Eine wichtige Reaktionskette

Eine wichtige Reaktionskette

 

Fehlende Information führt zu Angst und Hilflosigkeit. Wer damit nicht konstruktiv umgehen kann, wird aggressiv, depressiv oder regressiv. Diese Menschen können nicht adäquat mit der Situation umgehen, sie sind überfordert.

Patienten und Angehörige sind oft klassische Beispiele: Sie wissen nicht, um welche Krankheit es sich handelt, oder wenn sie es wissen, sorgen sie sich, wie es weitergeht. Aus Angst und Hilflosigkeit werden sie aggressiv (fordernd, unzufrieden, nörgelnd, schlecht gelaunt), depressiv oder regressiv, d. h., sie ziehen sich zurück; entweder sie kommen nicht mehr, oder sie ziehen sich in ein früheres Entwicklungsstadium zurück, von dem aus sie als „Kinder“ Hilfe anfordern. Und das können sie hilflos, ärgerlich, trotzig tun oder als Opferlamm, als Pechvogel oder als der immer Unverstandene.

Es ist wichtig zu wissen, dass Regression / Rückzug auch eine Art der Aggression sein kann. Das wird rasch klar, wenn Sie sich vorstellen, dass Sie mit Ihrem Partner Streit haben und -statt zu streiten- einfach kommentarlos den Raum verlassen. Das vergrößert den Ärger.

Bei einem aggressiven, depressiven oder regressiven Menschen muss man immer klären, ob er eine bestimmte Information braucht, die wir ihm vielleicht sogar geben können.

 

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Wollen Sie Recht behalten oder Frieden gewinnen?

Dies ist eine der wichtigsten Fragen, die wir uns ehrlich und ganz grundsätzlich im Umgang mit schwierigen Menschen oder / und schwierigen Situationen stellen und beantworten müssen. Wenn wir uns auf das zurückziehen oder darauf beharren wollen, was wir für unser Recht halten und verlangen, dass unser Gesprächspartner sich uns unterordnet, wird es meistens sehr problematisch, denn der Andere glaubt im Allgemeinen ja auch, Recht zu haben und wird sein Recht verteidigen. Juristen leben von diesem Kampf. Und wer vor Gericht oder in einer Diskussion Recht bekommt, hat noch lange nicht den Kampf wirklich gewonnen. Menschlich geht viel dabei verloren, meist zerstreiten wir die Chance auf eine gute Beziehung, und oft kostet der Streit viel Geld, unsere Nerven, den Nachtschlaf und schädigt unsere Gesundheit. In den wenigen Fällen, in denen ich den Kampf mithilfe eines Rechtsanwaltes gekämpft und gewonnen habe, verlor ich außerdem den Patienten.

Ich ziehe es vor, mit diplomatischen Mitteln Frieden zu suchen und die Meinung des Gesprächspartners zu verstehen und zumindest ernst zu nehmen und zu überlegen, wie weit ich ihm entgegen gehen kann, ohne meine Position aufzugeben. Und die Möglichkeit, meine Meinung zu ändern, möchte ich mir gern offen halten. Die empathische Distanz ist im Konflikt eine Rettungsmöglichkeit für mich, auf die ich nicht mehr verzichten möchte, seit ich ihren Wert erkannt habe. Ich habe es erlebt, dass Gespräche mich von einer anderen Meinung überzeugt haben, oder dass wir gemeinsam einen neuen Standpunkt fanden. Das sind wichtige und bleibende Begegnungen, die zeigen, wie erstrebenswert ein guter Dialog ist. Und ich bemühe mich, dies im Gespräch auch klar zu machen, besonders wenn ich ganz anderer Meinung bin. Das bedeutet nicht, dass man sich alles gefallen lassen darf. Aber ich bitte zu bedenken, dass der Kampf um das, was wir für unser Recht halten, Grenzen hat, an denen wir uns aufreiben und vielleicht einen scheinbaren Sieg einhandeln, der in Wirklichkeit zu teuer ist oder schwere emotionale Wunden hinterlässt.

 

Im Umgang mit Patienten sollten wir uns immer überlegen, ob wir sie mit unserem Verhalten wirklich verändern können. Selbst wenn wir das könnten, sollten wir überlegen, ob es den Aufwand lohnt, andere zu erziehen. Dafür haben wir keine Ausbildung, keinen Auftrag und erhalten auch kein Honorar. Können wir uns diesen Luxus leisten?

 

Halten Sie bitte einen Moment inne. Wie reagieren Sie, wenn Sie merken, dass jemand versucht, Sie zu erziehen? Wahrscheinlich doch am ehesten mit Skepsis, wenn nicht gleich mit klarer Abwehr. Was fällt diesem Menschen ein? Was erdreistet der sich? Das sind doch Gedanken, die uns unwillkürlich durch den Kopf schießen. Wir wissen, dass die wirklich lebensprägenden Erziehungsmaßnahmen vor der Pubertät ablaufen. Alles, was danach kommt, ändert vielleicht momentane Reaktionen, aber unsere Verhaltensgrundlagen sicher nicht.

 

Wenn wir also in einer schwierigen Situation mit schwierigen Menschen stecken, sollten wir meiner Meinung nach einen Weg suchen, der nicht auf Konfrontation, Beharren oder gar Kampf um Sieg und Niederlage aus ist. Sondern wir sollten eine Basis anstreben, wie alle Beteiligten wechselseitiges Verstehen erreichen, Frieden schaffen oder erhalten können und dabei ihre Würde und Persönlichkeit, ihr Gesicht und ihre Haltung wahren können. Es geht darum, mit den Schwierigen zu leben und nicht gegen sie. Auch wenn wir versuchen, ohne sie zu leben, werden wir bald erkennen, dass dies ein unmögliches Unterfangen ist, weil der Schwierige (auch) durch uns zum Schwierigen wird. Er ist unser Spiegel, vor dem wir nie weglaufen können, weil wir uns selbst immer mitnehmen. Und mit dem, der uns in diesem Spiegel begegnet und ärgert, müssen wir Frieden schließen! Nur so kann Frieden in uns und um uns herum entstehen.

 

 

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Neurophysiologische Forschungsergebnisse

Neurophysiologische Forschungsergebnisse zeigen, dass gute zwischenmenschliche Beziehungen nicht nur im Gehirn abgebildet und gespeichert werden, sondern auch die beste und wirksamste „Droge“ gegen seelischen und körperlichen Stress sind.

Unangenehme Reize und Erfahrungen werden im Nucleus amygdalae (= Mandelkern) verarbeitet und gespeichert. Sie bewirken Abwehr und Angst, sie aktivieren die Ausschüttung von Adrenalin und bewirken Pulsbeschleunigung und vermehrte Muskeldurchblutung, um den Kampf oder die Flucht zu ermöglichen. Dabei werden Denken, Schlagfertigkeit und Intelligenz gebremst, weil der Körper sich auf Flucht und Kampf und nicht auf Diskussion einstellt. Auch wenn wir in den Stress einer verbalen Kampfsituation z.B. mit schwierigen Mitmenschen geraten, wird unser Denk- und Reaktionsvermögen eingeschränkt. Erst viel später in Ruhe fällt uns ein, was wirklich eine gute und schlagfertige Antwort gewesen wäre.

Das Belohnungssystem registriert im Hippocampus (= Ammonshorn) positive Bewertungen, gute Erfahrungen, Begegnungen mit freundlichen Menschen und erfolgreiche Situationen. Der aktivierte Hippocampus schüttet Dopamin aus, entweder ins Frontalhirn, damit wir besser denken können, oder in den Nucleus accumbens, der das Dopamin-Signal in ein Opioid-Signal[1] umwandelt und uns mit dem „Glückshormon“ ein angenehmes Gefühl vermittelt.

Was diese Dopamin-Dusche uns beschert, kennen wir aus den Situationen, wenn wir erfolgreich sind, in und nach einer gut laufenden Prüfung, einem begeisternden Gespräch, einem genussreichen Essen oder anderen Momenten oder Stunden, in denen wir uns richtig wohl, geborgen, mit uns zufrieden, anerkannt und gelobt fühlen. Dopamin vermindert Hunger, Durst und Müdigkeit. „Liebende leben von Luft und Liebe.“ Die Dopamin-Dusche erleben wir auch in glücklichen, verliebten Situationen (die „Schmetterlinge im Bauch“), wenn wir nicht schlafen können vor glücklicher Erregung, angenehmer Wachheit, Ideenreichtum, wenn wir uns glockenhell wach fühlen und mit den beglückenden Erlebnissen beschäftigen, und wenn wir das Gefühl haben, mitten in der Nacht weitermachen zu wollen mit dem, was uns in diese Lage gebracht hat.

Wer von Frust geplagt wird oder sich plagen lässt, greift oft zu Schokolade oder anderen Süßigkeiten. Warum? Weil Schokolade die Dopamin-Ausschüttung fördert und auf diesem Weg ein gutes Gefühl vermittelt. Als Student erlebte ich eine bezeichnende Szene. Ein Freund schenkte seiner Freundin eine Schachtel Pralinen. Sie strahlte ihn an, breitet ihre Arme aus und sagte: „Ich will keine Schokolade, ich will Liebe!“ Sie bevorzugte das Original, nicht den Ersatz. Und Menschen, die Nächstenliebe und Hautkontakt pflegen, sind meist schlank, weil sie keine Essorgien zur Befriedigung brauchen. Der zwischenmenschliche positive Kontakt gehört zu den wichtigsten fördernden Einflüssen unseres täglichen Lebens.

Wer isst, um den Frust zu bannen, erinnert sich im Unterbewussten daran, dass er als Säugling beim Essen [2]sich gleichzeitig geborgen und geliebt fühlte. So entstand das Programm „Essen führt zu Geborenheit und Wohlgefühl“. Essen macht uns zufriedener, friedlicher, geruhsamer. Es gibt so viele Geschäftsessen vor schwierigen Verhandlungen, um die Bissigkeit der Teilnehmer auf einer angenehmen sozialen Ebene abzureagieren und den Beißdrang möglichst zu verstillen. Auch die Raubtiere werden kräftig gefüttert, bevor sie in die Zirkusarena gelassen werden, um dort wohl dressiert ihr Trainingsprogramm vorzuführen. Und mit Belohnungsessen erhöhen die Verhandlungsteilnehmer ihr Wohlgefühl nach der erfolgreichen Verhandlung. Auch die Tiere werden mit Leckereien belohnt, wenn sie machen, was wir wollen.

Und wer viel isst, erhält symbolisch eine ordentliche Schicht isolierendes Fett gegen die Kälte des Lebens und einen gewichtigen Panzer, damit er die Schläge des Schicksals besser abwehren kann. Diese Abwehrmauer trägt er ständig mit sich herum, und sie macht ihn auch geistig träge, ruhiger und weniger gefährlich für Angreifer.

Schwierige Menschen brauchen offensichtlich in ihrem antrainierten Belohnungssystem den Effekt, andere unter Stress zu setzen. Deshalb suchen und fördern sie stressige Situationen.

Unser Belohnungssystem wird immer dann aktiv, wenn wir kooperativ sind. Hierin liegt der große Reiz, sich mit schwierigen Menschen zu beschäftigen und den guten Umgang mit ihnen zu trainieren wie unsere Muskeln zum Gehen. Die Verhaltensforschung zeigt, dass wir bei einem Verzicht auf kurzfristige Vorteile mit einer „Dopamin-Dusche“, also einem wohligen Gefühl belohnt werden.

Der positive Kontakt mit Menschen fördert Kreativität, Witz, Hilfsbereitschaft und Lernfähigkeit. Wir machen es uns also viel leichter, wenn wir Wert legen auf gute zwischenmenschliche Beziehungen. Auch deshalb stellt es eine lohnende Chance dar, den Umgang mit schwierigen und anspruchsvollen Menschen für unsere eigene Persönlichkeitsentwicklung und Lebensfreude zu nützen.

Sehr wichtig ist auch die durch neueste Forschungsergebnisse bestätigte Erkenntnis, dass Erfahrungen und neue Lerninhalte dort gespeichert werden, wo die während des Lernens entstehenden Gefühle im Gehirn verankert sind. Wenn wir unter Stress, Angst, Ärger und mit innerer Abwehr etwas lernen oder erleben, wird das damit verbundene Wissen im Mandelkern gespeichert. Und wenn wir dieselben Sachverhalte mit Freude und entspannt in angenehmer Umgebung lernen, werden Sie im Hippocampus (Ammonshorn) gespeichert.

Das hat wesentliche Konsequenzen für das weitere Leben: Wenn diese Lerninhalte später abgerufen bzw. gebraucht werden, wird auch das damit gespeicherte Gefühl wieder wach. Deshalb sind mit bestimmten Situationen die wir heute erleben, früher programmierte Gefühle verbunden, die jetzt automatisch auftreten. Mathematik, die von vielen Schülern in der Schule widerstrebend gepaukt werden musste und oft mit schlechten Noten verbunden war, wird später keine Freude sondern Ärger machen und wird deshalb oft im weiteren Leben abgelehnt. Von mir selbst weiß ich, dass mir Latein in der Schule wegen des sehr guten Lehrers viel Freude gemacht hat, und ich freue mich heute noch daran, wenn ich etwas Lateinisches herleiten oder übersetzen kann. – Diese neurophysiologischen Zusammenhänge sollten auch den Pädagogen zu denken geben. Das Schulsystem muss so geändert werden, dass Lernen in entspannter Umgebung stattfindet und Freude macht. Es ist mittlerweile erwiesen, dass die Schüler dann viel erfolgreicher und kreativer mit dem Erlernten umgehen können und insgesamt ein positiveres Lebensgefühl haben und erfolgreicher sind. [3]

Die Professionalität eines Menschen in seinem Beruf zeigt sich auch im erfolgreichen Umgang mit schwierigen Menschen. Das gilt besonders, wenn diese schwierigen Menschen in schwierigen Lebenssituationen sind. Der erfolgreiche Umgang mit schwierigen Menschen ist eine lebenslange Aufgabe, bei der wir lernen können, uns selbst durch unsere Mitmenschen kennen zu lernen. Wir sollten ihnen dankbar sein dafür, dass sie sich als unsere Sparringspartner im Kampf des Lebens zur Verfügung stellen.

 


[1]  Opioide sind opiumähnliche Stoffe, die ein Hochgefühl verursachen können wie z.B. bei dem „runner´s high“, dem Hochgefühl des Langstreckenläufers, bei dem auch Schmerzen nicht oder nur stark abgeschwächt wahrgenommen werden.

[2] Gestilltwerden bedeutet still werden durch Sättigung! Und der Schnuller heißt im Englischen pacifier, das ist der „Friedensmacher“.

[3]  http://www.swr.de/swr2/sendungen/wissen-aula/archiv/2005/08/27/index.html (Vortrag von Reinhart Kahl, Treibhäuser des Wissens, Sendung am 27.08.2005) und Manfred Spitzer, Lernen, Akademischer Verlag Heidelberg, 2002…. )

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Kommunikation in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

 

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10 Empfehlungen für den Umgang mit schwierigen Menschen

Als Zusammenfassung für dieses Buch möchte ich Ihnen ein paar Grundgedanken anbieten, die meines Erachtens eine wirksame Hilfe sind für schwierige Situationen im Umgang mit Patienten und Angehörigen.

 

1. Versuchen Sie es zuerst mit Freundlichkeit.

  • Die meisten Situationen eskalieren, weil die Gesprächspartner symmetrisch reagieren und eine symmetrische Reaktion erwarten: Wer ärgerlich ist, erwartet vom Anderen auch Ärger; wer laut ist, erwartet, dass Sie zurück schreien. Wenn Sie aber innerlich einen Schritt zurückgehen und zuerst einmal schauen, was hier geschieht, können Sie mit Freundlichkeit reagieren und höflich bleiben. Das verblüfft oft so sehr, dass der Ärger verfliegt, weil er ins Leere läuft. Eine Psychotherapeutin sagte: „Ich gebe dem Anderen einfach keine Landebahn für sein Ärger-Flugzeug, das er bei mir landen will.“
  • Sie können zum Beispiel eine Frage stellen: „Ich würde Ihren Ärger gern verstehen, warum sind Sie so wütend?“ Damit ändern Sie sofort die Gesprächsebene und sprechen über den Ärger und nicht im Ärger. In der Kommunikationswissenschaft nennt man das die Meta-Ebene: Man spricht über das Gespräch und seine verschiedenen Gesichtspunkte.
  • Bleiben Sie ruhig, und lächeln Sie. Die innere Ruhe ist überlebenswichtig, sonst lassen Sie sich in den Strudel der Gefühle reißen, in dem der Andere kämpft. Dann kommen Sie beide nicht heraus. Und Lächeln ist immer noch die eleganteste Möglichkeit, dem Anderen die Zähne zu zeigen. Lächeln schafft eine vertraute und beruhigende Stimmung. Einem Wütenden fällt es schwer, einem ehrlich freundlichen Menschen gegenüber weiter wütend zu bleiben. Freundlichkeit verstärkt sofort die Ausschüttung von Dopamin, das uns ein Wohlgefühl vermittelt.
  • Freundlichkeit und Höflichkeit wirken entwaffnend. Sie müssen so lange durchhalten, bis der Andere seine Wut losgeworden ist. Dann haben Sie eine gute Basis für das Gespräch.
  • Höflichkeit ist das Mindeste, was sie immer einhalten müssen. Denn wenn der Gesprächspartner höflich ist, haben Sie keinen Grund, unhöflich zu sein. Und wenn der Gesprächspartner unhöflich ist, sollten Sie sich nicht auf dessen Ebene begeben. Das wäre sehr inkonsequent, denn es würde bekannt werden, dass Sie schlecht erzogen sind und genau das tun, was Sie am Anderen ablehnen und verurteilen. Glauben Sie wirklich, dass sie andere Rechte haben oder mit anderen Maßstäben eingeschätzt werden als ihr Gesprächspartner?

 

2. Respektieren Sie die Gefühle des Gesprächspartners.

  • Sie sind aus seiner Sicht genau so berechtigt wie Ihre Gefühle aus Ihrer Sicht. Warten Sie lieber einen Moment ab, und machen Sie sich bewusst, warum der Andere so reagiert. Versuchen Sie ihn zu verstehen, und zeigen Sie ihm, dass Sie ihn ernst nehmen.
  • Deshalb dürfen Sie diese Gefühle nicht bekämpfen oder abwerten.
  • Zeigen Sie Verständnis für seine Situation und Reaktion, auch wenn Sie selbst ganz andere Gefühle haben.
  • Warten Sie lieber einen Moment ab, und machen Sie sich bewusst, warum der Andere so reagiert.
  • Versuchen Sie ihn zu verstehen, und zeigen Sie ihm, dass Sie ihn ernst nehmen.
  • Der häufigste Grund weiterzureden und auf dem eigenen Standpunkt zu beharren, ist die Überzeugung, nicht verstanden zu werden.
    • Wenn Sie also dem Gesprächspartner zeigen, dass Sie ihn und seine Äußerungen wirklich verstanden haben oder sich zumindest ehrlich darum bemühen, kann er mit seinem Verhalten aufhören und sich auf eine Ebene des wechselseitigen Verstehens einlassen.
    • „Ich verstehe, dass Sie so ärgerlich / besorgt / ängstlich / verunsichert sind, weil ….“ – Ist das so richtig?“

 

3. Schüren Sie das Feuer nicht.

  • Jede Provokation verschlechtert die Situation und die Chancen, einigermaßen heil aus der Lage herauszukommen, gleichgültig, ob Sie provozieren oder provoziert werden. Lassen Sie sich nicht provozieren. Das schwächt Ihre Position erheblich!
  • Unterlassen Sie ironische, zynische, abwertende, demütigende, freche oder andere eskalierende Bemerkungen.
  • Lassen Sie den Anderen seinen Ärger abladen und auspusten.
  • Wenn Sie sofort versuchen, den Anderen zu stoppen, wird er wahrscheinlich mehr desselben Mittels einsetzen, das er gewählt hat, um sein Problem zu lösen, d.h. er wird lauter und wütender. Denn bisher hat es meistens funktioniert, sonst hätte sich dieses Verhaltensmuster nicht verfestigt. Wenn Sie nicht aggressiv dagegen halten, muss er nicht lauter werden, und Sie haben eine gemeinsame Chance, auf einem niedrigeren und weniger anstrengenden Lautstärkepegel zu verhandeln.
  • Die elegante Wendung Ihrerseits sollte die Reaktion eines Toreros sein, der dem wütenden Stier ausweicht und seinen Standpunkt nicht wechselt. Es sei denn, Sie erkennen Ihren eigenen falschen Standpunkt.
  • Schützen Sie sich mit der Imprägnierung der Gelassenheit und des sicheren Wissens, dass der Sturm bald aufhört. Dann ist der Ärger besser zu ertragen.
  • Wir kennen den Satz: „Aus dem Wald ruft es zurück, wie wir hineinrufen.“ Ändern Sie das. Schreien Sie nicht zurück.
  • Wenn jemand Sie anschreit, dämpfen Sie das Echo, und geben Sie eine ruhige Antwort. Das ist nicht nur ein verblüffendes Moment für den Schreienden, der natürlich Gegengeschrei erwartet. Es gibt Ihnen auch die Möglichkeit, in Ihrer Antwort eine neue und verständnisvolle und ruhige Tonart anzuschlagen: „Ich sehe, Sie sind sehr ärgerlich. Bitte erklären Sie mir genau, warum.“ Wenn Sie das überzeugend und interessiert „rüberbringen“, kommt der Gesprächspartner von seiner Palme herunter. Sprechen Sie über den Ärger, nicht im Ärger.
  • Es gibt nur sehr wenige Gelegenheiten, bei denen ein gezieltes Lautwerden (aber dann ohne Emotion!) nötig sein kann.

 

4. Nehmen Sie sich eine Denkpause, bevor die Situation eskaliert.

  • Bevor Sie etwas sagen oder tun, was vor Gericht gegen Sie verwendet werden kann oder Ihnen Leid tut, sollten Sie innerlich und äußerlich einen Schritt zurücktreten und einen Vorschlag machen: „Das Gespräch bringt uns so nicht weiter. Lass uns eine Pause von einer halben Stunde machen, dann reden wir weiter.“
  • Wenn Sie mit einem bestimmten Menschen häufiger in solche Situationen kommen, z.B. mit Ihrem Partner, können Sie in ruhigen und verständnisvollen Zeiten vereinbaren, auf ein vereinbartes Signal hin bei einer drohenden Eskalation in getrennte Räume der Wohnung zu gehen. Sie müssen aber eine Zeit ausmachen, nach der sie sich wieder treffen, um einen neue Verhandlungsrunde zu eröffnen. Wenn Sie nach einer halben Stunde wieder kommen, hat bis dahin jeder Zeit, von seiner Palme herunter zu klettern und einen neuen Versuch der Verständigung zu machen. Meist beginnt das Gespräch mit dem Satz: „Du hast ja Recht, ich habe mich nicht richtig verhalten.“ Triumphieren Sie dann nicht, sondern lassen Sie sich auf ein Gespräch unter Gleichen ein.
  • Eine Alternative wäre der Satz: „Ich denke, wir sollten das jetzt in dieser Stimmung nicht entscheiden. Lass mich bis morgen darüber nachdenken.“
  • Oder: „Lass uns jetzt das Thema wechseln, etwas essen, etwas trinken, einen Spaziergang machen …, dann können wir nachher noch einmal darüber reden.“ Nutzen Sie die verbindende Stimmung eines gemeinsamen Essens. Geschäftspartner wissen genau, warum sie besonders schwierige Verhandlungspartner zuerst einmal zu einem vorzüglichen Essen einladen. Das dann erzielte Ergebnis ist die Kosten für das Essen immer wert.

 

5. Geben Sie dem Gesprächspartner einen Vertrauensvorschuss.

  • Der Schwierige ist deshalb schwierig, weil er sehr wahrscheinlich gelernt hat, sich so gegen die widrigen Umstände seiner Kindheit besser durchsetzen zu können. Dort hat er erlebt, dass man ihm kein Vertrauen entgegengebracht hat.
  • Wenn Sie ihm jetzt signalisieren, dass Sie ihn für grundsätzlich anständig und vertrauenswürdig halten, wird er zwar verblüfft sein, weil er diese Haltung ihm gegenüber nicht kennt, aber er wird sich eher darauf einlassen, weil es ihn aus der missgunstbestimmten Situation seiner bisherigen Erfahrungen herausführt.

 

6. Wenn Sie unsicher sind, stellen Sie lieber eine Frage als etwas zu behaupten.

  • Mit einer Behauptung gehen Sie immer das Risiko ein, etwas Falsches zu sagen. Es kann objektiv falsch sein, oder selbst wenn es richtig ist, kann der Gesprächspartner anderer Meinung sein und diese Behauptung wieder als neue Kohlen im Feuer annehmen.
  • Wenn Sie eine Frage stellen, zeigen Sie, dass Sie auch sich und Ihre Meinung in Frage stellen. Das wirkt sympathisch und lässt beiden Gesprächspartnern mehr Raum für eine friedlichere Diskussion.
  • Mit Fragen gewinnen Sie Zeit und Aufmerksamkeit.
  • Eine alte Managerregel heißt: „Wer fragt führt.“
  • Beispiele: „Erklär mir bitte genau, was dich ärgert.“ „Warum regt Sie das so auf?“ „Wann können wir gemeinsam tun, um den Konflikt zu entschärfen?“ (Nehmen Sie den Anderen immer mit ins Boot, wenn es um Lösungsmöglichkeiten geht! Wenn Sie fragen: „Was kann ich tun, um das Problem zu lösen?“, kann es sein, dass Sie sich dazu auch verpflichtet fühlen oder verpflichtet werden.)

 

7. Gehen Sie davon aus, dass der Gesprächspartner in erster Linie von sich redet und sein Problem auf Sie projiziert.

  • Sie brauchen eine gewisse innere Distanz, damit Sie den Pfeil, der auf Sie zufliegt, umlenken oder ins Leere fliegen lassen können. Sie müssen wissen, dass wir immer das am Anderen ablehnen, was wir bei uns selbst nicht annehmen können.
  • Wir sehen den Anderen, wie es unserer eigenen Unsicherheit, unseren Ängsten und bisherigen Einschätzungen entspricht. Wir drehen sozusagen in unserem Kopf einen Film, in dem wir dem Anderen eine Rolle zudiktieren, die er wahrscheinlich gar nicht spielt, und wir behandeln ihn so, als ob er sie genau so spielen würde, wie wir es wünschen oder befürchten. Dieser Gedanke gilt aber auch für den Gesprächspartner: Er sieht mich in einer Rolle oder Denkweise, die er mir zugedacht hat, die aber gar nicht meine ist. Er projiziert seine Gedanken auf mich und wundert sich, wenn ich anders reagiere. Dann behauptet er, ich sei schwierig.
  • Damit kommen wir zu dem Grundsatz, auf dem alle Missverständnisse beruhen:
    Ich denke, Du denkst wie ich denke.
    Wir gehen üblicherweise davon aus, dass der Gesprächspartner so denkt wie wir und deshalb auch so reagiert, wie wir es erwarten. Das ist sicherlich nur in sehr glücklichen Einzelfällen so. Obwohl wir das bei genauer
    Überlegung genau wissen, stolpern wir regelmäßig in diese Alltagsfalle.
  • Wenn Sie sich das bewusst machen, entlasten Sie den Druck, den Ihr Gesprächspartner Ihnen durch seinen Angriff entgegen bringt.

 

8. Werden Sie nicht laut. Wahren Sie die Form und den guten Ton.

  • Argumente werden nicht besser, wenn sie lauter werden.
  • Wenn Sie laut werden, zeigen Sie, dass Sie keine andere Möglichkeit mehr haben, die Situation zu Ihren Gunsten zu beeinflussen. Das ist ein sehr offensichtlicher Beweis Ihrer Hilflosigkeit und fehlenden Selbstbeherrschung.
  • Wenn der Gesprächspartner souverän ist, wird er die Situation nicht ausnützen. Wenn er Ihnen böse will, kann er den Druck, den Sie ausüben, gegen Sie verwenden.
  • Souveräne Menschen haben es nicht nötig, laut zu werden.
  • Große Lautstärke ist im Gespräch eine Form von (Schall-) Druck, also eine Form von Gewalt und eine Form von akustischer Umweltverschmutzung.
  • Wenn Sie laut werden, unterdrücken / vergewaltigen Sie den Gesprächspartner. Sie machen sich selbst zum Unterdrücker / Vergewaltiger. Wollen Sie, dass das bekannt wird?
  • Wollen Sie Ihren Gesprächspartner mit Angst durch Lautstärke oder mit Verständnis durch ein gutes Gespräch beeinflussen?
  • Jemand, den Sie durch Angst steuern, kann nie Vertrauen zu Ihnen haben. Er wird vielleicht tun, was Sie wollen, aber keine menschliche Achtung vor Ihnen haben.
  • Unbeherrschtes Schreien beweist ihre Unbeherrschtheit und ihre schlechte Erziehung.
  • Wenn Sie ruhig und sachlich klar bleiben, haben Sie gute Chancen, den Ärger Ihres Gesprächspartners in Achtung vor Ihnen umzuwandeln.
  • Wer schreit, verliert Achtung. Ich kenne niemand, der durch Geschrei Respekt und Ansehen gewonnen hat.
  • Wer schreit, erzeugt vielleicht Angst und steuert damit Menschen und wird vielleicht auch mächtig, aber das ist sicherlich einer der schlechtesten Führungsstile, die man sich denken kann. Ein Vorgesetzter, der diese Methode wählt, disqualifiziert sich selbst. Er bekommt langfristig die Untergebenen, die er verdient hat.
  • Und nicht zu vergessen: Gewalt erzeugt Gegengewalt. Das ist der Anfang einer Spirale, die nur in der Zerstörung enden kann, wenn nicht einer der Partner nachgibt.
  • Benützen Sie überwiegend Ich-Botschaften („Ich bin wütend! Ich habe das Gefühl, dass Sie …!“), um Ihren Ärger oder andere Gefühle auszudrücken. Damit übernehmen Sie Verantwortung für sich.
  • Wenn Sie Du-Botschaften verwenden („Du ärgerst mich!“ oder „Sie sind schuld daran, dass ich immer wieder …!“, machen Sie den Anderen verantwortlich für Ihre Gefühle. Das ist objektiv falsch. Denn jeder ist der Produzent seiner Empfindungen und könnte auch anders reagieren. Meist wird es so dargestellt, dass man den Anderen für die eigenen Gefühle verantwortlich macht. Das ist einfacher, weil man sich selbst dann nicht hinterfragen und nicht verändern muss.

 

9. Sorgen Sie dafür, dass beide Gesprächspartner das Gesicht wahren können.

  • Wenn Sie jemanden beleidigen, herabsetzen, demütigen oder in anderer Weise bloßstellen  -erst recht vor anderen Mitmenschen!-, ist das eine schwere Verletzung. Ihr Gesprächspartner wird es nicht vergessen. Sie haben nie einen Vorteil von solch einer Erniedrigung, und eine kurze Rache ist nur ein scheinbarer Triumph. Er zeigt, auf welch niedrigem Niveau Ihre Gesinnung liegt, und Sie wollen doch nicht, dass das bekannt wird, oder?
  • Achten Sie besonders genau darauf, was Sie sagen, wenn ein Patient sich in einer hilflosen und / oder intimen Situation befindet, z.B. nackt im Krankenbett beim Waschen, oder auf der Toilette oder bei einer medizinischen Prozedur. Auch wenn Sie denken, dass der Patient eine Aphasie hat, versteht er doch manches und hat sicher in seiner Lage ein feines Gespür dafür, ob Sie abwertend über ihn oder distanzlos über andere sprechen. Lautes und ausgelassenes Verhalten sind ein Zeichen von mangelndem Einfühlungsvermögen für die schwierige Lage des Patienten.
  • Wenn Sie eine Auseinandersetzung gewonnen haben durch die Niederlage des Anderen oder durch ein Eingeständnis von seiner Seite, sollten Sie Ihren Triumph nicht zeigen. Bedanken Sie sich, und lassen Sie ihm das Gefühl, dass er etwas Gutes zum Gelingen der Situation beigetragen hat.
  • Man sieht sich im Leben immer zweimal. Selbst wenn Sie im Moment die Szene vielleicht scheinbar(!) gewonnen haben, kommt sehr wahrscheinlich irgendwann die Gelegenheit, wo Sie mit dem selben Gesprächspartner zusammentreffen und Sie seine Unterstützung brauchen. Wollen Sie, dass er sich gut oder schlecht an Sie erinnert? Dafür sollten Sie beide mit einem guten Gesicht gewappnet sein.

 

10. Geben Sie Fehler sofort zu.

  • Wenn Sie lange darum herumdiskutieren, dass Sie einen bestimmten Fehler nicht gemacht haben, der tatsächlich auf Ihr Konto geht, verschlechtern Sie die Lage, denn am Ende werden Sie doch verlieren. Dann ist der Sturz auch im Ansehen Ihrer Umgebung noch tiefer.
  • Menschen, die Angst vor Fehlern haben, können ihre Fehler nicht zugeben und neigen dazu, ihre Fehler mit zusätzlichen Unwahrheiten, Lügen, Schwindeleien oder anderen kleinen oder größeren Tricks zu vertuschen. Das ist sehr häufig und deshalb nicht besser.
  • Wenn Sie Fehler gleich zugeben und dafür um Entschuldigung bitten, verschaffen Sie sich eine Erleichterung(!), und die Situation wird nicht so schlimm eskalieren, als wenn Sie versuchen, den Fehler zu verbergen.
  • Jemand, der einsichtig ist, steht besser da als ein Unbelehrbarer.
  • In der täglichen Politik erleben wir, dass meist nur das zugegeben wird, was ohnehin schon bekannt ist. Nachträgliche und erzwungene Eingeständnisse bringen den Geständigen in einer viel schlechtere Lage, als wenn er sich gleich zu seinem Fehler bekannt hätte.

 

Schlussfolgerung

 

Der erfolgreiche Umgang mit schwierigen Menschen ist eine lebenslange Herausforderung an

  • unsere Intelligenz,
  • unser Einfühlungsvermögen,
  • unsere Toleranz und Großzügigkeit,
  • unsere Kooperationsbereitschaft
  • und unseren Willen zum Frieden.

 

Er schenkt uns

  • Selbsterkenntnis,
  • Lebensfreude („Dopamin-Duschen“, Motivation),
  • Selbstwertgefühl,
  • menschliche Reife,
  • Wertschätzung durch unsere Mitmenschen
  • und die Erkenntnis, dass in jedem Menschen ein Diamant verborgen ist.

 

Es lohnt sich also, wenn wir uns aktiv und bewusst mit Menschen beschäftigen, die uns schwierig erscheinen.

Ich wünsche Ihnen viel Freude und Erfolg mit Ihren Mitmenschen und besonders mit

dem, der Ihnen aus dem Spiegel der Schwierigen entgegenblickt.

 

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

 

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Schwierige Situationen bei der ambulanten Pflege

 

„Für mich gibt es keine schwierigen Patienten und keine schwierigen Angehörigen, es ist die Situation, die  schwierig ist und gemeistert werden muss.“

Monika Scheyhing, Krankenschwester im ambulanten Pflegedienst

 

Stellen wir uns einmal vor, ein alter Mensch lebt in seinem Haus, wird von Angehörigen mitbetreut, und er braucht immer mehr Pflege, die auch von den Angehörigen nicht mehr oder nicht mehr vollständig geleistet werden kann.

Bereits bei dem ersten Besuch der Krankenschwester kann sich entscheiden, wie die Pflege vorläufig ablaufen wird: Vertrauensvoll, misstrauisch, distanziert, ablehnend. Ist der Patient auf den Besuch vorbereitet? Ist er der Pflege gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt? Will der Patient überhaupt die Leistung, die seine Angehörigen für ihn angefordert haben?

Deshalb ist es sinnvoll, wenn die zuständige Pflegedienstleiterin zuerst einen Besuch zum Kennenlernen und Besprechen der wichtigsten medizinischen und menschlichen Einzelheiten macht. Auch hier muss wie beim Arzt eine Vorgeschichte erhoben werden, damit die weitere Versorgung möglichst reibungslos und medizinisch korrekt ablaufen kann. Und die Vertrauensbrücke muss aufgebaut werden zwischen dem Patienten, den Angehörigen und dem Pflegepersonal. Denn die Angehörigen, die bis jetzt die Pflegenden waren, müssen den Patienten zumindest teilweise in fremde Hände geben. Das kostet Überwindung, und dazu ist sehr viel Vertrauen nötig, das im Laufe der Wochen heranwachsen muss.

Und der Patient, der in seiner gewohnten Umgebung lebt, muss sich unbekannten Personen gegenüber öffnen, und das meine ich im wahrsten Sinne des Wortes: Er muss sich nackt ausziehen, am ganzen Körper berühren, waschen, baden, auf die Toilette begleiten lassen. Er gibt seine Intimität preis. Auch um diese oft sehr peinlichen Situationen gut zu meistern, muss unbedingt von Anfang der ambulanten Pflege ein möglichst vertrauensvolles Verhältnis geschaffen werden. Manche Patienten haben Angst, wenn sie von Fremden gebadet werden. Hier ist es wichtig, dass sich die Pflegekraft möglichst an das Tempo des Patienten anpasst und nicht umgekehrt. Das ist meist für beide Teile schwierig.

Es muss in den ersten Tagen und Wochen abgeklärt werden, ob der Patient das Angebot in dem Umfang annehmen will, wie es ihm angeboten wurde oder wie es die Angehörigen vereinbart haben. Manchmal wollen die Patienten gar keine Hilfe haben, und der Hilfeschrei kommt von den Angehörigen, die sich überfordert fühlen mit der Betreuung oder erkennen, dass der Patient seine Lage gar nicht richtig einschätzen kann, z.B. bei einer zunehmenden Demenz. Die Überzeugungskraft der Schwester und ihre fachliche und menschliche Kompetenz sind hier sehr wichtig, um dem Patienten die Notwendigkeit der Pflege verstehbar zu machen. Sinnvoll ist es, bei anfänglichen Unstimmigkeiten einen Pflegeversuch über mehrere Tage anzubieten und dem Patient und der Schwester eine Chance zu geben, sich auf die neue Situation einzustellen. In jedem Fall ist es wichtig, den Patienten anzunehmen und mit ihm verständnisvoll umzugehen. Das gilt besonders für alle Situationen, in denen die Schwester und der Patient nicht miteinander zurechtkommen.

Eine Hilfe zum Verständnis und zur Bewältigung der problematische Lage ist folgende Überlegung: Alte Menschen und manchmal auch jüngere Kranke (zum Beispiel beim Schlaganfall) verlieren meist ihre Eigenschaften in umgekehrter Reihenfolge wie sie diese in der Kindheit erworben haben. Zuerst lernt das Kind hören (bereits ab der 10. Schwangerschaftswoche!), dann saugen [1] und sich zu bewegen (bereits früh im Mutterleib), nach der Geburt braucht es eine Windel und kann sich außer durch Schreien nicht bemerkbar machen. Es ist zuerst einmal voll auf annehmende und vollständige Pflege angewiesen. Dann lernt es zu krabbeln und zu gehen, den Stuhlgang und den Urinabgang zu kontrollieren und zunehmend Laute zu produzieren und bildet daraus die Sprache seiner Umwelt. Im Alter lassen meist zuerst Stuhl- und Urinkontrolle nach, die Patienten brauchen wieder Windeln. Dann werden die geistigen Vorgänge schwächer, weniger konzentriert, und die körperlichen Fähigkeiten mit Gehen, Greifen, Feinmotorik lassen nach. Der Patient braucht zuerst einen Rollator (also ein Gerät, das ihn beim Gehen unterstützt wie die Mutter den Säugling), dann einen Rollstuhl (wie der Säugling den Kinderwagen), und schließlich ist er wieder ganz bettlägerig und voll auf Pflege und verständnisvolle Fürsorge angewiesen wie der Säugling. Parallel zu dem Verlust der Mobilität nimmt krankheitsbedingt meist auch die Fähigkeit wieder ab, sich selbst zu ernähren.

Die Angehörigen brauchen die Gewissheit, dass ihr Patient weiterhin gut oder sogar besser versorgt wird. Der Patient kann sich nur wirklich pflegen lassen, wenn er sich dabei als Mensch angenommen fühlt. Und die Krankenschwester kann nur entspannt und gern ihre Aufgabe erfüllen, wenn sie dieses Vertrauen der Angehörigen und des Patienten spürt. Dabei gibt es verschiedene Menschen: Die einen wollen eher Distanz, die anderen eher Nähe. Die einen können Nähe nicht oder nur zu sehr wenigen Mitmenschen zulassen, die anderen haben Schwierigkeiten, auf Distanz zu bleiben. Hier ist es wichtig für das Pflegepersonal, ein Mittelmaß zu finden, das den Patienten und den Schwestern eine vertrauensvolle und professionelle Arbeit ermöglicht. Zu viel Nähe und zu viel Distanz sind hemmend für eine gute Pflege. Natürlich könnte die Schwester ihre Aufgabe als rein technische Handreichung absolvieren, aber das würde eher dem oft karikierten Zustand der Still-Satt-Sauber-Pflege entsprechen, der davon ausgeht, dass es sich nicht um Menschen mit Bedürfnissen, Sorgen, Freude und Mitteilungsbedürfnis und Streben nach Geborgenheit handelt, sondern um Menschen, die Essen brauchen und dies auch wieder ausscheiden und die möglichst still sein sollen, damit sie niemanden stören. Gerade aber die Bedürfnisse der Menschen muss eine gute Krankenschwester oder ein guter Krankenpfleger spüren und so weit wie möglich darauf eingehen. Dabei auch noch objektiv die richtige Pflege zu leisten, ist manchmal schwierig, weil die Patienten subjektiv zuweilen etwas anderes wollen oder die Pflege ganz ablehnen.

Es wird auch immer wieder Schwierigkeiten geben oder Anlaufprobleme, wenn neue Pflegekräfte ins Haus kommen, die der Patient noch nicht kennt. Diese Momente der Spannung können gemildert werden, wenn die Vertrauensperson des Patienten aus der Familie bei diesen Begegnungen einfach dabei bleibt und damit eine Vertrauensbrücke bildet.

In jedem Fall ist es wichtig und hilfreich, wenn die Angehörigen um den Patienten herum ein Team bilden, in dem jeder seinen Platz, seine Aufgaben und seine Verantwortung hat. Wie dies geschehen kann, habe ich ausführlich in meinem Buch „Wenn das Licht naht – Der würdevolle Umgang mit schwer kranken, genesenden und sterbenden Menschen“ beschrieben.

Für die Pflegenden ist es wichtig, sich auch in der Umgebung, in der sie arbeiten, wohl und anerkannt zu fühlen. Deshalb sollten die Angehörigen und wenn möglich der Patient ihren Teil dazu beitragen, dass die Pflegekräfte gern kommen. Ein gutes Wort, eine ehrliches Danke, ein freundliches Lächeln sind eine wertvolle (und kostenlose!) Anerkennung an die Pflegepersonen. Sie können sich als Angehörige natürlich auf den Standpunkt stellen, dass Sie nicht danke sagen müssen für einen Dienst, der bezahlt wird. Aber wie würde es Ihnen gehen an Stelle der Schwester? Ich habe jedenfalls gelernt, dass der Beruf der pflegenden Schwester einer der schwierigsten und sozial am geringsten geschätzten ist.

Konflikte in der ambulanten Pflege können mannigfaltig auftreten. Schauen wir einige davon an.

Finanzielle Probleme

Da die Krankenkassen immer weniger Geld haben und die stationäre Pflege in Krankenhaus und Pflegeheim immer teurer wird, nimmt die Zahl der zuhause gepflegten Menschen stetig zu. Und es ist gesetzlich geregelt, dass die Angehörigen und Pflegeheime, die diese Pflege übernehmen, dafür Pflegegeld erhalten. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) legt die Pflegestufe fest, nach der diese Beträge bemessen werden.

Der Patient oder seine Angehörigen können bei dem örtlichen Pflegedienst entsprechende Besuche für die Pflege anfordern, und die zuständige Pflegedienstleitung bespricht den Leistungsumfang, der nötig ist. Dabei kann der Hausarzt die so genannte Behandlungspflege, z. B. Spritzen, Medikamente und Verbandswechsel, Kompressionsstrümpfe anziehen auf Rezept verordnen, das von der Krankenkasse genehmigt werden muss, und dann erst wird diese Leistung des Pflegedienstes von der Kasse bezahlt. Schon hier tauchen die Schwierigkeiten auf, weil die Formulare manchmal nicht richtig ausgefüllt sind und der Pflegedienst den Papieren hinterher laufen muss.

Von der Pflegedienstleitung wird mit den Angehörigen des Patienten oder mit dem Patienten selbst vereinbart, welche Leistungen die Pflege erbringen soll. Und dieser Pflegeumfang sollte möglichst durch den Pflegebetrag gedeckt sein, der von der Pflegeversicherung bezahlt wird.

Nehmen wir ein paar typische Leistungen: In der Pflegesprache bedeutet eine „große Toilette“ ausziehen, Ganzkörperwäsche, rasieren, kämmen, Mund- und Zahnpflege, Atemübungen, Mobilisation der Gelenke, bei Bedarf Windelwechsel, eincremen am ganzen Köper, Transfer aus dem Bett und ins Bett zurück, Bett machen. Das darf etwa zusammen 30 Minuten in Anspruch nehmen. Wenn man überlegt, dass es schon sehr zeitaufwändig ist, einen pflegebedürftigen Menschen auszuziehen, besonders wenn er einseitig gelähmt ist (Schlaganfallpatienten zum Beispiel) und noch dazu übergewichtig und nicht oder nur sehr eingeschränkt mithelfen kann, dann ist leicht verstehbar, dass die Schwester schnell sein muss, um ihre Zeitvorgabe bei dem großen Pensum einzuhalten.

Die „kleine Toilette“ umfasst das übliche Abendprogramm: Gesicht und Hände waschen, Mund- und Intimpflege. Dafür sind 15 – 20 Minuten veranschlagt. Dann kommen noch die Mobilisation (10 Minuten) und die Lagerung (10 Minuten) bei bewegungsunfähigen und hautempfindlichen Patienten zum Schutz vor Aufliegen dazu, außerdem Transfer aus dem Bett und ins Bett zurück, Bett machen.

Nehmen wir ein Beispiel: Wenn eine Frau oder ein Mann von dem MDK Pflegestufe 2[2] erhalten hat, reicht das Pflegegeld schon nicht mehr aus, wenn sie täglich einmal eine „große Toilette“ und einmal täglich eine „kleine Toilette“ erhält. Sie muss also zuzahlen. Wenn die Patientin das kann, ist es ja noch akzeptabel. Andernfalls müssen Angehörige einspringen. Oder der Leistungsumfang muss so reduziert werden, wie es eben noch verantwortbar ist. Manche Leistungen können vielleicht teilweise von Angehörigen übernommen werden wie zum Beispiel das Richten der Medikamente, oder die Leistungen werden eben nicht täglich, sondern nur zwei- oder dreimal wöchentlich ausgeführt.

Häufig taucht die Frage auf: Will der Patient die Leistung noch, wenn er weiß, was sie kostet? Früher war die Pflege kostenlos, oder die Patienten waren in einem Pflegeverein, über den die Pflege gesichert war. So kommt es, dass manche Patienten bestimmte Leistungen gar nicht haben wollen, die von den Angehörigen mit der Pflegedienstleitung vereinbart wurden. Hier muss Überzeugungsarbeit geleistet werden, und die Verhandlungen der Angehörigen und des Patienten mit der Pflegedienstleitung sind manchmal schwierig. Hier kann die betreuende Schwester eine überzeugende Vermittlerfunktion übernehmen. Letzten Endes entscheidet aber der Patient, wenn er noch voll geschäftsfähig ist, was er an Leistungen erhält. Man kann ja einen Patienten nicht gegen seinen erklärten Willen pflegen.

Durch die meist engen finanziellen Grenzen folgt das nächste Problem.

Es gibt (zu) wenig Zeit für Zuwendung und Gespräche.

Natürlich sollte die Schwester die Zeit der Pflege nützen, um nebenher mit dem Patienten zu sprechen. Aber ein ruhiges Gespräch ohne gleichzeitige pflegerische Handlungen ist praktisch nicht möglich, weil dies im Leistungskatalog der Pflege nicht vorgesehen ist. Wenn man bedenkt, dass es viele allein lebende Menschen gibt, die kaum Zuwendung erhalten und für die der Besuch der Schwester der einzige menschliche Kontakt am Tag ist, hat die so programmierte Pflege nicht mehr sehr viel mit der Form von Zuwendung zu tun, die wir uns alle wünschen, wenn wir alt und hilfsbedürftig sind.

Abgesehen von den Erwartungen und dem Anspruchsdenken, die der Patient an die Schwester hat, stellen die Angehörigen oft zeitliche und pflegerische Forderungen, die bei dem vorgegebenen Finanz-Zeit-Korsett einfach nicht erfüllbar sind.

Die Pflegenden müssen sorgfältig darauf achten, dass ihre Gutmütigkeit, kleine Handreichungen zu erledigen, die nicht zu ihrem Aufgabenbereich gehören („Könnten Sie kurz in den Briefkasten schauen? Und würden sie meine Blumen gießen?“), nicht ausgenützt wird. Auch hier können ältere Menschen wie Kinder reagieren: Sie probieren aus, wo die Grenzen sind. Aufklärende Gespräche und klare Vereinbarungen über die finanziellen und zeitlichen Vorgaben sind unerlässlich. Die meisten Menschen reagieren darauf mit Verständnis. Wichtig ist dann, dass der Pflegedienst diese Abmachungen konsequent einhält, auch wenn beim nächsten Besuch eine andere Schwester kommt, bei der die Patienten versuchen, die Vereinbarung zu unterwandern. Sorgfältige Informationsübergaben im Pflegeteam sind nötig und Voraussetzung für einen reibungslosen Ablauf.

Erschwert wird die Situation, wenn z. B. die Patientin von mehreren Diensten betreut wird: Zivildienstleistende fahren sie zum Arzt, eine Hilfe sorgt für den Haushalt, eine privat bezahlte Nachtwache und die Krankenschwestern, die mehrfach täglich kommen, bilden zusammen ein Netz. Darin kann sich die Patientin geborgen fühlen oder -um im Bild zu bleiben- alle zappeln lassen wie die Spinne, die mit ihren feinen Fühlern kleinste Unsicherheiten und Bewegungen rundherum spürt und sofort nützt.

Die zur Verfügung stehende Zeit muss gut und sinnvoll genützt werden. Umso wichtiger ist es, dass die Schwester ihr wichtigstes Kapital, nämlich ihre Hände, einsetzt, um dem Patienten das Gefühl zu geben, dass er im ursprünglichen Sinne be-hand-elt wird. Der Patient soll spüren, dass er in guten Händen ist. Hautkontakt ist ein wichtiges seelisches Heilmittel.

Dabei sind die inzwischen festgeschriebenen Standards der Hygiene in der Pflege manchmal hinderlich: Es ist für viele Schwestern inzwischen Routine, sofort bei ihrem Eintritt in die Wohnung Handschuhe und Schürze anzuziehen. Wer will schon mit Handschuhen angefasst werden, wenn es um eine zwischenmenschliche Begegnung geht? Im häuslichen Bereich ist die Ansteckungsgefahr wesentlich geringer als im stationären.

Und die Schwester sollte immer mit dem Patienten sprechen, auch wenn sie nicht alles versteht, was der Patient sagt, z. B. bei Aphasikern, Parkinson- oder Multiple-Sklerose-Patienten. Das ist besonders wichtig, wenn der Patient selbst nicht mehr antworten kann. Die Berührungen beim Waschen und Eincremen, beim Umsetzen in den Rollstuhl, bei der Lagerungsbehandlung und Mobilisation müssen angekündigt werden. Ich erlebe regelmäßig auf der Frührehabilitationsstation, dass die Pfleger und die Schwestern gerade bei den bewusstseinsgestörten Patienten immer alles ankündigen, was sie jetzt gleich machen werden. Auch bei einem Wachkoma sagen sie: „Jetzt nehme ich ihren linken Arm und wasche ihn.“ – „Jetzt werde ich die Decke hochziehen.“ Und ich habe mir schon lange angewöhnt, auch bei diesen Patienten „Guten Morgen“ zu sagen und „Ich möchte Ihnen Blut abnehmen.“ Wir gehen davon aus, dass auch Wachkoma-Patienten ihre Umwelt wahrnehmen, zumindest die Stimmung. Eine stumme Pflege ist neutral und entspricht nicht einer wünschenswerten Zuwendung.

Sexualität in der Pflege

Es sollte berücksichtigt werden, ob sich ein Mann lieber von einem Mann oder einer Frau pflegen lässt, und ob eine Frau sich lieber einem männlichen Pfleger oder einer Krankenschwester anvertraut. Immer wieder ist es so, dass sich ältere Frauen schwer tun, sich von männlichen Pflegekräften betreuen zu lassen, besonders wenn es sich um die Intimpflege handelt. Dass das Berufsbild der Krankenschwester auch von einem Mann kompetent ausgeübt werden kann, ist in der älteren Generation noch nicht verwurzelt. Älteren Männern fällt es oft leichter, sich von Frauen betreuen zu lassen, weil es als normal empfunden wird, dass dies die Aufgabe einer Krankenschwester ist.

Die Ablehnung der Patienten, sich im Intimbereich waschen zu lassen, kann manchmal dadurch umgangen werden, dass die Schwester die Patienten dazu anhält, ihren Intimbereich selbst zu waschen, solange die Patienten dazu noch in der Lage sind.

Es gibt immer wieder Berichte über sexuelle Belästigung der Krankenschwestern durch männliche Patienten. Nach Angaben von erfahrenen Krankenschwestern sind die Annäherungsversuche direkt abhängig von der Unerfahrenheit und Unsicherheit der Schwestern im Auftreten dem Patienten gegenüber. Dafür haben Patienten ein feines Gespür. Deshalb ist das sichere und klar distanzierte Auftreten der Schwester unbedingt nötig, um Versuche einer Annäherung von vornherein zu unterbinden. Auch Männer, die z. B. bei einem Frontalhirnsyndrom sexuell enthemmt sind, können im Allgemeinen durch klare Abmachungen und strikte Verhaltensregeln freundlich und wirksam in ihre Schranken gewiesen werden. Auch hier macht der Ton die Musik.

 

Die Angehörigen oder der Patient sind mit der Pflege nicht zufrieden.

Wenn sie dies in angemessenem Ton äußern, kann die Schwester sachlich darauf eingehen, und der Konflikt kann meist im gegenseitigen Einvernehmen gelöst werden. Ich verweise auf das Kapitel über den richtigen Umgang mit Kritik.

Wenn sich ein dauerndes Misstrauen einschleicht, wird die Situation für alle Beteiligten schwierig. Als Angehörige und Patient sollten Sie sich fragen, ob Sie wirklich fachlich so gut sind wie die Schwester, die ihren Beruf professionell ausübt, dafür eine Ausbildung und genügend Erfahrung hat, um selbständig arbeiten zu können. Sie sollten sich auch fragen, wie es Ihnen gehen würde, wenn Ihnen ständig jemand in Ihre Berufsausübung hineinredet. Können Sie Ihren Angehörigen wenigstens für die Zeit der Pflege loslassen, oder müssen Sie ihn festhalten? Bitte machen Sie sich auch bewusst, dass eine professionell arbeitende Schwester empathische Distanz wahrt, d.h. sie fühlt sich in den Patienten hinein und macht sich gleichzeitig klar, dass sie selbst das Problem des Patienten nicht hat und deshalb nicht lösen muss. Sie als Angehöriger oder Patient sind wahrscheinlich sind viel zu sehr emotional beteiligt, um objektiv richtig handeln zu können. Bitte lesen Sie noch einmal das Kapitel über Empathie.

Grundsätzlich muss man sich bei einer Therapie immer fragen: Soll der Patient bekommen, was er braucht oder was er will? Erst bei genauerem Hinsehen wird der wichtige Unterschied klar. Ein Suchtkranker braucht den Entzug, will aber, wenn er uneinsichtig ist, seinen Suchtstoff, zum Beispiel Bier und Zigaretten weiter haben. Ein Diabeteskranker braucht vernünftige Kost und seine Medikamente in einer angemessenen Dosis, er will vielleicht aber das Stück Torte essen, weil es ihm schmeckt, und er will seinen Blutzucker nicht kontrollieren, weil er sonst deutlich gezeigt bekommen würde, dass er falsch gegessen hat. Ein Patient mit dem so genannten metabolischen Syndrom (Bluthochdruck + Übergewicht + hohe Cholesterinwerte + Zuckerkrankheit) braucht Gewichtsabnahme, Bewegung, Medikamente und vernünftige Ernährung, um seine Gefäße zu schonen und dem enorm hohen Schlaganfallrisiko vorzubeugen, aber er will „ein richtiges Essen und wenigstens ein Bier dazu“, weil er das so gewohnt ist.

Solange ein Patient klare Entscheidungen fällen kann und ausführlich aufgeklärt wurde über die Risiken seines Handelns, müssen wir seinen Willen respektieren, weil es seine von ihm gewählte Lebensqualität darstellt, auch wenn diese möglicherweise für den Patienten schlechte Konsequenzen erbringt. Dies gilt auch für wirklich lebensgefährliche Entscheidungen, z.B. nötige Medikamente nicht zu nehmen, nicht Gewicht abzunehmen, weiter zu rauchen. Wichtig ist, inwieweit wir ihn bei seinem unvernünftigen Verhalten unterstützen. Kaufen wir ihm das Bier, das er unbedingt trinken will? Kaufen wir seine Zigaretten und bringen sie ihm nach Hause?

Und so ist es gut verstehbar, wenn eine Krankenschwester wirklich nur das tut, was sie mit ihrem Gewissen und medizinischen Wissen verantworten kann. Wenn sie sich wehrt, sich von dem Patienten oder den Angehörigen als Instrument auf dem unvernünftigen Weg einsetzen zu lassen, sollten Sie als Angehörige sich darüber bewusst werden und Respekt vor der Haltung der Schwester haben.

Gleichzeitig ist es für die Schwester oder den Pfleger wichtig, ihre Arbeit sachlich richtig und konsequent fortzuführen und dies mit dem betreuenden Hausarzt abzustimmen. Bei Unstimmigkeiten, die eine Schwester nicht allein mit den Angehörigen oder dem Patienten befriedigend klären kann, schlage ich vor, den Hausarzt als Mittelsperson und fachkompetenten Vertrauten der Familie zuzuziehen.

Auch im Umgang mit schwierigen Patienten, insbesondere alten Menschen empfinde ich eine Parallele zu dem richtigen Umgang mit Kindern: Liebevoll und konsequent sollte die Betreuung sein, und das schließt auch manchmal unbequeme oder ungewohnte Handlungen für den Patienten ein. Der Patient muss spüren, dass die pflegenden Menschen ihn ernst nehmen, in seinem Interesse fürsorglich sind und Grundlagen der guten Pflege nicht verhandelt werden, wenn es um das Wohl des Patienten geht.

Es sollte auch klar werden, dass dem Patienten durchaus einiges an Eigenaktivität und Mitarbeit beispielsweise bei der Körperpflege und beim Essen abgefordert werden kann, soweit es körperlich und geistig zumutbar ist. Der Grundsatz Hilfe zur Selbsthilfe gilt auch hier. Insofern halte ich es für unabdingbar, dass eine verantwortungsvolle Schwester dem Patienten und den Angehörigen gegenüber ihre Meinung freundlich und klar vertritt. Ihre Professionalität zeichnet sich wie bei einem guten Arzt gerade in schwierigen Situationen durch Eindeutigkeit, Verständnis und soziale und fachliche Kompetenz aus. Was ich darunter verstehe, habe ich in den vorangegangenen Kapiteln des Buches in vielen Beispielen deutlich zu machen versucht.

 

Abschied von einem Patienten

Dies ist eines der wichtigsten Kapitel im häuslichen Pflegebereich, da überwiegend alte und schwer kranke Menschen bis zum Tode gepflegt werden. Die wesentlichen Grundgedanken zum Umgang mit diesen Patienten habe ich ausführlich in meinem Buch „Wenn das Licht naht“ dargelegt. Dort stehen auch die Prinzipien der Hospizarbeit.

Im ambulanten Pflegebereich bildet sich im Laufe der Pflege ein Vertrauensverhältnis zwischen Patient, seiner Familie und den Pflegekräften aus. Und so gehört es zu den natürlichen Aufgaben der Pflegekräfte, auch den letzten Weg der Patienten zu begleiten. Einfühlungskraft, menschliche Nähe und emotionale therapeutische Distanz sind in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Je nach dem Verhältnis der Pflegekraft zu dem Sterbenden wird die Trauer intensiver oder weniger stark sein. Klar ist, dass die Krankenschwester oder der Pfleger sich bei allem Verständnis für die Trauer empathisch distanziert verhalten müssen, um ihre Arbeit unbehindert fortführen zu können. Andererseits ist es für die Familie des Sterbenden enorm wichtig, in der Zeit des Abschieds von dem Team begleitet und gestützt zu werden, das sich zu Beginn der Pflege um den Patienten herum gebildet hat. Die Pflegekräfte sind eine wichtige Stütze des Teams.

Wenn Angehörige sich von dem unabwendbaren Sterben eines Patienten überfordert fühlen, weil sie diese Entwicklung nicht annehmen können, neigen sie möglicherweise zu Vorwürfen und anderen aggressiven Mechanismen denjenigen gegenüber, von denen sie eine Verbesserung der Situation erwarten, und das sind die Krankenschwester, der Hausarzt und vielleicht der eine oder andere Klinikarzt, von dem behauptet wird, er habe etwas falsch gemacht oder versäumt.

Hier ist es wichtig, dass die Krankenschwester erkennt, dass die aggressive Haltung einen Ausdruck der Hilflosigkeit und Angst der Angehörigen darstellt und mit großer Wahrscheinlichkeit nichts mit der angeblichen fehlerhaften Pflege zu tun hat. Dann kann sie ruhiger auf die Anklagen reagieren, weil sie erkannt hat, dass die Angehörigen im Grunde im wörtlichen Sinne des Wortes Patienten -also Leidende- sind, die mit einem seelischen Problem zu kämpfen haben. Mit dem Schutz der empathischen Distanz lernt die Krankenschwester sicher und menschlich korrekt zu handeln und -so weit das in der emotional belasteten Situation überhaupt möglich ist- zu argumentieren.

Wenn die Vertrauensgrundlage zwischen Pflegepersonal und den Angehörigen nicht reparabel ist, muss über eine Ablösung durch ein anderes Pflegeteam nachgedacht werden.

Aber im Allgemeinen leben die Angehörigen langsam auf den Tod des Patienten zu, sehen und empfinden die Unabwendbarkeit und können den Tod als natürlichen Teil des Lebens und oft auch dankbar als Erlösung für den Sterbenden annehmen. Die erfahrene Schwester und der Hausarzt können durch einfühlsames Verhalten ein Übriges dazu beitragen, dass sich die Familie in dieser schwierigen Zeit betreut und gestützt fühlt. Dann ist es nur folgerichtig, dass die Schwester den Verstorbenen eventuell sogar mit den Angehörigen zusammen ein letztes Mal wäscht, ankleidet und zur letzten Ruhe bettet.

Wichtig ist es meines Erachtens, die Angehörigen darauf hinzuweisen, dass der Verstorbene grundsätzlich bis zur Beerdigung in seiner Wohnung bleiben darf. Ob dies tatsächlich so umzusetzen ist, hängt auch vom Klima ab. Aber für viele Familien ist es hilfreich, über einen

oder zwei Tage zuhause ein Sterbezimmer einzurichten und sich, anderen Familienmitgliedern, Nachbarn und Freunden die Möglichkeit eines Abschiedes in gewohnter Umgebung zu schaffen. Dabei ist es hilfreich, möglichst mit dem Sterbenden noch rechtzeitig zu besprechen, wie er es gern haben möchte: Wer soll sich von ihm nach dem Tod noch zuhause verabschieden dürfen? Möchte er nach dem Eintritt des Todes noch länger zuhause bleiben?

Auch der Abschied von sterbenden Kindern und jungen Erwachsenen ist für die Pflegenden und natürlich für die Angehörigen ein großes emotionales Problem, weil das Unverständnis für den Zeitpunkt des Todes hier viel mehr als bei alten Menschen der Annahme des Schicksals entgegensteht. Wir können es eher akzeptieren, dass ein alter Mensch stirbt, weil uns das natürlicher erscheint, als wenn ein Mensch bereits am Anfang seines Lebens mit dem Ende zu kämpfen hat.

 

Supervision für die Pflegenden

In allen Konfliktfällen wäre es sehr hilfreich, für das Pflegepersonal eine psychische Hilfe zum Beispiel eine Supervisionsgruppe oder stützende Gespräche anzubieten, wie es für Ärzte zum Beispiel Balint-Gruppen gibt. Auch Feuerwehrleute, Polizisten, Pfarrer, Sozialdienstmitarbeiter, Angehörige der Telefonseelsorge, Rettungssanitäter würden Supervision oft dringend benötigen. Dabei können Unsicherheiten, Schwierigkeiten und Reaktionen von Betroffenen in einem ruhigen und geschützten Rahmen mit professioneller Hilfe bearbeitet werden, um eigene Fehler von fremden Reaktionsweisen zu trennen und neue, bessere Handlungsformen zu diskutieren. Aber ich weiß, dass Supervision für alle Sozialberufe eine Rarität darstellt. Einige Angehörige dieser Gruppen erhalten gar keine Supervision, andere nur bei spezieller Anfrage. Die knappen Finanzmittel werden oft als Grund angeführt.

Ein wesentliches Problem für die Teilnehmer an den Gruppen besteht oft darin, dass sie sich fürchten, in einem Kreis von Kollegen eigene Unsicherheiten oder Schwächen zu besprechen, weil sie sich dabei ihren Kollegen unterlegen fühlen und Angst haben, dass dies bei nächster Gelegenheit ausgenützt wird.

 

[1] Ein Frühzeichen für eine Speiseröhrenmissbildung des Kindes ist die unverhältnismäßige Zunahme des Fruchtwassers, weil das Kind dies nicht schlucken kann!

[2] Pflegestufe 2 erhalten Menschen, die schwer pflegebedürftig sind. Hier sind mindestens drei Verrichtungen pro Tag zu verschiedenen Tageszeiten und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung nötig. Der Zeitaufwand für diese Hilfe muss dabei mindestens drei Stunden täglich betragen.

 

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

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Konflikte bei der Sozialberatung

Sie erinnern sich: Bei den sekundären Krankheitsgewinnen sprachen wir von Geld und geldwerten Vorteilen, die den Kranken zustehen. Sie sind eine Errungenschaft unseres Sozialstaates und werden aus wirtschaftlichen Gründen immer mehr eingeschränkt. Die Politiker formulieren das so: „Der Bürger wird gebeten, mehr Verantwortung zu übernehmen.“ Das klingt so, als hätten wir die große Wahl, die Bitte anzunehmen oder abzuschlagen. Tatsache ist, dass jeder von uns in zunehmendem Maß mehr Geld einsetzen muss, um für die Aufrechterhaltung seiner sozialen Situation bei Krankheit und Rente vorzusorgen. Um den Patienten und Angehörigen Hilfe anzubieten in dem undurchdringlichen Paragrafendschungel und dem alltäglichen Leben mit der Behinderung, gibt es Sozialberater, Sozialfachangestellte, Diplomsozialpädagogen und Angehörige anderer Berufe in den Ämtern und Kliniken. Sie sind nicht nur geschult, das richtige Formular zu finden und richtig auszufüllen, sondern, was ich mindestens ebenso wichtig finde, sie haben auch die Aufgabe, mit den Menschen einfühlsam und den jeweiligen Situationen angemessen umzugehen.

Für viele Menschen ist der Kontakt mit Behörden mit Angst und Schwierigkeiten verbunden, weil sie sich mit den geltenden Gesetzen nicht auskennen oder die Texte beim Lesen nicht verstehen. Die Sprache der Juristen und Gesetzgeber befindet sich ja auch objektiv weit weg von der Umgangssprache und ist selbst für Akademiker anderer Fachgebiete häufig nicht zugänglich, ganz abgesehen davon, dass das Beamtendeutsch sehr viele Musterbeispiele liefert für eine behördlich genehmigte Vergewaltigung der deutschen Sprache. Die manchmal geradezu menschenfeindlichen Fragebögen deutscher Behörden tragen ein Übriges dazu bei, dass sich die Menschen überfordert fühlen. Wenn also derartig verunsicherte Menschen den Weg zu einer Beratung gehen müssen, muss es uns nicht wundern, wenn aus der mangelnden Information das Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins und daraus Angst und Aggression entstehen.

Eine gute Beratung setzt aber voraus, dass die betroffenen Patienten und Angehörigen sich angemessen verhalten. Weil das nicht immer so ist, schreibe ich dieses Kapitel. Es gibt leider auch schwierige Antragsteller.

 

Der Fordernde.

Wir haben in einem der vorangegangen Kapitel darüber schon einiges besprochen. Hier noch einige zusätzliche Gedanken. Wenn es ums Geld geht, hört nicht nur die Freundschaft auf, sondern bei vielen Menschen leider auch das gute Benehmen. Das Argument „Ich habe jetzt so viele Jahre in die Versicherung eingezahlt, jetzt will ich was davon haben!“ ist alltäglich und wird mit mehr oder weniger zornigem Ton vorgetragen. Diese Begründung erscheint vielen Menschen der Freibrief für alle Leistungen zu sein, die sie sich wünschen, unabhängig davon, ob diese Leistung in der Versicherung enthalten ist oder nicht und unabhängig davon, ob ein medizinischer Grund dafür besteht.

In der Praxis habe ich regelmäßig den Satz gehört: „Mein Nachbar ist jetzt schon dreimal in der Kur gewesen, jetzt will ich auch mal!“ Nicht ohne Grund gibt es das Sprichwort „Morgens Fango, abends Tango!“. Und der Begriff „Kurschatten“ zeigt genau, was manche Menschen in der Kur suchen, nämlich den Schatten ihres Charakters, den sie zuhause verdrängt haben, weil er entweder nicht erlaubt ist oder nicht offiziell gelebt werden kann.

Typisch für die fordernden Patienten und Angehörigen ist die Einstellung, sie seien allein auf dieser Welt und hätte logischerweise deshalb Vorrecht auf alles, was sie sich wünschen. Sie treten meist sehr dominierend auf, halten selten Termine ein, sondern erwarten, dass die Menschen, von denen sie etwas wollen, natürlich immer und reichlich Zeit haben. Die Tatsache, dass die Sozialberater auch noch mit Belangen anderer Menschen beschäftigt sind, veranlasst die Fordernden zu noch größerem Druck, um ihren Wünschen nach Zeit und Zuwendung Nachdruck zu verleihen.

Dadurch kommt der Sozialberater in den Zugzwang, die Fordernden zumindest bei der ersten Begegnung schon zurückzuweisen und einen Termin zu vereinbaren, was schon schwierig ist und hier schon manchmal die Frustrationstoleranz der Fordernden übersteigt. So erzeugt Druck Gegendruck, und die Stimmung ist von vornherein angespannt. Jetzt lassen die Fordernden ihre Muskeln spielen: Sie drohen mit dem Anwalt, mit einem Beschwerdebrief, und meist kennen sie noch einen Herrn Wichtig oder einen Herrn Vorsitzenden, der „dann Dampf machen wird!“ Die Beschäftigung mit Fordernden ist sehr anstrengend, weil sie Kräfte zehrend und zeitaufwändig ist. Und die Menschen, die ich gefragt habe, und meine eigene Erfahrung zeigen, dass der Druck in diesem Sozialberatungsbereich mit sinkenden Finanzmitteln immer größer wird.

Der Sozialberater sollte hier konsequent und ruhig auf die Rechtslage hinweisen, sich auf medizinisch akzeptable Begründungen beziehen und ansonsten sachlich und distanziert seine Arbeit machen. Es wird nicht immer gelingen, den Fordernden davon zu überzeigen, dass seine Forderung unangemessen ist. Aber der Versuch ist nötig und Erfolg versprechend, wenn der Sozialberater seine Meinung kompetent vorträgt.

Wenn der Sozialberater sich provozieren lässt, fühlt der Fordernde sich möglicherweise dazu angeregt, seinen Forderungen noch mehr Nachdruck zu verleihen nach dem Motto „Man muss mehr vom selben Mittel einsetzen, um zum Ziel zu kommen“. Klare Terminabsprachen und der Hinweis, dass auch die anderen Mitmenschen ein Recht auf Bearbeitung ihrer Angelegenheit haben, sind dringend nötig. Sonst werden die Sozialberater an die Wand gedrückt und von den Forderungen der Unmäßigen und Ungeduldigen rasch an die Wand gedrückt und erschöpft.

Deshalb ist es unbedingt wichtig, dass der Sozialberater die Angriffe nicht persönlich nimmt, sondern professionell und sachlich mit den Klienten oder Patienten umgeht, wohl wissend, dass sie unter Druck stehen, mehr oder weniger hilflos sind, Hilfe suchen und vielleicht mit der Art und Weise, wie sie Hilfe angeboten bekommen, nicht oder nicht ganz einverstanden sind. Es ist wirklich so: Manche unangenehmen Menschen sind nur zu ertragen, wenn man sie als Patienten sieht, dann hat man genügend Distanz und kann sie trotzdem richtig beraten und dabei innerlich unverletzt bleiben.

Dabei spielt auch das Verhalten der Kollegen und des Amts- oder Klinikleiters eine entscheidende Rolle: Alle beteiligten Berater und deren Vorgesetzte sollten mit einer Stimme sprechen. Es ist nichts schlimmer für einen Berater, als wenn ihm ein Kollege oder gar der Chef vor dem Klienten oder Patienten in den Rücken fällt. Das entwertet die ganze Behörde oder Klinik, und das Vertrauen in die Berater ist zumindest in Frage gestellt wenn nicht sogar völlig zerstört. Wenn klare Meinungen einstimmig vertreten werden, haben Streitende oder Querulanten keine Chance, ihre ungerechtfertigten Wünsche durchzusetzen. Das setzt voraus, dass sich die Berater bei sich ankündigenden Konflikten absprechen. Der Vorteil bei diesen prophylaktischen Gesprächen im Kollegenkreis bringt auch die Möglichkeit, sich zu vergewissern, dass die beabsichtigte Beratung und Entscheidung sachlich und menschlich richtig ist. Kollegial geführte Gespräche sind auch eine wichtige Form der Fortbildung.

Eine Sonderform der Fordernden sind die Gewaltbereiten. Leider gibt es Menschen, die glauben, ihre Interessen mit Gewalt oder mit Androhung von Gewalt durchsetzen zu können. Sie drohen eben nicht nur mit dem Vorgesetzten, sondern mit Feuer, Messer, Angriff auf die Angehörigen und die Privatwohnung. Man trifft sie besonders dort, wo Geld zu holen ist, das möglicherweise auch bar ausgezahlt wird, nicht nur auf Banken, sondern auch bei Sozialdienststellen. Bei allem Verständnis für die wirtschaftliche Not der Menschen kann Gewalt oder Gewaltbereitschaft nicht toleriert werden. Rasches und entschlossenes Verhalten auch mit Einschalten der Polizei ist nötig. Leider sind unsere Gesetze so geschaffen, dass Drohungen meist nicht ausreichen, um einen Gewaltbereiten in die Schranken zu weisen. Es muss etwas Konkretes passiert sein, damit die Polizei wirksam einschreiten kann. Trotzdem rate ich dringend, Drohungen sofort zu melden. Manchmal hilft auch die Drohgebärde der Polizei. Sicherheitsmaßnahmen könnten bis zu einem gewissen Grad abgesicherte Räume mit Warnanlagen sein.

Der Suchtkranke

ist eine besondere Herausforderung für Therapeuten und Berater. Als Patient kommt er in allen Abteilungen häufig vor und ist manchmal einsichtig und selten konsequent. Die Rückfallrate bei Alkohol, Nikotin und Rauschgiften ist hoch und wird häufig getarnt hinter der Behauptung: „Ich könnte ja aufhören, wenn ich wollte.“ Und nach dem Rückfall gibt es garantiert irgendeinen fadenscheinigen Grund dafür.

Wenn der Patient der Suchtkranke ist, hat er mit sehr großer Wahrscheinlichkeit einen Co-Abhängigen in seiner nächsten sozialen Umgebung, meist den Lebenspartner. Dieser ist entweder von der gleichen Droge abhängig oder von der sozialen Droge Hilfsbereitschaft: Er will unbedingt (das bedeutet ohne Bedingung!) den Abhängigen aus der Sucht herausführen, und merkt nicht, dass er sein eigenes Leben an das des Süchtigen kettet und durch Nachgiebigkeit, Vertuschen und Ausreden den Süchtigen zwar vordergründig vor den sozialen Folgen des Abstiegs oder der Strafen schützt und deckt, in Wirklichkeit (das heißt wirksam) aber in der Sucht bestätigt. Ein Süchtiger kann nur mit seiner Sucht (das bedeutet Suche!) aufhören, wenn sein Leidendruck größer ist als die Angst vor der Veränderung, das heißt in diesem Fall vor dem Entzug der Droge. Wenn der Co-Abhängige auch von derselben Sucht abhängig ist, z. B. von Alkohol und Nikotin, ist das Aufhören noch schwieriger, es sei denn beide stützen sich wechselseitig in diesem Bestreben.

Das Charakteristische an einem Suchtkranken ist, dass er im Allgemeinen die Abhängigkeit verleugnet oder tatsächlich überzeugt ist, nicht abhängig zu sein. Er verhält sich in nüchternem Zustand meist besonders angepasst und versucht, durch freundliches und unverbindliches Verhalten einen guten Eindruck zu erwecken. Für die Beratung bedeutet das, den Suchtkranken nur so weit zu begleiten, wie er kooperativ sein kann. Darüber hinaus kann man ihn nicht zwingen. Wenn aber der Kranke z. B. nach einer Rehabilitation durch den ebenfalls suchtkranken Angehörigen versorgt oder betreut werden soll, ist die Katastrophe vorgezeichnet. Ich will das an einem realen Beispiel erklären.

Frau Fröhlich lebt seit vielen Jahren mit Herrn Schneider zusammen. Jetzt liegt sie mit einem schweren Schlaganfall in der Klinik, kann sich nicht mehr bewegen, kaum sprechen, ist voll von Pflege anhängig und muss demnächst entlassen werden. Wohin? Das ist die Frage, die unsere Sozialarbeiterin klären muss. Wir schlagen eine Heimunterbringung vor, weil wir wissen, dass der Lebenspartner ebenfalls alkoholkrank ist. Er reagiert lange nicht auf die Briefe und die Telefonate, mit denen wir ihn zum Gespräch bitten wollen, da er auch der notariell bestellte Betreuer der Patientin, also verpflichtet ist, das Interesse der Patientin zu vertreten. Als er dann erscheint und mit den konkreten Fragen konfrontiert wird, zeigt sich das typische Profil des Alkoholkranken: Er ist überangepasst freundlich, will alles natürlich nur zum Besten erledigen und redet und redet … um den Brei herum. Und als es um klare Abmachungen bezüglich Entlassung und Heimunterbringung geht, kann er sich nicht entscheiden, windet sich mit viel Gestik und leeren Floskeln, um klare Aussagen zu vermeiden. Er ist nicht zu greifen, wie Gummi im Gespräch.

Hier ist es angebracht, mit freundlicher Bestimmtheit Tatsachen zu schaffen, Entscheidungen vorzubereiten, ihn auf dem Laufenden zu halten. Und wenn er sich nicht klar entscheidet, was er will, müssen wir ihn zu Entscheidungen hinführen, bis hin zu einer Unterschrift unter einen Pflegevertrag. Und er muss klar darauf aufmerksam gemacht werden, dass wir seine Partnerin am geplanten Entlassungstag bei ihm zuhause abliefern werden, wenn er die Kooperation und zum Beispiel die Heimunterbringung verweigert. Schließlich ist er als Betreuer verpflichtet, bei der guten und patientengerechten Versorgung mitzuhelfen. Diese Pflicht muss ihm deutlich vor Augen geführt werden.

Dies gilt auch für alle anderen Unentschlossenen und Wachsweichen, die sich selbst und dem Sozialberater das Leben schwer machen, weil sie diffus sind mit ihren Angaben, man bei ihnen alle Auskünfte einzeln abfragen muss und dabei immer noch eine Tatsache hervor geholt wird, die einen neuen Blickwinkel auf die Angelegenheit wirft. Soziale Konflikte tauchen auf wie persönliche Krisen, Finanzschwierigkeiten, Wohnungsprobleme, Berufskonflikte, Arbeitsplatzverlust. Die Vielfalt der Probleme macht die Menschen vielleicht nicht schwieriger, aber ihre Beratung viel zeitintensiver. Sie fragen immer wieder nach, sind unsicher, brauchen erneute Beratung und Absicherung. Und die fällige Entscheidung wird möglicherweise weiter verzögert, obwohl immer klarer wird, dass die Entscheidung jetzt gefällt und umgesetzt werden muss.

Wir können uns bei dieser Gelegenheit eine andere wichtige Gesetzmäßigkeit bewusst machen: Wenn wir eine Entscheidung hinausschieben, weil wir uns vor etwas drücken wollen, haben wir genau in diesem Moment die Entscheidung getroffen, dass es bleibt wie es ist. Wir haben also entschieden!

Und der Unentschlossene hat uns einen Spiegel vorgehalten, in dem wir unsere eigene Neigung sehen, Unbequemes aufzuschieben. Das trifft für Sie nicht zu? Nein, wirklich nicht? Wann haben Sie das letzte Mal eine Entscheidung aufgeschoben? Wollten Sie nicht mit dem Rauchen aufhören? Oder abnehmen? Oder die Wohnung aufräumen? Oder sich von Ihrem Partner trennen? Oder sich für eine wichtige Prüfung anmelden? –

Hier ist der Grundsatz, mit dem sie begründen können, warum sie die Entscheidung aufgeschoben haben: Wir setzen eine Entscheidung erst um, wenn unser Leidensdruck größer ist als die Angst vor der Veränderung. Der Alkoholiker hat beispielsweise Angst vor der Realität, die er ertragen und meistern muss, wenn er mit seiner Sucht aufhört.

Wenn wir das verstanden haben, können wir mit Alkoholikern und anderen Suchtkranken verständnisvoller und konsequenter umgehen. Wir sind meist nicht ihre Therapeuten, aber vielleicht wenigstens empathische Mitmenschen, die aus dem Kontakt mit anderen etwas für unser eigenes Leben lernen. Es kostet uns manche Überwindung, konsequent und klar zu reagieren. Deshalb sind die Suchtkranke, die Unentschlossenen und die Fordernden genau die richtigen Trainingspartner, bei denen wir das lernen können.

Herr Schneider aus unserem obigen Beispiel ist ein Mensch, der große Angst vor Fehlern hat und sich deshalb nicht entscheiden will. Er hat bei der konsequenten und verständnisvollen Führung durch die Sozialberaterin nach Absprache mit dem zuständigen Arzt Vertrauen gefasst in die behutsame und sachkundige Beratung und lässt sich jetzt leiten. Das heißt aber auch: Er gibt zu einem gewissen Teil die Verantwortung für die Entscheidung ab.

Ein grundsätzlicher Konflikt in der Sozialberatung

Man geht davon aus, dass man jemand am besten und dauerhaftesten hilft, indem man Hilfe zur Selbsthilfe vermittelt.

Kennen Sie dieses Sprichwort? Wenn du einen Hungernden für einen Tag satt machen willst, gib ihm einen Fisch. Wenn du ihn lebenslang satt machen willst, lehre ihn angeln.

Die Sozialberatung in der Klinik, Praxis und Pflege kann die Forderung nach Hilfe zur Selbsthilfe nur begrenzt erbringen, weil die Zeit der Betreuung oft zu kurz ist. Deshalb müssen oft rasch Fakten geschaffen, Hilfsmittel besorgt, Entscheidungen getroffen werden, ohne dass der Hilfsbedürftige oder seine Angehörigen wirklich lernen, das Problem aus eigenen Kraft zu meistern. Trotzdem lohnt es sich, die Patienten und Angehörigen wenigstens ein Stück weit auf diesem Weg zu begleiten.

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

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Die Aphasiker – Menschen mit Störungen des Sprachverständnisses und der Sprechfähigkeit

 

Aphasie ist ein griechisches Wort und bedeutet Sprachlosigkeit. Der medizinisch gebrauchte Begriff Aphasie ist nicht eindeutig definiert. Deshalb will ich hier ein paar Definitionen aufzählen, um das Krankheitsbild zu umschreiben.

Aphasie ist eine Störung aller sprachlichen Modalitäten und Ebenen. Das Sprachverständnis ermöglicht, gesprochene und gelesene Sprache zu verstehen. Die Sprachproduktion gibt uns die Möglichkeit, Sprache zu sprechen und ist Voraussetzung, sie zu schreiben. Außerdem gehören noch dazu das Wortgedächtnis, die Fähigkeit, mit Zeichensystemen umzugehen und z. B. Bilder mit Wörtern zu verbinden und die Bilder im Gedächtnis wieder zu finden, wenn man das Wort hört, und das grammatische Verständnis. Dabei ist wichtig zu beachten, dass es außer den Symbolen der Sprache noch viele andere Zeichensysteme in unserem Alltag gibt, die bei einer Aphasie beeinträchtigt sein können: Die Zahlensysteme, die Zeichensprache, Gebärdensprache, alle Bilder, die eine bestimmte Bedeutung haben wie z. B. Verkehrszeichen, Formeln, Flaggensysteme, technische Symbole oder Zeichen, die unser Zusammenleben regeln wie z. B. Höflichkeitsgesten.

Aphasie tritt erst nach vollzogenem Spracherwerb auf, d.h. jemand kann erst dann aphasisch werden, wenn er gelernt hat zu sprechen.

Aphasie entsteht durch eine Schädigung des Gehirns. Damit ein Mensch sprechen lernt, müssen viele verschiedene Zentren im Gehirn programmiert und miteinander vernetzt werden. Deshalb gibt es je nach Art und Ausmaß der Schädigung verschiedene Formen der

Aphasie, die gekennzeichnet sind durch ein bestimmtes Muster der Schädigung einzelner Modalitäten, die ich oben aufgezählt habe. Da bei Rechtshändern die Sprachzentren in der linken Hemisphäre des Gehirns liegen, sehen wir Aphasien fast ausschließlich bei Patienten mit Schädigungen der linken Hirnseite. Aber nicht alle Patienten mit einer Schädigung der linken Hirnhälfte haben eine Aphasie. Die Aphasie ist eine häufige Komplikation eines Schlaganfalls [1] oder einer Verletzung der linken Hirnhälfte. Die linke Hirnhälfte ist verantwortlich für Lesen, Schreiben, Verstehen und logische, analytische Denkvorgänge. Die rechte Hirnhälfte ist zuständig für emotionales, ganzheitliches, synthetisches Denken.

Wenn der Patient nur eine Aphasie hat, sind vorwiegend sprachliche Fähigkeiten betroffen, und die Intelligenz und das Gedächtnis sind ungestört. Deshalb können Patienten, die nur eine Aphasie haben, hoch motiviert und intelligent an ihrer Therapie teilnehmen. Bei einem Schlaganfall sind aber meist auch andere Symptome vorhanden, z.B. ein organisches Psychosyndrom, das die Therapiemöglichkeiten erheblich einschränken kann. Aphasien sind meist stabil und chronisch. Deshalb ist es schwierig, sie positiv zu beeinflussen.

Es gibt je nach Definition vier Grundformen der Aphasie. Meist begegnen wir nicht einer reinen Form, sondern einer Mischform.

a. Die globale Aphasie. Hier ist die Sprachproduktion spärlich bis fehlend. Der Satzbau begrenz sich auf Einzelwörter, Floskeln (z. B. „oje, oje“ oder „alles gut, alles gut“) und Automatismen: Das sind immer wiederkehrende Äußerungen ohne Zusammenhang mit der akuten Situation, z. B.: dodo didi oder tütütüt. Es wird bei jeder Gelegenheit immer das gleiche gesagt, und es hat meist keinen oder keinen passenden Sinn. Eine Patientin sagte ständig, wenn sie irgendetwas gefragt wurde: „Die Bedeutung ist grenzenlos.“

Der Wortschatz ist sehr begrenzt und besteht meist nur aus drei oder vier Wörtern, die ohne Sinnzusammenhang eingesetzt werden.

Manchmal treten auch semantische Paraphasien [2] auf: Dabei gibt der Patient einem Begriff eine ähnliche Bedeutung. Er sagt zum Beispiel zum Kühlschrank „Flaschengarage“ oder „Kaltregal“ oder zur Uhr „Stundenteiler“ oder „Rundzeiger“ oder zu kochen „abwaschen“ oder zu Erdbeere „Zitrone“ oder zu Bus „Durchgehauto“.

In der Lautbildung kommen viele phonematische Paraphasien [3] vor: Der Patient verwechselt Laute und Buchstabenreihenfolgen und sagt beispielsweise Pulme statt Pflaume, Tock statt Stock, Planze statt Pflanze, polip statt Pilot, spülschamine statt Spülmaschine.

Außerdem gibt es viele Neologismen, das sind neue Wortschöpfungen, z. B. bunzino statt Tasse oder lisson statt Kaffee. Sie klingen natürlich für uns wie eine Fremdsprache und deshalb verstehen wir sie nicht oder nur in Verbindung mit Zeichensprache.

Das Verstehen des Aphasikers ist schwer gestört. So lässt sich leicht erklären, warum es außerordentlich schwierig und oft unmöglich ist, mit dem Patienten über Wörter eine Kommunikation aufzubauen: Entweder er spricht gar nicht oder für uns Unverständliches, und er versteht auch nicht, was wir ihm sagen wollen.

b. Die Broca-Aphasie wird auch motorische oder unflüssige Aphasie genannt. Sie ist benannt nach dem Sprachzentrum in der linken unteren Stirnhirnwindung, das von einem Arzt namens Broca (1824-1880) beschrieben wurde.

Die Sprachproduktion ist stark gehemmt und verlangsamt („unflüssig“), es besteht eine schwere Störung beim Nachsprechen oder Benennen von Gegenständen, obwohl der Patient sich offensichtlich sehr um jedes Wort bemüht. Der Satzbau enthält viele grammatische Fehler, meist werden nur Grundformen von Verben benutzt, und persönliche Fürwörter wie ich, du, er, sie, es fehlen. Ein Satz besteht meist nur aus Bruchstücken, die aber wenigstens in die richtige Richtung der Bedeutung weisen können und sich anhören, als ob wir in einer fremden Sprache erste Versuche machen: „Gestern Kino“, und dabei deutet der Patient auf sich, weil die Wörter „ich“ und „bin gewesen“ nicht mehr zur Verfügung stehen. Semantische Paraphasien kommen selten vor und phonematische Paraphasien häufig.

Das Sprachverständnis ist meist nur gering beeinträchtigt. Das bringt immerhin den Vorteil, dass der Patient meist versteht, was wir ihm sagen wollen, und wir können mit einiger Fantasie und geduldigem Nachfragen herausfinden, was der Patient meint.

c. Die Wernicke-Aphasie wird auch akute flüssige oder sensorische Aphasie genannt und wurde erstmals beschrieben von dem Neurologen Karl Wernicke. Sie ist charakterisiert durch Paraphasien, Grammatik- und Satzbaufehler und eine meist schwere Verständnisstörung. Die Patienten reden viel (deshalb „flüssige“ Aphasie) und sind doch meist nicht zu verstehen. Das gilt besonders für die problematischste Störung, den Jargon. Das ist eine völlig unverständliche und meist sehr lebhaft vorgetragene Aneinanderreihung von Buchstaben und Klängen, die keinen Sinn erkennen lassen oder nur einzelne verstehbare Wörter enthalten, die aber meist nicht in den Zusammenhang der Situation passen, z.B. „und drun moldes dina furingel heute abend pokast defu …“ Es entstehen außerdem neue Wörter (Neologismen) und viel Un-Sinn, und das führt bei größtem Spracheinsatz des Patienten zu kompletter Verwirrung, Wut und Verzweiflung des Patienten, die Zuhörer sind meist verblüfft, ratlos und wenden sich in ihrer Hilflosigkeit ab, was den Patienten wiederum in seiner verzweifelten Lage bestärkt.

d. Die amnestische [4] Aphasie ist eine „flüssige“ Aphasie. Der Patient spricht flüssig, und der Satzbau ist kaum gestört, aber es tauchen viele Wortfindungsstörungen und einige semantische und phonematische Paraphasien auf. Das Verstehen ist kaum gestört. Diese Form der Aphasie ist die mildeste, und manche Patienten können mit ihrer Intelligenz Wortfindungsstörungen mit geschickten Umschreibungen so ausgleichen, dass ein ungeschulter Zuhörer die Sprachstörung nicht als solche bemerkt, sondern sich höchstens wundert, warum der Gesprächspartner „ein bisschen komisch“ redet. Neulich sagte ein Patient: „Man sollte jetzt die Raumtemperatur regeln!“ Als wir nachfragten, wie er das denn meine, deutete er auf das Fenster und sagte: „Ändern Sie die Scheibe!“ Erst als wir fragten: „Öffnen oder schließen?“, sagte er: „Öffnen, es ist zu warm!“

Wie gehen wir richtig mit dem Aphasiker um?

Es ist sehr wichtig, ihn als Aphasiker zu erkennen und nicht zu glauben, er sei dumm oder betrunken, wenn er uns in der Straßenbahn oder in einem Geschäft unvorhergesehen begegnet. Wenn wir auf die Idee kommen, dass hinter dem Gestikulieren und dem verwirrten Reden ein intelligenter, orientierter und sprachgestörter Mensch um Verständnis heischt, können wir mit Verständnis, Mitgefühl und einiger Fantasie so handeln, als ob ein Ausländer vor uns steht und mit uns ins Gespräch kommen will. Das setzt voraus, dass wir ihn ernst nehmen und uns redlich und geduldig bemühen, seine Information zu verstehen und angemessen zu beantworten. Wir müssen natürlich auch überlegen, wie wir unsere eigene Botschaft anbringen können.

Denn die Paraphasien entstellen die Sprache manchmal bis zur Unkenntlichkeit. Der Fantasie ist hier keine Grenze gesetzt, und häufig gibt es lustige Begriffe. Wenn man aber darüber lacht, ist der Patient verständlicherweise böse, denn er bemüht sich um klare Sprache, und er hat den Eindruck, dass wir ihn auslachen. Er erkennt, dass sein Wort falsch ist, er versucht es zu korrigieren und gerät nicht selten in Wut und dann in Resignation, weil er mit seiner erhaltenen Intelligenz erkennt, dass er eine wichtige Fähigkeit verloren hat.

Wir haben jetzt gelernt, dass der Broca-Aphasiker und der Patient mit der amnestischen Aphasie noch recht gut verstehen, also lohnt es sich, zuerst einmal auf einfachem sprachlichem Niveau die Situation zu klären. Die Frage: „Haben Sie einen Schlaganfall gehabt?“ versteht der Patient oft und kann antworten. Aber Vorsicht: Ein JA beim Aphasiker kann auch NEIN heißen, denn er zeigt oft Verwechslungen bei Wörtern! Deshalb ist die Frage „Verstehen Sie mich?“ vielleicht irreführend. Deshalb müssen wir auf die Körpersprache achten, und hier ist JA kaum mit NEIN zu verwechseln. Aber wir können noch nicht sicher sein, dass er die Frage richtig verstanden hat. Deshalb sind Fragen wie im Kreuzverhör manchmal zielführend. Das allerdings sollten wir nur in geschütztem Rahmen und nicht aus Neugier machen und schon gar nicht, um den Patienten bloßzustellen.

Ein Schlaganfallpatient hat auch oft noch eine Lähmung im Gesicht oder an Arm oder Bein, die man erkennen kann. Auch eine verwaschene Sprache eines Aphasikers kann wie das Lallen eines Betrunkenen klingen. Aber ein Betrunkener hat noch andere Symptome, die ihn von einem Nüchternen unterscheiden. Das hilft, ihn als Patient zu identifizieren und nicht als dumm oder betrunken abzustempeln. Wirklich schwierig wird es, wenn ein Aphasiker betrunken ist.

Also: Geduld, langsame Sprache, Fantasie, Zeichensprache, Einfühlungsvermögen und Bilder können zum Verständnis helfen. Unsere Fantasie kann dazu beitragen, aus der Situation heraus oder / und anhand der Körpersprache und der Paraphasien den gemeinten Sinn zu finden. In der Klinik haben wir Tafeln, auf denen typische Alltagssituationen und Gegenstände gezeichnet sind, auf die der Patient auch dann zeigen kann, wenn er nicht mehr sprechen kann. Allerdings muss sein Bildergedächtnis noch vorhanden sein.

Unser Verhalten wird dem Patient rasch zeigen, wie wir ihn einschätzen, und er wird entsprechend handeln. Einige Aphasiker haben ein kleines Kärtchen in der Tasche, auf dem steht, dass sie eine Sprachstörung haben und um entsprechende Hilfe bitten. Man kann sich leicht vorstellen, wie dankbar Aphasiker sind, wenn man sie wie normale Menschen behandelt und ernst nimmt und nicht aus Schreck oder Hilflosigkeit oder peinlicher Berührtheit davonläuft.

Ansonsten ist es natürlich wichtig, dass aphasische Patienten regelmäßig Therapie beim Logopäden, dem Sprachtherapeuten, erhalten, um möglichst viel von der verlorenen Sprachfähigkeit wieder zu erlangen oder neu zu lernen. Leider muss man sagen, dass die Erfolge oft sehr zu wünschen übrig lassen, weil eine Aphasie häufig sehr behandlungsresistent ist. Und eine differenzierte Unterhaltung über abstrakte Themen ist mit einem schwer betroffenen Aphasiker nie mehr möglich.

Aber ich kenne Herrn Dr. Sänger[5], einen hoch intelligenten Rechtsanwalt, der durch einen Schlaganfall in der linken Hirnhälfte in jungen Jahren eine halbseitige Lähmung rechts und eine Broca-Aphasie erlitten hat. Er kann durch sein intensives und sehr ehrgeiziges regelmäßiges Training heute wieder auf einem Spezialdreirad liegend durch die Straßen fahren und sich mit kargen Worten so verständigen, dass er die wesentlichen Dinge des täglichen Lebens allein regeln kann. Ich werde nie den Tag vergessen, als er in mein Sprechzimmer kam und auf meinen PC deutete: „Ich E-mail schreiben hier. Jetzt bitte Adresse geben!“ Ich gebe zu, ich war sehr verblüfft über seine Idee, aber natürlich auch hoch erfreut, und so gab ich ihm meine Adresse. Im Laufe des vergangenen Jahres hatte er gelernt, mit der linken Hand zu schreiben, denn seine Rechte war vollständig gelähmt, und so schrieb er mir seine Adresse auf und sagte mit einem Fragezeichen im Gesicht: „Sie antworten?“ Seither erhalte ich in regelmäßigen Abständen kurze Mails von ihm, die zwar Schreibfehler [6] enthalten, aber verstehbar sind. Manchmal bittet er seine Schwester, seine Ideen zu formulieren. Und ich antworte immer sehr gern und freue mich, dass dieser Mann seinen Lebensmut immer noch hat. Ich habe ihn während der ganzen langen Therapiezeit nie missmutig oder depressiv erlebt, obwohl das Schicksal ihn sehr gebeutelt hat und seine Frau ihn nach dem Schlaganfall mit den Kindern verlassen hat.

 


[1] Der Schlaganfall entsteht in etwa 80% der Fälle durch eine Durchblutungsstörung (= Infarkt) des Hirngewebes, in ca. 15% durch eine Blutung, in ca. 5% durch andere Ursachen, z.B. Entzündungen, Tumoren.

[2] Wörtlich übersetzt: Bedeutungsmäßige Nebenwörter

[3] Wörtlich übersetzt: Klangliche Nebenwörter

[4] Amnesie bedeutet Gedächtnisverlust.

[5] Ich nenne ihn so, weil er ein begeisterter Opernliebhaber ist, der während seiner Therapiezeit ständig einen MP3-Spieler mit Opernmusik dabei hatte und regelmäßig auch heute noch in die Oper geht.

[6] Das sind phonematische Paraphasien! Er schreibt wie er hört, z. B.: „Där Bleisdifd“.

 

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

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Das organische Psychosyndrom

 

Ein Syndrom ist ein Krankheitsbild, das sich mit der Verbindung aus mehreren bestimmten Krankheitssymptomen beschreiben lässt. Das organische Psychosyndrom umfasst Symptome der seelisch-geistigen Verfassung, die durch eine organisch bedingte Ursache entstanden sind. Es stellt eine sehr häufige Begleiterscheinung und Folgen von Gehirnerkrankungen dar, z.B. Schlaganfällen, Schädel-Hirn-Verletzungen, Sauerstoffmangel, Hirnhaut- oder Gehirnentzündungen, Vergiftungen dar.

Sauerstoffmangel ist z. B. auch eine häufige Folge von ungenügender Reanimation bei Herz- und Atemstillstand. Dazu ein paar interessante Zahlen, die für uns Ärzte und besonders für die betroffenen Patienten sehr wichtig sind.  Beim Deutschen Neurologen-Kongress 2005 wurden sie veröffentlicht.[1]

Von 100.000 Einwohnern erleiden pro Jahr etwa 100 Personen (also etwa 0,1%) außerhalb eines Krankenhauses einen Herzstillstand. Bei 80 – 90% der Betroffenen wird ein Wiederbelebungsversuch unternommen. Davon stellt sich bei etwa der Hälfte der Patienten wieder eine Kreislauftätigkeit ein. Ein Jahr nach dem Ereignis sind aber 80% dieser Patienten an zusätzlichen Komplikationen verstorben. Selbst von den Menschen, bei denen die Reanimation innerhalb von 15 Minuten erfolgreich war, sind nach sechs Monaten die Hälfte tot. Die Hauptkomplikation des Herzstillstandes ist der Durchblutungs- und Sauerstoffmangel des Gehirns, da bereits nach zwei Minuten Sauerstoffmangel die ersten Hirnzellen absterben. 40% der Wiederbelebten überleben im so genannten vegetativen Status, auch als Wachkoma oder apallisches Syndrom bezeichnet. Das bedeutet sie atmen, haben aber keine Kontaktmöglichkeit zur Umwelt, keine bewussten Bewegungen und keine Willensäußerung mehr, und ob sie etwas empfinden, ist unklar. Bei weniger als 10 % der Überlebenden kommt es zu einer vollständigen Erholung der Hirnfunktionen.

Oder, um es in absoluten Zahlen auszudrücken: Von 100 Menschen, die einen Herzstillstand erleiden, überleben 40 den Reanimationsversuch, aber 32 von ihnen sind nach einem Jahr verstorben. Auch bei sofortiger Reanimation überleben nach einem halben Jahr nur 20 Menschen. 16 der Wiederbelebten überleben im apallischen Syndrom, und weniger als vier Menschen von den ursprünglich 100 Menschen erhalten nach einer Reanimation wieder ihre volle  geistige Funktion. Alle anderen sind entweder sofort oder spätestens nach einem Jahr tot oder kognitiv mehr oder weniger geschädigt.

Das organische Psychosyndrom ist gekennzeichnet durch die Beeinträchtigung der kognitiven [2] und emotionalen Fähigkeiten. Damit meinen wir die Eigenschaften, die wir zum Erkennen und Wissen benötigen und die unsere Gefühlsregungen ausdrücken. Aufmerksamkeit, Konzentration, Gedächtnis, Reaktionsgeschwindigkeit, Einsichtsfähigkeit, Selbstbeobachtung und -kritik sind typische kognitive Fähigkeiten. Lachen, Weinen, Geduld, Ungeduld, Antrieb sind Ausdrucksformen unserer Emotion.

Definitionsgemäß müssen mindestens zwei der folgenden Symptome vorhanden sein, um die Diagnose einer organisch bedingten Persönlichkeitsstörung stellen zu können. [3]

  • Andauernd reduzierte Fähigkeit, zielgerichtete Aktivitäten über längere Zeiträume durchzuhalten und Befriedigungen aufzuschieben.
  • Verändertes emotionales Verhalten, das durch emotionale Labilität, flache und ungerechtfertigte Fröhlichkeit (Euphorie, unangepasste Witzelsucht) und leichten Wechsel zu Reizbarkeit oder kurz andauerndes Ausbrüchen von Wut und Aggression charakterisiert ist. In manchen Fällen kann Apathie im Vordergrund stehen.
  • Äußerungen von Bedürfnissen und Impulsen meist ohne Berücksichtigung von Konsequenzen oder sozialen Konventionen. Der Patient kann unsoziale Handlungen begehen wie Stehlen, unangemessene sexuelle Annäherungsversuche, gieriges Essen oder die Körperpflege vernachlässigen.
  • Kognitive Störungen in Form von Misstrauen oder paranoidem[4] Denken und / oder exzessiver Beschäftigung mit einem einzigen, meist abstraktem Thema (Religion, Recht, Unrecht)
  • Auffällig Veränderung in der Sprachproduktion und des Redeflusses, Umständlichkeit, Begriffsunschärfe, zähflüssiges Denken, Schreibsucht.
  • Verändertes Sexualverhalten (verminderte Sexualität oder Wechsel in der sexuellen Präferenz)

Das organische Psychosyndrom nach Schädel-Hirn-Trauma ist charakterisiert durch

  • Vegetative Symptome wie Erschöpfbarkeit, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Schwindel, Wetterfühligkeit
  • Einschränkung kognitiver Funktionen, die sich als Tempoverlangsamung und Lernstörung bemerkbar macht
  • Veränderung vegetativer Funktionen (Ess-, Schlaf-, Sexualverhalten)
  • Deutliche Einschränkung der sozialen Anpassung und der sozialen Urteilsfähigkeit
  • Bleibende neurologische Störungen wie Lähmung, Taubheit, Aphasie [5], Apraxie [6] oder Akalkulie [7]

Eine Sonderform ist das Frontalhirnsyndrom. Es ist vorrangig gekennzeichnet durch eine Antriebsstörung, weil im vorderen Teil des Gehirns das Antriebszentrum liegt. Die Betroffenen Patienten haben entweder einen verminderten oder einen vermehrten Antrieb. Sie sind bei allen Tätigkeiten gebremst oder übertrieben angetrieben, sie sind beispielsweise nicht in der Lage zu essen, weil Ihnen der Antrieb fehlt, die Gabel in die Hand zu nehmen und damit das Essen aufzunehmen und zum Mund zu führen, obwohl ihre Muskeln dies tun und die Patienten essen können. Auch wenn man sie anleitet, bleibt meist jede Handlung stecken, und der nächste Handlungsschritt muss erneut eingeleitet werden. Diese Patienten können sich z. B. nicht ohne Aufsicht, ständigen Antrieb und Kontrolle waschen. – Die übermäßig Angetriebenen sind ständig aktiv, oft auch distanzlos und ohne Kontrolle über das, was in unserem Umgang als angemessen und passend empfunden wird. Sie neigen z. B. zu einer „schmutzigen“ Sprache und übertriebenen sexuellen Äußerungen und Handlungen. Sie haben darüber meist keine Kontrolle. Viele Patienten mit einem Frontalhirnsyndrom sind affekt­inkontinent: Sie zeigen unpassende oder übertriebene Gefühlsreaktionen, sie weinen oder lachen an der falschen Stelle oder reagieren ärgerlich oder wütend, obwohl es überhaupt nicht zur Situation passt.

Die Beeinträchtigung der kognitiven Funktionen bestimmt den Alltag der Patienten. Sie können sich nichts merken, wobei meist die Störung des Kurzzeitgedächtnisses stärker ausgeprägt ist als des Langzeitgedächtnisses. Sie wissen vielleicht noch, wo sie in die Schule gegangen sind, aber was sie heute Morgen gefrühstückt haben, können sie nicht berichten. Deshalb stellen sie oft gleiche Fragen mehrfach hintereinander, wenn ihr Antrieb sie dazu fähig macht. Da aber dieser auch häufig vermindert ist, machen diese Menschen einen seltsam unbeteiligten und uninteressierten Eindruck. Sie können nur kurz aufmerksam sein, lassen sich sehr leicht durch äußere Einflüsse und eigene Gedanken ablenken, können sich nicht auf eine Tätigkeit oder eine Frage konzentrieren, wandern mit ihren Gedanken ab. Man merkt den Patienten an, wie das Gehirn sich bemüht, aber „der Computer hat sich aufgehängt“, und es geht nicht vorwärts. Sie sind meist erheblich in ihrer Reaktionsgeschwindigkeit beeinträchtigt.

Sie reagieren oft in selbstgefährdender Weise, indem sie z. B. aus dem Rollstuhl aufstehen, ohne die Bremsen festzustellen und fallen hin. Deshalb muss man sie zu ihrer eigenen Sicherheit mit einer Sitzhose im Rollstuhl fixieren. Oder wir müssen sie im Bett fixieren, damit sie nicht über das Bettgitter steigen und sich dabei verletzen. Manche Patienten ziehen an Trachealkanülen, Magensonden und Blasenkatheter, reißen sie heraus, obwohl das schmerzhaft ist und zusätzliche Verletzungen nach ziehen kann. Es gibt auch Patienten, die andere Patienten gefährden, z. B. indem sie mit dem Rollstuhl jemanden anfahren. Die Alternative wäre, dem Patienten rund um die Uhr eine ständige Begleitung zu geben. Dies ist bei der Finanzlage der Krankenversicherungen und der Krankenhäuser nicht möglich. Deshalb ist die Zahl der angesetzten Beruhigungsmedikamente auch umso höher, je weniger Personal zur Verfügung steht. Es nützt selten, wenn man die Patienten auf die Gefahr ihres Verhaltens aufmerksam macht, denn erstens könne sie es nicht einsehen, zweitens haben sie den Hinweis nach kürzester Zeit vergessen.

Frau Gärtner ist eine Patientin, die eine sehr schwere Hirnblutung überlebt hat und in der Rehabilitation ein typisches Bild eines schweren organischen Psychosyndroms zeigt. Sie kam auf die Station, ohne mit den Augen Kontakt zur Umwelt aufnehmen zu können. Langsam besserte sich ihr Zustand, auch ihre Atmung wurde immer besser, so dass wir die Trachealkanüle ziehen konnten. Nach langsamen und geduldigen Mobilisierungsversuchen kann sie zwar wieder gehen und ihre Arme und Finger normal bewegen kann, aber sie steht nur aus eigenem Antrieb auf. Wenn man sie bittet aufzustehen, kann sie es nicht. Sie kann eine Tasse greifen und daraus trinken, aber sie vergisst zu schlucken. Erst wenn sie das nächste Mal nach ein paar Minuten trinken will, schluckt sie. Und wenn wir sie bitten zu trinken, kann sie die Aufforderung nicht ausführen. Andere erlernte Automatismen funktionieren teilweise: Sie „schreibt“ seitenweise Blätter voll. Dabei sieht das Schriftbild aus krakeligen Zeichen wie ein richtiger Brief aus, aber man kann keinen einzigen lesbaren Buchstaben erkennen.

Ihr Ehemann berichtet uns, dass Frau Gärtner bei einem kurzen Aufenthalt am Wochenende in ihrer Wohnung sich dort genau auskannte, ein Stückchen Papier zielsicher in den richtigen Mülleimer warf, eine Platte mit Speisen aus dem Kühlschrank richtete und in ihrem PC gezielt ihr am häufigsten genutztes Programm von 40 auf dem Desktop öffnete, um etwas zu schreiben. Aber sie konnte dann nichts mit dem Programm anfangen.

Und mit dem Sprechen ist es schwierig: Frau Gärtner nuschelt meist nur Unverständliches. Aber als die Schwester in einem vom Ehemann mitgebrachten Familienalbum auf ein Kind deutete mit der Frage, wer das sei, kam die klare Antwort: „Mein Neffe Jan.“ – Wir beobachten auf der Station, dass Frau Gärtner sich der Grundpflege wie Waschen, Anziehen, Gang zur Toilette wehrhaft verweigert. Sie kann mit einem Waschlappen am Waschbecken überhaupt nichts anfangen. Wenn die Schwester ihr zeigt, was man damit macht, kann Frau Gärtner es zwar nachmachen, aber die Handlung stoppt sofort, wenn man sie nicht immer wieder anschubst. Antrieb von außen ist unerlässlich, und meist reagiert Frau Gärtner widerwillig oder nicht. Eigene Ideen kann sie manchmal umsetzen. Sie wurde beobachtet, wie sie bemerkte, dass die Sonne ihrer bewusstseinsgestörten Zimmernachbarin im Bett direkt ins Gesicht schien. Also ging Frau Gärtner zum Vorhang, zog ihn langsam zu und kontrollierte dabei genau, wie der Schatten langsam über das Gesicht der Patientin glitt. Genau im richtigen Moment stoppte sie den Vorhang, strich der Patientin zärtlich über die Haare und wandte sich dann ab.

Patienten mit einem organischen Psychosyndrom leben oft in der Welt ihrer eigenen Vorstellung. Die fehlende Orientierung zu Zeit, Ort, Person und Situation ist ein typisches Zeichen für die Beeinträchtigung der Patienten. Als ich dem schwerst betroffenen Herr Kramer morgens Blut abnehmen wollte, sagte er kaum verständlich: „Holen Sie die Stewardess!“ – Auf meine Frage, wo er denn jetzt sei, meinte er: „Im Flugzeug nach Moskau, da hole ich Geheimakten!“ – Ein Berufspilot mit einem organischen Psychosyndrom sagt –halbseitig gelähmt in seinem Rollstuhl sitzend!- immer wieder, er sei jetzt in New York oder Frankfurt oder auf irgend einem anderen Flugplatz bereit zum Abflug mit seiner DC 10, die er vor vielen Jahren tatsächlich einmal geflogen ist.

Andere Patienten reagieren mit Wahrnehmungen, die nicht nur unrealistisch sind, sondern sogar Wahnideen enthalten. Ich denke an eine Patientin, die nach einer schweren Herpes-Encephalitis [8] alles in ihrem Alltag sehr negativ sah, sich und die Umwelt nur als Katastrophe erlebte, sich gegen alles wehrte, sich wertlos vorkam und den Schwestern den Vorwurf machte, ihre Kleider im Schrank seien nur deshalb immer nass, weil die Schwestern sie ärgern wollten und deshalb einen Eimer Wasser im Schrank ausgekippt hätten.

Durch die verminderte Wahrnehmung von Defiziten und eingeschränkte Kritikfähigkeit (typisch für Schädigungen der rechten Gehirnhälfte) sind die Patienten oft unrealistisch bei der Einschätzung ihrer Situation. Sie fühlen sich ab einem gewissen Stadium der Regeneration fit, wollen jetzt an ihren Arbeitsplatz zurück, obwohl sie vielleicht noch bettlägerig sind, und erkennen überhaupt nicht, dass ihnen wesentliche Fähigkeiten fehlen. Wenn sie mit ihren Fehlern bei der psychologischen Testung oder bei Versuchen konfrontiert werden, die eine berufliche Situation nachstellen, oder schon bei einfachsten Rechen- und Logikaufgaben, bagatellisieren sie ihre Defizite und finden viele Ausreden, warum es jetzt gerade nicht so funktioniert, wie es sein sollte.

Ich denke an einen ehemaligen Fahrlehrer und Berufsbusfahrer, der nach einem Schlaganfall bei allen Reaktionstests außerordentlich schlecht abschnitt, aber sonst von seinen Bewegungsfähigkeiten wieder voll einsatzfähig war. Er konnte überhaupt nicht akzeptieren, dass wir ihm dringend abrieten, Auto zu fahren, von seinem Bus ganz zu schweigen. Er tat unsere Reaktionstests mit den Blinklichtchen und den Knöpfchen, die er zu drücken hatte, als Kinderkram ab, das habe überhaupt nichts mit der Verkehrssituation zu tun. Er können schließlich aus seiner Erfahrung ganz genau und viel besser als jeder Jüngere entscheiden, wann er zu bremsen habe. Erst mehrere eindringliche Gespräche brachten ihn schließlich dazu, vorerst sein Auto stehen zu lassen und sich später einer erneuten Prüfung zu unterziehen.

Ein Kaufmännischer Direktor in einem Großkonzern war dort für ein Budget von mehreren Millionen Euro verantwortlich. Nach dem Schlaganfall auf der rechten Gehirnseite war er am linken Arm gelähmt, konnte aber schon wieder recht gut gehen, und er war überzeugt, sofort wieder arbeiten zu können. Bei einfachen Testrechenaufgaben und einem standardisierten Bürotest mit Ordnungs- und Organisationsaufgaben machte er schwerwiegende Fehler und war viel zu langsam. Trotzdem war er sehr böse mit mir, als ich dies in den Arztbrief schrieb und ihm dringend davon abriet, zu diesem Zeitpunkt an seinen Schreibtisch zurückzukehren, Ich wollte ihn vor einem klar abzusehenden Misserfolg in der Firma mit allen schlimmen Folgen bewahren.

Häufig bei Schädel-Hirn-Trauma- und Schlaganfall-Patienten ist auch die vegetative Labilität: Ihre Regulation der Körper erhaltenden Funktionen ist gestört. Man bemerkt das beispielsweise an zu schnellem oder verlangsamtem Herzschlag, Herzrhythmusstörungen, starkem Schwitzen, Störung der Verdauungs-, Nieren- und Lungenfunktion, an verminderter Hautdurchblutung mit der erhöhten Gefahr von aufgelegener Haut (Decubitus). Auch ein gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus ist häufig. Die Patienten sind fast immer belastbarkeitsgemindert.

Die körperliche Einschränkung zeigt sich z. B. mit Blutdruckabfall, Anstieg der Herzfrequenz und starkem Schwitzen, manchmal schon beim Sitzen an der Bettkante oder längerem Sitzen im Rollstuhl. Diese Belastbarkeit kann und muss regelmäßig trainiert werden.

Die geistige Belastbarkeitsminderung erkennen wir an raschem Abfall von Konzentration, Aufmerksamkeit, Ausdauer, Merkfähigkeit und Reaktionsgeschwindigkeit bei alltäglichen Aufgaben und Tätigkeiten. Ich kenne einen Notar, der nach einem Schlaganfall sich wieder sehr gut rehabilitiert hat, körperlich voll einsatzfähig war und natürlich wieder in seiner Kanzlei arbeiten wollte. Aber er zeigte nach etwa einer Stunde konzentrierter Arbeit am Schreibtisch oder in schriftlichen Testaufgaben oder in Verhandlungen eine plötzliche Verminderung seiner Konzentration. Er formulierte das so: „Da werde ich im Kopf immer dunkel, ein Vorhang senkt sich, und ich kann nicht weiter denken!“ Da er diese Belastbarkeitsminderung auch nach längerer Rehabilitation nicht beheben konnte, war er gezwungen, seine Kanzlei aufzugeben. Er entschied sich schweren Herzens dazu unter anderem auch, weil er große Sorge hatte, im Rahmen von Verhandlungen Konzentrations- Gedächtnis- und Beratungsfehler zu machen, die ihn möglicherweise zu Haftungskonflikten führen könnten. Außerdem berichtete er, dass er sich beim Autofahren sicher fühlte, aber trotzdem erschreckt war, dass er auf einer für ihn üblichen Strecke trotz langsamer Fahrweise fast zwei schwere Unfälle verursacht hätte, wenn nicht die anderen Verkehrsteilnehmer rechtzeitig reagiert hätten. Er erkannte hierbei, dass er eine deutliche eingeschränkte Wahrnehmung und Reaktionsgeschwindigkeit hatte, obwohl sein Seh- und Hörvermögen normal waren.

Wie gehen wir richtig mit dem Patienten um, der ein organisches Psychosyndrom hat?

Vorrangig wichtig ist zuerkennen, dass der Patient durch seine Krankheit ein verändertes Verhalten hat, das er nur in sehr begrenztem Maß willentlich beeinflussen kann. Erstens hat er besonders am Anfang der Erkrankung durch den verminderten Antrieb gar nicht die Möglichkeit, etwas zu verändern, und außerdem sind seine Wahrnehmungsfähigkeiten drastisch eingeschränkt. Eben diese braucht er aber, um aus seinem Verhalten zu lernen.

Wir müssen uns also bewusst machen, dass wir sehr viel Verständnis und Geduld brauchen, wenn wir solch einen Patienten angemessen begleiten wollen. Im Rahmen der neurologischen Rehabilitation müssen wir in Wochen und Monaten denken, nicht in Stunden und Tagen, wie es in der Chirurgie oft üblich ist.

Es ist also sicherlich falsch und ungerecht, wenn wir dem Patienten wegen seines Fehlverhaltens Vorwürfe machen oder ihn wegen Reaktionen auslachen. Natürlich ist es erlaubt, mit ihm zu lachen, wenn er dies als Bestätigung oder Ermunterung auffassen kann. Wir dürfen uns auch nie provozieren lassen, wenn der Patient zum soundsovielten Male denselben Fehler macht, der uns ärgert oder zwingt, wieder einzugreifen. Ich weiß aus der täglichen Arbeit dass das schwierig ist, aber eine gute empathische Distanz ist unerlässlich um Umgang mit Patienten, die an einem organischen Psychosyndrom erkrankt sind.

Ein multimodales Therapieprogramm ist empfehlenswert und die Grundlage jeder guten Rehabilitation. Die ganzheitliche Sichtweise eines Menschen muss Grundlage jeder Behandlung sein. Das bedeutet, dass seelische, körperliche und geistige Fähigkeiten und Aspekte in gleichem Maß berücksichtigt und behandelt werden müssen..

Für den kognitiven Bereich (Wahrnehmung, Gedächtnis, Reaktionsgeschwindigkeit, Konzentration, Aufmerksamkeit) ist das alltägliche Training der Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL) nötig. Darunter verstehen wir An- und Ausziehen, den Gang zur Toilette, Essen und Trinken, den Transfer vom Bett in den Rollstuhl und umgekehrt, Waschen, Rasieren, Kämmen. Die Pflege, die Ergotherapeuten und die Physiotherapeuten (Krankengymnasten) sind dafür zuständig und arbeiten wechselweise und im Team an jedem einzelnen Detail. Das Ziel besteht darin, den Patienten in kleinen Schritten wieder in den gewohnten Alltag zu führen und ihm die Fähigkeiten, Defizite und Möglichkeiten zum Ausgleich der Defizite bewusst zu machen und so weit es geht so zu üben, dass der Patient möglichst eine gute Selbständigkeit erreicht.

Der emotionale Bereich kann teilweise medikamentös beeinflusst werden. Wenn man bedenkt, dass etwa achtzig der Patienten auf einen Schlaganfall depressiv reagieren, kann man mit der Gabe eines antriebssteigernden Antidepressivums das Gefühlstief manchmal auffangen oder zumindest reduzieren. Andererseits kann man mit einem beruhigenden Mittel die oft sehr quälende Unruhe der Patienten, die auch Störungen ihres Schlaf-Wach-Rhythmus erleben, positiv beeinflussen.

Das Sozialverhalten lässt sich schwer beeinflussen. Hier ist geduldiges Einüben der üblichen Funktionen und Verhaltensweisen nötig, wenn auch nicht immer erfolgreich. Wichtig ist, das Verhalten in Einzeltherapiesituationen auf das Leben in der Gemeinschaft auszudehnen. Es gibt in neurologische Rehabilitationszentren auch Spezialstationen für so genannte neurokognitive Behandlung, wo auf dieses Spezialgebiet besonders eingegangen wird.

Das impulsgesteuerte Verhalten der Patienten muss im Rahmen der stationären Rehabilitation bearbeitet werden. Dabei ist wichtig, den Patienten zunehmend bewusst zu machen, das ihre Reaktionen eine Konsequenz haben, für die sie verantwortlich sind. Es geht also darum, die Menschen wieder dazu zu bewegen, zuerst zu denken und erst dann zu handeln.

Vegetative Störungen können meist vorübergehend medikamentös behandelt werden und normalisieren sich oft von selbst im Rahmen der Rehabilitation.

Zur Behandlung der neuropsychologischen Ausfälle (Gesichtsfeldeinschränkung, Sprachverständnis- und Sprechstörung, halbseitige Wahrnehmungsstörungen) gibt es in neurologischen Kliniken speziell ausgebildete Therapeuten, die Neuropsychologen. Auch sie gehören zu dem Team, das sich während der Rehabilitation um die ganzheitliche Behandlung des Patienten kümmert.

Sehr wichtig ist mir auch die Familie, die von der Krankheit aus dem üblichen Alltag in ein neues Leben und oft grundsätzlich veränderte Lebensbedingungen gezwungen wird. Sie muss während der Rehabilitation und meist auch anschließend geführt, gestützt und betreut werden. Der Hausarzt, der Stationsarzt, die Therapeuten und Pflegekräfte in der Klinik tragen hier eine große Verantwortung. Denn erfahrungsgemäß ist die Familie durch den plötzlichen Schlag eines so schwer kranken Familienmitgliedes völlig überfordert. Geduldige und empathische Gespräche und ruhige Führung sind unerlässlich und eine wichtig Hilfe für alle Betroffenen, die mit dem Kranken weiterleben wollen. Einzelheiten hierzu habe ich in meinem Buch „Wenn das Licht naht – der würdige Umgang mit schwer kranken, genesenden und sterben Menschen“ ausführlich dargestellt.

 

[1] Weissenborn, Neurologische Komplikationen kardio-pulmonaler Reanimation, zit. In Neurologie 2005, Thieme

[2] cognoscere: Lat. erkennen, wissen

[3] Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie in www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/ll/028-001.htm

[4] Paranoides Denken bedeutet, sich mit Verfolgungsideen zu beschäftigten und sie für real zu halten.

[5] Aphasie = Griech. Sprachlosigkeit. Störung der Sprechfähigkeit und des Sprachverständnisses

[6] Apraxie = Unfähigkeit zur Ausführung erlernter zweckmäßiger Handlungen oder Bewegungen trotz erhaltener Wahrnehmungs- und Bewegungsfähigkeit. Der Patient kann „Werkzeuge“ nicht oder nicht mehr sinnvoll einsetzen. Beispiel: Er kämmt sich mit der Zahnbürste oder putzt sich mit dem Kamm die Zähne oder weiß nicht, was er mit dem Bleistift machen kann.

[7] Akalkulie: Die Unfähigkeit zu rechnen

[8] Entzündung des Gehirnes durch das Virus, das auch die Gürtelrose auslösen kann

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

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Die überbesorgten Angehörigen

 

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Die überbesorgten Angehörigen kommen häufig auf die Station in der Klinik oder rufen den Arzt des Patienten an, wollen Auskunft haben und berichten über ihrer Meinung nach wichtige Veränderungen oder Symptome des Patienten. Sie halten oft Sprechzeiten nicht ein und drängen sich auf. Dabei erwarten sie, dass man immer für sie sehr viel Zeit hat. Meist haben sie Eigenschaften der fordernden, besserwisserischen und distanzlosen Menschen. Überbesorgte Angehörige versuchen, über das übliche Maß der Anteilnahme hinaus Kontakt mit dem Patienten, dem Arzt und den betreuenden Therapeuten aufzunehmen. Und natürlich geben sie an, dies alles nur zu tun, weil sie dem Patienten damit helfen wollen. Das betonen sie auch, um sich und ihr Verhalten zu rechtfertigen.

Sie suchen Bestätigung, Trost, Hilfe, Information und lassen sich meist mit kurzen Erklärungen nicht zufrieden stellen. Sie zeigen fast regelmäßig Zeichen der Hilflosigkeit und der daraus resultierenden wechselnd stark ausgeprägten Aggression. Das reicht von aufdringlichem Verhalten bis zu unterschwelligen oder mehr oder weniger deutlichen Vorwürfen, nicht alles optimal zu machen. Wenn wir genau hinschauen, erkennen wir, dass diese Angehörigen sich sehr wahrscheinlich so verhalten, weil ihnen wesentliche Informationen fehlen. Ich möchte Sie bitten, noch einmal das Kapitel „Eine wichtige Reaktionskette“ zu lesen.

In der Praxis habe ich es manchmal erlebt, dass Mütter anriefen oder mich in der Sprechstunde ins Vertrauen ziehen wollten, um über die Krankheit oder das Fehlverhalten ihrer mittlerweile erwachsenen Kinder zu sprechen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Vater in dieser Rolle erlebt zu haben. Bei den besorgten Müttern hatte ich regelmäßig den Verdacht, und manche gaben es auch widerwillig zu, dass ich benutzt werden sollte, um dem „Kind“ eine Botschaft zu überbringen und es auf den rechten Weg zu führen. Solche Versuche der Instrumentalisierung sind sehr gefährlich, besonders für die Arzt-Patient–Beziehung, und ich denke, wir Ärzte müssen uns hüten, als Schiedsrichter oder Erziehungshelfer im Dienst der Eltern eingespannt zu werden. Das gilt erst recht, wenn das Kind längst erwachsen ist und die Eltern erkennen und nicht zugeben wollen, dass ihre Erziehung wohl nicht den Erfolg gezeitigt hat, den sie erwartet haben. Es ist für viele Eltern schwierig zu akzeptieren, dass ihre Kinder sich für eigene Wege entscheiden und nicht immer bereit sind, ein Leben so zu führen, wie die Eltern es für sie erdacht haben.

Anders ist die Situation, wenn wir Ärzte einen schwer kranken Patienten betreuen und die Angehörigen sich in die Behandlung einmischen, obwohl sie dazu nicht befugt sind. Das ist umso so schwieriger, wenn der Patient sich nicht wehren kann, weil er z.B. bewusstlos oder aus anderen Gründen nicht geschäftsfähig ist oder sich nicht ausdrücken kann. Ich denke beispielsweise an Patienten mit einem Schädel-Hirn-Trauma oder einem Schlaganfall, die kognitiv erheblich beeinträchtigt sind und in vielen Fällen gar nicht sprechen können oder wie bei einer Aphasie ein gestörtes Sprachverständnis und Sprechvermögen haben.

Was machen wir mit überbesorgten Angehörigen?

Vorrangig wichtig erscheint mir zu klären, ob wir Ärzte oder auch die Schwestern und Therapeuten in der Klinik ein Recht haben, mit den Angehörigen über die Krankheit und Behandlung des Patienten zu sprechen. Das ist auch entscheidend, wenn die Angehörigen nicht überbesorgt sind. Es ist zu beachten, dass rein rechtlich die Schweigepflicht auch gegenüber Ehepartnern und Eltern erwachsener Kinder gilt.

Deshalb ist es hilfreich, vor einem ausführlichen Gespräch mit den Angehörigen die Zustimmung des Patienten einzuholen. Wenn dies nicht möglich ist, z.B. bei einem bewusstlosen oder aus anderem Grund nicht geschäftsfähigen Patienten und diagnostische und therapeutische Maßnahmen zu planen sind, ist es hilfreich, möglichst bald eine Betreuung einzurichten. Dann haben wir einen einzigen Ansprechpartner, mit dem wir alles besprechen können und müssen, was für den Patient wichtig ist. Wenn keine juristisch klare Rechtssituation besteht, rate ich zu großer Zurückhaltung bei jedem Gespräch, auf das wir uns einlassen. Geben Sie auch Ihren Mitarbeitern klare Anweisung über das Verhalten am Telefon und bei persönlichen Gesprächen auf der Station. Weisen Sie auch Ihre Gesprächspartner, die unbefugt Auskunft haben wollen, auf die Schweigepflicht hin, und halten Sie sich daran. Es lässt sich aber manchmal nicht vermeiden, mit Angehörigen ein Gespräch zu führen, besonders wenn wir bei einem akut kranken Patienten eine Anamnese erheben sollen oder notfallmäßig Eingriffe nötig sind.

Ein Ausweg aus dem Dilemma kann sein, das Gespräch als „Einbahnstraße“ zu führen: Wir fragen, und der Angehörige antwortet, und wir geben keine oder nur die allernötigsten Einzelheiten preis. So bin ich auch schon vorgegangen, als Angehörige „in großer Sorge“ mich über einen meiner Patienten informieren wollten und Auskunft erbaten. Ich ließ mich informieren, bedankte mich für die Information und bat um Verständnis, dass ich diese nicht kommentieren wollte.

Meist ist es aber so, dass der Patient mit einem Angehörigen in die Sprechstunde oder die Klinik kommt. Dadurch entsteht juristisch gesprochen „ein stillschweigendes Einverständnis des Patienten im Rahmen der Sozialadäquanz“: Der Patient stimmt einem Gespräch über seine Erkrankung zu, indem er die Anwesenheit des Angehörigen bei Untersuchung und Besprechung stillschweigend akzeptiert. Das besagt aber nicht, dass wir in Zukunft mit diesem Angehörigen alles Weitere auch dann besprechen dürfen, wenn der Patient nicht dabei ist. Aber wir können den Patienten fragen, ob er damit einverstanden ist. Diese Zustimmung zu dokumentieren, halte ich für wichtig, weil sie uns Ärzte vor späteren Vorwürfen über eventuelle Indiskretion schützt.

Wenn geklärt ist, dass wir mit einem bestimmten Angehörigen über alle krankheitsrelevanten Angelegenheiten reden dürfen oder müssen, sollten wir uns klar abgrenzend und empathisch verhalten. Termine werden vereinbart, eingehalten und zeitlich begrenzt. Es ist besser, solche Gespräche gezielt zu planen und die Angehörigen vorher zu bitten, eine Frageliste vorzubereiten. Dann kann das Gespräch straff und strukturiert ablaufen. Das erfordert aber auch die Disziplin des Arztes! Themen, die nicht strikt zum Patienten gehören, sollten ausgegrenzt werden, sonst ufert das Gespräch aus. Lassen Sie sich nicht von den Angehörigen instrumentalisieren oder in einer Weise steuern, die Ihrem Behandlungsplan entgegen läuft. Vermitteln Sie klar, dass Sie wissen, was Sie mit dem Patienten vorhaben. Zeigen Sie dabei empathisches Verständnis für die Sorge der Angehörigen.

Sie können diesen Angehörigen außerdem bewusst machen, welches Spiel sie spielen: „Stellen Sie sich vor, jemand aus Ihrem Verwandten- oder Bekanntenkreis würde sich so nach Ihnen erkundigen und über Ihren Zustand genauer Auskunft haben wollen. Wäre Ihnen das recht?“ Das hilft meist, um diese Angehörigen in Schranken zu weisen.

Wie Sie mit Besserwissern, Fordernden und Distanzlosen umgehen können, haben wir schon in anderen Kapiteln besprochen.

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

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Das Beipackzettel-Syndrom

 

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Der Patient äußert seine Bedenken meist schon beim Ausstellen des Rezepts. Er ruft an, wenn er den Beipackzettel gelesen hat, und vergewissert sich, ob Sie das wirklich so gemeint haben mit dem Medikament und der Dosis. Er äußert Bedenken wegen der Nebenwirkungen. Er nimmt das Medikament und bekommt schon während des Schluckens mindestens eine der erwähnten Nebenwirkungen, spätestens aber wenige Stunden nach Einnahme. Das bestätigt seine Befürchtungen. Er setzt das Medikament eigenmächtig oder nach Rücksprache ab: „Können Sie mir nicht etwas ohne Nebenwirkungen aufschreiben?“

Er erwartet genaueste Aufklärung, und wenn er hysterische oder hypochondrische Züge hat, wird er Ihnen wieder beweisen, dass es das falsche Medikament war.

Was machen Sie mit dem Beipackzettel-Syndrom-Patienten?

Fragen Sie sich: Würden Sie an der Stelle des Patienten mit Ihrem Wissen dieses Medikament so nehmen, wie Sie es jetzt verordnen wollen?

Wenn Sie „JA“ sagen, verordnen Sie es. Wenn Sie „NEIN“ sagen, fragen Sie sich, was Sie sich und dem Patienten antun.

Wie gut müssen Sie den Patienten aufklären? Wir Ärzte müssen uns darüber immer genauer und besonders unter juristischen Gesichtspunkten immer sorgfältiger Gedanken machen. Dabei dürfen wir die Dokumentationspflicht nicht vernachlässigen.

Nehmen Sie die Zweifel des Patienten ernst, und denken Sie über Alternativen nach.

Klären Sie den Patienten empathisch auf.

Wenn der Patient Angst vor dem Medikament hat, nimmt er es sehr wahrscheinlich nicht. Sie werden es mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht schaffen, ihn mit viel Argumentation und Aufklärung zur regelmäßigen Einnahme zu bringen. Denken Sie über andere Therapiemöglichkeiten nach.

Bitte unterlassen Sie Bemerkungen wie:

„Das Medikament wirkt hervorragend und hat keine Nebenwirkungen.“

„Stellen Sie sich nicht so an!“

„Bei allen anderen Patienten wirkt es ohne Nebenwirkungen!“ (Das ist eine Herausforderung für den hysterischen Patienten, Ihnen das Gegenteil zu beweisen!)

Wenn Sie und der Patient guter Laune sind und beide Spaß verstehen, können Sie sich an einen Cartoon erinnern, den ich neulich gesehen habe:

Der Arzt sitzt dem Patienten gegenüber und sagt: „Nebenwirkungen? – Ja, Sie müssen damit rechnen, dass Sie wieder arbeitsfähig werden.“

 

Diesen Artikel habe ich in dem Buch Ich verstehe Sie! Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht.

 

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