Wie können wir menschenwürdig mit Schwerkranken umgehen?

 Liebe deinen Nächsten als dich selbst.

Galater 5, 14 und Matthäus 22, 39

 Konsequenzen:

1. Dein Nächster ist ein Teil von dir.

2. Du kannst deinen Nächsten erst lieben, wenn du dich liebst.

 2.1. Allgemeine Gedanken

Besonders wichtig erscheint es mir, gleich am Anfang dieses Buches darauf hinzuweisen, dass schwerkrank nicht mit sterbend gleichzusetzen ist. Es gibt viele Beispiele von Schwerkranken in äußerst gefährlichen und lebensbedrohlichen Situationen, die wieder ganz gesund geworden sind. Ich gehe also im folgenden davon aus, dass wir immer eine Heilung mit in Betracht ziehen müssen, wenn wir über einen Schwerkranken sprechen. Deshalb werde ich auch von Menschen berichten, die nach schwerer Krankheit wieder gesund geworden sind.

Wichtig ist auch diese Klarstellung: Schwerkrank heißt nicht gleichzeitig schwerpflege-bedürftig. Ein Krebskranker im weit fortgeschrittenen Stadium kann durchaus noch in der Lage sein, sich weitgehend selbst zu versorgen.

In welcher Beziehung wir zu einem Schwerkranken auch stehen, ob wir der Lebens-partner, das Kind, der Nachbar, ein Verwandter sind oder zu den Hilfsberufen gehören, die dem Schwerkranken als Schwester, Pfleger, Arzt sein Leiden lindern sollen: Immer stellt sich die Frage, wie wir mit dieser schwierigen Aufgabe und dem betroffenen Menschen richtig umgehen sollen. Und bei näherer Betrachtung sind die Grundregeln einfach zu formulieren.

 2.2. Praktische Beispiele

Dazu möchte ich Johanna, eine liebe Freundin und ältere Dame zitieren, die sich jahrelang im Rahmen der Nachbarschaftshilfe intensiv mit der Versorgung und Betreuung Schwerkranker beschäftigt und darin eine sehr befriedigende Aufgabe in ihrem Alter erlebt hat. Durch ein Leben mit vielen schweren Schicksalsschlägen und eigenen Krankheiten bis hin zu einer längeren Blindheitsphase hatte sie reiche eigene Erfahrungen mit schweren Krankheiten. Sie kümmerte sich um so bewusster um andere Menschen, die sich in komplizierten Situationen befanden. Als ich sie einmal fragte, welche Vorschläge sie für den Umgang mit Schwerkranken empfehlen würde, antwortete sie spontan:

–     Du musst die Wahrheit sagen.

–     Du musst die Angehörigen informieren.

–     Du solltest dem Kranken seine Wünsche möglichst weitgehend erfüllen.

–     Du musst klären, ob er sein Testament gemacht hat.

–    Du darfst nicht empfindlich sein bei Anschuldigungen, die der Kranke macht, weil er
sich nicht anders zu helfen weiß.

–     Du musst also dein eigenes Ego und deine Interessen hintenanstellen.

–     Du sollst dem Kranken deine Liebe geben. Ich habe die alte Patientin oft stundenlang
einfach im Arm gehalten und ihr gesagt, wie sehr ich sie liebe. Das ist so tröstend.

–     Zwinge Schwerkranke nicht zu Essen oder Trinken!

–     Eine innere Ausgeglichenheit und der feste Glaube an Gott, Christus und die geistige
Welt sind unbedingt wichtig. Ich habe damals, als die Patientin starb, an ihrem Ohr
immer wieder das Vaterunser gebetet.

 Mit einem Menschen würdig umzugehen, bedeutet, seine Eigenverantwortlichkeit, Eigenständigkeit, Entscheidungsfähigkeit und damit sein Selbstwertgefühl so lange wie irgend möglich zu respektieren und zu unterstützen. Wir müssen also ihm die Möglichkeit geben oder ihm trotz Schwächung zumuten, dass er für sich aktiv handelt und entscheidet. Das stärkt sein Selbstwertgefühl. Gute Nachrichten und die Tatsache, dass wir ihn richtig informieren, bestärken ihn in dem Gefühl, als wichtiger und vollwertiger Mensch in unserer Gemeinschaft angenommen zu werden.

Wenn wir uns um ihn kümmern, ihn nicht oder nur kurz warten lassen und medizinisch-therapeutische Anordnungen begründen, zeigt ihm dieses Verhalten, dass wir seine Individualität achten und seine Unabhängigkeit möglichst weit bewahren möchten. Er wird sich wesentlich wohler fühlen, als wenn wir ihn warten und im Ungewissen lassen, nicht oder schlecht informieren, befehlen, anordnen und uns nicht um ihn kümmern. Das senkt nämlich sein Selbstwertgefühl, und er wird hilflos, ängstlich und aggressiv oder regressiv, d.h. er zieht sich zurück. Auch das kann eine Ausdrucksweise der Aggression sein!

Das Personal in der Klinik und die Ärzte in der Praxis sind im allgemeinen nicht auf eine Sterbebegleitung vorbereitet. Weder während des Studiums noch in den Krankenhäusern gibt es eine gezielte Ausbildung zum psychologisch richtigen Umgang mit Sterbenden. Das wäre nicht nur für die Patienten und ihre Angehörigen wichtig. Sondern es würde auch für das Personal eine erhebliche Hilfe darstellen, um mit diesen Situationen besser umgehen zu können. Wegen der Ungeübtheit und der eigenen Angst gehen viele Schwestern, Pfle-ger und Ärzte diesen emotional schwierigen Momenten aus dem Weg oder versachlichen sie durch reine Fach- und Medikamentendiskussion, um sich selbst nicht mit ihren Gefühlen auseinandersetzen zu müssen.

Ich erlebe immer wieder, dass Schwestern und andere Menschen, die Kranke betreuen, größte Probleme haben, mit ihren eigenen Gefühlen richtig umzugehen oder darüber verarbeitend zu reden.

 

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