarbeitet hat und von dem er in der Rente lebt, kann durch Beschäftigung mit Aktivitäten aus der Azubi-Zeit vergrößert werden, indem der Rentner seinen Beruf zumindest stunden- oder tagesweise weiter ausübt.

Wahrscheinlich ist es sehr schwierig, plötzlich mit Beginn des Rentnerberufs ein neues Hobby zu beginnen. Viel sinnvoller und realistischer erscheint es mir, während der Ausbildung zum Rentner solche Hobbys zu entwickeln, die wir dann zeitlich verstärkt in der Rentenzeit nützen können, um Kreativität, Lebensfreude und zwischenmenschliche Kontakte zu erweitern oder positiv zu erleben. Erfahrene Lebensberater sagen, ein Hobby müsse mindestens zwei Jahre lang in den Alltag des Azubi-Rentners integriert sein, damit es nachher in der Rentnerzeit auch sinnvoll, effektiv, dauerhaft und mit Freude ausgeübt wird.

Zwischenbemerkung: Bei hat die Liebe zur klassischen Musik schon als junger Schüler begonnen. Mein Lesedrang begann, als ich lesen lernte und wurde richtig angefacht, als ich als Neunjähriger wegen einer Knochenvereiterung neun Monate zu Hause mit Gipsbein verbringen musste und meine Mutter mir alle zwei oder drei Tage zwei neue Bücher aus der Stadtbibliothek brachte. Meinen Hang zur Literatur und meine Liebe zum kreativen Umgang mit der Sprache habe ich meinem Lateinlehrer zu verdanken. Er war einer der wenigen Lehrer, von denen ich wirklich etwas Bleibendes fürs Leben mitbekam. Als Student fing ich an, Gedichte und lange Briefe zu schreiben und Prosatexte für meine Studentenverbindung, in der Geist und Musik wichtiger waren als Saufen. Mein wichtigstes Werkzeug war eine kleine Schreibmaschine, die ich benutzte, bis ich den ersten PC kaufte..

Wenn man früh genug mit einem oder mehreren Hobbys beginnt und diese während der Berufszeit ausübt, wenn auch in vermindertem Maß, gibt es dann gar keine Zeit, in denen der gut ausgebildete Rentner in ein so oft gefürchtetes schwarzes Loch fallen kann. Denn die 24 Stunden des Tages sind mit der Arbeit an dem in der Einleitung definierten Ziel ausgefüllt. Der gut ausgebildete Rentner ist ein bewusst lebender und arbeitender Mensch. Er hat gute Chancen, sein Arbeitsziel – das ist auch sein Lebensziel! – erfolgreich zu erreichen.

Bei Krankheit werden wir möglicherweise durch körperliche Beeinträchtigung an der gewohnten Bewegung gehindert. Wir müssen/können uns bewusst machen, dass (leider?) Wachstum und seelische Entwicklung durch Leiden erheblich befördert werden.

„Krankheiten sind die Reisen der armen Leute“, sagte Jean
Améry. Hier reifen wir beschleunigt – oft auch gegen unseren momentanen Willen, weil es so schwierig, ja manchmal unerträglich ist. Keiner kommt aus einer Krankheit heraus wie er hineinging. Die Sichtweise auf das Leben mit all seinen Facetten verändert sich mehr oder weniger stark.

Auch Prioritäten verändern sich während der Krankheit. Palliativmedizinische Forschungsprojekte zeigen, dass bei Sterbenden die Qualität der Beziehungen zu Familienmitgliedern oder anderen wichtigen Personen in den Vordergrund rücken und vom Sterbenden oft als wichtiger empfunden werden als das eigene Befinden. Eine Begleitung durch geschulte Hospizmitarbeiter und / oder einfühlsame Freunde und Familienmitglieder ist in dieser Phase der Rentnerarbeit sehr hilfreich.

Da ist das Licht am Ende des Tunnels, auf das wir hoffen dürfen – das große ewige Licht, von dem übereinstimmend viele Menschen in allen Kulturen sprechen, die über Nahtodeserlebnisse berichten.

Das Ziel des Lebens kommt immer mehr in den Brennpunkt der Arbeit des Rentners. Wer an eine Reinkarnation oder ein ewiges Leben unserer Seele glaubt, hat es leichter. Bei der Reinkarnation erhalten wir in einem nächsten Leben eine neue Chance, die Ausbildung zum Rentner und seine Rentenzeit effektiver zu gestalten. Beim ewigen Leben brauchen wir das alles nicht, weil wir bereits am letzten großen Ziel angekommen sind. Und Menschen, die sich sehr gequält fühlen mit ihrem Leben, sehen im Tod eine Erlösung, wenn sie davon ausgehen, dass dann alles Leid ein Ende hat und danach nichts mehr kommt.

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Ein weiterer Gesichtspunkt, der das Rad des Lebens erklärt und zeigt, wie wir uns bewusst auf die Inhalte der Rentnerarbeit vorbereiten können, liegt in der Überlegung, dass wir am Ende des Lebens wieder mehr oder weniger schnell in einen kindlichen Zustand wechseln. Diesen Gedanken hat mein Vater, der Kinderarzt war, schon geäußert, als ich noch Schüler war. Er sagte, er fühle sich „ab siebzig aufwärts“ wieder als Arzt zuständig.

Tatsächlich habe auch ich diese Sichtweise in meiner Arbeit als Kinderarzt und Allgemeinarzt und besonders als Palliativarzt bestätigt gefunden. Dann können Arzt und Familienmitglieder oft mit Verhaltensweisen sehr gut kommunizieren, die beim Kind erfolgreich sind. Ein plakativer Vergleich soll das an einigen Beispielen zeigen.

Das Neugeborenen ist nach der Geburt völlig pflegebedürftig und kann außer den vegetativen Funktionen (Essen, Trinken, Stuhlgang, Miktion, Atmung, Schmerzäußerung) noch nichts aktiv tun.

Der alte Mensch ist am Ende auch völlig pflegebedürftig und kann außer den vegetativen Funktionen nichts mehr tun.

Der Säugling lernt zunehmend Kontrolle über seine vegetativen Funktionen wie und freut sich darüber, weil es ihm als Lernleistung positiv von der Umwelt reflektiert wird.

Der alte Mensch verliert langsam die Kontrolle über diese Funktionen, leidet darunter, wenn er das wahrnimmt, und wird leider zu oft dafür verlacht.

Der Säugling hat noch Windeln.

Der alte Mensch braucht sie wieder. – Ein Freund, früherer Direktor der Paul Hartmann AG, die Fixies-Windeln herstellt, erzählte mir, die Zahl der verkauften Windeln für Erwachsene sei viel höher als die Zahl der Kinderwindeln!

Der Säugling schläft beruhigt im Arm der Eltern ein.

Der alte Mensch ist (oft) beruhigt, wenn seine Kinder da sind und ihn umsorgen.

Während der Zeit des Neugeborenen beschäftigen sich die Eltern am intensivsten mit dem Kind.

Während der Zeit des alten Menschen beschäftigen sich viele Kinder am intensivsten mit den Eltern.

Unruhige Säuglinge können mit der Ruhe im Arm der Mutter oder des Vaters beruhigt werden. Medikamente sind dann oft nicht nötig.

Alte unruhige Menschen können sehr gut von ihren Kindern oder Pflegepersonen beruhigt werden. Auch damit kann die Menge der verabreichten Sedativa erheblich reduziert werden. Ein Merkmal für die gute persönliche Fürsorge von alten Menschen in Pflegeheimen kann die geringe Verordnungsmenge von Beruhigungsmitteln sein! Das erfordert aber eine hohe persönliche Zuwendung!

Beim Säugling wachsen und gedeihen die kognitiven Funktionen (Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Konzentrationsfähigkeit, Reaktionsgeschwindigkeit).

Beim alten Menschen lassen sie immer mehr nach.

Der Säugling lernt, sich anfänglich mit Lauten, dann als Kleinkind mit ganzen Wörtern, später mit vollständigen Sätzen zu verständigen.

Beim alten Menschen geht es genau in der umgekehrten Reihenfolge zum Ende. Besonders dramatisch erkennen wir das an dem degenerierenden Verlauf einer Alzheimer-Demenz, bei der die Sprache und Gedankenwelt des Patienten oft strukturell und in Bezug auf den Wortschatz geradezu zerfällt.

Der Säugling lernt den Gebrauch von Gegenständen als Hilfsmittel.

Das verlernt der alte Mensch wieder.

Der Säugling lernt zu gehen mit Hilfe der Eltern und mit Hilfsmitteln.

Der alte Mensch geht zuerst mit Hilfsmitteln, dann an der Hand bzw. mithilfe der Kinder seine letzten Schritte. Schließlich ist er dauerhaft bettlägerig.

Das Neugeborenen braucht langsam ansteigende Flüssigkeitsmengen, weil der Körper sich auf zunehmende Leistung und Wachstum einstellen muss.

Der sterbende Mensch braucht immer weniger Nahrung und Flüssigkeit, weil der Körper sich auf abnehmende Leistung und Stoffwechsel-Stillstand einstellt. Deshalb sind auch eine (gut gemeinte) Überwässerung und Zwangsernährung eines sterbenden Menschen gefährlich und widernatürlich! Mundpflege und Ernährung nach Wunsch sind besser, weil sie der Situation angemessen sind – auch wenn der Patient stirbt.

Der Säugling hat die Eltern als natürliche und gesetzliche Betreuer.

Der alte Mensch hat (oft) die Kinder oder enge Verwandte als gesetzliche Betreuer.

Das Kind freut sich anfänglich über wenige Pfennige Taschengeld, später über steigende Summen und schließlich über das selbst verdiente Geld.

Der alte Mensch freut sich, wenn er mit der erarbeiteten Rente leben kann. Dann braucht er immer weniger Geld, weil er auf Grund der nachlassenden Fähigkeiten weniger verbrauchen kann. Er verursacht eher mehr Kosten durch die aufwändige Pflege und teure Therapie des Kranken, die entweder von seiner Rente oder von den Kindern bezahlt werden müssen, so wie er einst als Elternteil für seine heranwachsenden Kinder bezahlt hat.

In der Rentner-Azubi-Zeit hat der Mensch mehr Geld und weniger Zeit, es auszugeben. In der Rentnerzeit hat er weniger Geld und mehr Zeit, es auszugeben.

Die Kinder kommen in die Kinderkrippe und bekommen dort die Grippe und/oder andere Virusinfekte und werden dadurch immunstark und wieder gesund. Sie werden dort von Erwachsenen betreut.

Die alten Menschen kommen ins Betreute Wohnen oder Pflegeheim und sterben dort an der Grippe oder einer anderen Infektion, weil sie immunschwach sind. Sie werden von jüngeren Menschen betreut.

Das bedeutet, dass wir am Ende unseres Lebens wieder wie Kinder werden.

Gläubigen hilft dieser Satz: „Wer sich das Reich Gottes nicht wie ein Kind schenken lässt, wird nie hineinkommen.“ (Markus 10, 15)

Es ist bitter und verzweifelnd, das Nachlassen der eigenen Kräfte und Fähigkeiten bewusst zu erleben. Da es aber oft den naturgegebenen Tatsachen entspricht und nur vergleichsweise wenige Menschen aus voller Gesundheit heraus zum Beispiel durch einen Unfall plötzlich sterben, ist es wichtig, dass wir uns seelisch auf diesen degenerativen Verlauf des Lebens vorbereiten.

Deshalb sind die Aufgaben des Rentnerberufs auch die schwersten des Lebens. Wir brauchen eine lange Vorbereitungszeit – ein ganzes Leben! –, um all diese Zusammenhänge zu erleben, zu verstehen, daran zu reifen und sie zu akzeptieren. Hier geht es im wörtlichen Sinn um Leben und Tod.

Wenn wir das mit dem Verstand erfasst haben, kommt die schwerste Aufgabe: Wir müssen diesen Weg emotional annehmen und JA zu diesem Leben sagen – in einem Moment, in dem wir es loslassen. Wenn wir das erreichen, haben wir unser Leben und unsere Aufgabe als Rentner erfüllt.

Ich kenne kein schlichteres und gleichzeitig ausdrucksstärkeres Bild, um unsere notwendige (die Not wendende) Einstellung dazu deutlich zu machen, als dieses:

Dieser Essay ist im Almanach deutschsprachiger Schriftstellerärzte 2013 und in meinem Buch Mein Leben ist bunt erschienen.

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