Mein hoffnungsvoller Abschied von Alfred Brendel

Zuerst möchte ich über den Abschied sprechen, dann über die Hoffnung, die ich damit verbinde.

Den Liebhabern der klassischen Musik ist er bekannt, die Klaviermusikkenner verehren ihn als einen der ganz großen Pianisten der letzten hundert Jahre: Alfred Brendel wurde am 5. Januar 1931 in Mähren geboren und gab am 18. Dezember 2008 in Wien sein letztes Konzert, also unmittelbar vor seinem 78. Geburtstag. Er hatte lange bekannt gegeben, wann er aufhören würde mit Konzerten, und so stand das Jahr 2008 unter dem Zeichen seines Abschieds. Am 30. Juli spielte er in Baden-Baden im Festspielhaus noch einen Klavierabend und am 6. Dezember sein zweitletztes Konzert überhaupt – auch in Baden-Baden.

Ich wollte natürlich dabei sein, war er doch ein wichtiger Begleiter und Schöpfer meiner musikalischen Erlebnisse, seit ich als Schüler zum ersten Mal Schumanns Sinfonische Etüden und Schuberts große B-Dur-Sonate hörte und so verblüfft war von diesen virtuosen Werken und seinem mitreißenden Spiel. Da merkte ich mir den Namen des Pianisten, den ich bis dahin noch nicht gehört hatte: Alfred Brendel.

Diese Hörerlebnisse hatten mein Ohr weiter geschärft und meine Wahrnehmung geweckt. Seither weiß ich: Unsere Wahrnehmung verändert unsere Wahrnehmung. Und man hört besser, was man weiß.

Ich kann mich gut an diesen „Aha-Effekt“ erinnern, den ich im Laufe meiner intensiven Beschäftigung noch mehrfach später bei Brendel und anderen Werken und Künstlern erlebt habe: An diesen leuchtenden Moment, in dem plötzlich etwas klar wird und ich den Eindruck erlebte, jetzt eine Musik besser zu verstehen, einen Einblick in ein Werk zu bekommen und die Idee zu begreifen, die in einer Interpretation steckt.

Das letzte wirklich wichtige Aha-Erlebnis vor Brendels Dezember-Konzert in Baden-Baden hatte ich bei seinem Klavierabend im Juli im Festspielhaus. Ich habe seit meiner Kindheit sehr häufig Konzerte besucht und glücklicherweise fast alle großen Pianisten der letzten vierzig Jahre live gehört, auch Wilhelm Kempff, Friedrich Gulda, Elly Ney, Artur Rubinstein sogar drei Mal, Vladimir Horowitz in Hamburg, Claudio Arrau, Arturo Benedetti Michelangeli, Svjatoslav Richter und viele andere und natürlich auch Brendel oft. Trotzdem hatte ich an diesem Juli-Abend zum ersten Mal in meinem Leben bei Brendel den Eindruck, dass ein Pianist an einem Abend Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Bach, Liszt auf verschiedenen Flügeln spielt, die alle eine spezifische Stimmung aufweisen und unterschiedliche Klangfarben. Das war faszinierend!

Es gab einen Haydn-Klang, einen Mozart-Klang, und Schubert hatte ganz andere Farben als Beethoven, Bach und Liszt. Nicht nur einzelne Anschläge bewirkten unterschiedliche Schattierungen, nein! Das ganze Klangspektrum des Flügels war grundlegend anders! Als hätte er neue Saiten, andere Hämmer und ein weiteres Pedal. Ich habe an diesem Abend völlig verschiedene Instrumente gehört, obwohl ich weiß, dass nur ein einziger und immer derselbe Flügel dort stand.

Und so wurden die Haydn-Variationen „Un piccolo divertimento“, Mozarts Klaviersonate F-Dur KV 533, Beethovens Klaviersonate „Quasi una fantasia“ op. 27 Nr. 1 und Schuberts große B-Dur Sonate D 960 zum denkwürdigen Erlebnis. Als Dreingaben erklangen Schuberts Impromptu in Ges-Dur und von Liszt „Au Lac du Wallenstadt“ aus den „Pèlerinage“ Band 1.

Als Höhepunkt erlebte ich aber die dritte Dreingabe, das Andante aus Bachs Italienischem Konzert: Die Ausgeglichenheit der Anschläge, die differenzierten Abstufungen der einzelnen Stimmen, die atmende Ruhe, die andächtig singende Melodie und die Feinheit der Verzierungen sind kaum einem anderen Pianisten in solch vollendeter Weise möglich. Dieses Spiel zieht den Zuhörer in den Bann.

Es ist trotz oder gerade wegen des langsamen Tempos sehr innig und virtuos und beeinflusst den Zuhörer so unmittelbar, dass mein Atem sich nach der Melodie-Phrasierung richtete.

Wir waren natürlich gespannt auf den vorletzten Abend Brendels in Baden-Baden am Nikolaustag 2008. Ich hatte noch ein befreundetes Ehepaar – auch große Klassikmusik- und Brendel-Verehrer – und den Leitenden Arzt unserer Klinik darauf aufmerksam gemacht. Wir wollten uns ein Kulturwochenende in Baden-Baden gönnen mit Musik und dem Besuch des Frieder Burda Museums.
Das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg spielte unter Hans Zender zuerst die Ouvertüre „Meeresstille und glückliche Fahrt“ von Mendelssohn-Bartholdy. Hans Zender dirigierte mit Unterarmgips, denn er hatte sich vier Tage zuvor eine Fraktur zugezogen.

Nach der Ouvertüre betrat Brendel in seiner gewohnten Bescheidenheit und leicht vornüber gebeugt die Bühne, und bereits bei den ersten Takten des „Jeunehomme“-Klavierkonzertes Es-Dur KV 271 senkte sich eine Ruhe über die Zuhörer, die nicht nur davon herrührte, dass alle still waren, sondern es war diese nachdenkliche und vollständige Hingabe Brendels, die eine feierliche Atmosphäre schuf.

Wir durften das phänomenale Mozart-Spiel Brendels erleben: Nicht nur die lebensfrohe Leichtigkeit der Läufe leuchtete. Wir konnten auch Mozarts Humor fühlen und besonders in dem langsamen Satz seine traurige Seite hören.

Außergewöhnlich eindrucksvoll empfand ich wieder, wie Brendel die Pausen zelebrierte. Die Melodie spielte er so intensiv und bezwingend, dass am Ende einer Phrase und des Satzes das Anhalten des Atems spürbar war, als hätte der ganze Satz nur auf diesen Moment der totalen Stille hingezielt, auf diese Sekunden der absoluten Aufmerksamkeit und zum Höhepunkt hin konzentrierten inneren Spannung, in denen das Wesentliche geschieht. Hier zeigte Brendel seine einzigartige Kunst: Die Zuhörer auf die Stille hinzuführen!

Der herrliche Satz voll wunderbarer melodischer Einfälle und brillanter Spielkunst schien nur dazu komponiert, dass wir Zuhörer dieses Juwel an absoluter Ruhe und innigster Intensität danach (!) empfinden dürfen. Er vermittelte das einzigartige Erlebnis, das Eigentliche im Innersten zu hören, wenn es still ist. Und die größte Spannung körperlich zu fühlen, wenn er vollständige Ruhe ausgebreitet hat.

Wie herrlich erleichternd löste sich die Atemlosigkeit in der neuen und beschwingten Melodie des letzten Mozart-Satzes! Und wie berstend brach der Applaus los am Ende des Konzertes! Die Ovationen des stehenden Publikums brandeten durch den Saal und zwangen Brendel immer wieder auf die Bühne. Natürlich wollten wir alle noch eine Zugabe hören!

Mit einer entschlossenen Bewegung setzte sich Brendel schließlich an den Flügel, und schon saßen wir Zuhörer wieder still, wissen wir alle doch, wie sehr Brendel sich durch das leiseste Husten gestört fühlt.

Als er die ersten tiefen und dunklen Töne anschlug, stockte mir dem Atem. Ich erkannte sofort die grandiose Busoni-Bearbeitung des Bach-Choralvorspiels „Nun komm´, der Heiden Heiland“. Wir durften auch heute wieder seine unnachahmliche Kunst genießen, mit der Brendel Bach zelebriert!

Hier erlebten wir ergreifend intime Intensität, demütig machende Schlichtheit, verbunden mit herrlichstem Gesang der Melodie, einfühlsame Phrasierung, die schwierige Technik des langsamen Tempos und äußerste Feinheit bei der Klangunterscheidung der einzelnen Melodielinien. Und ich fühlte wohlig eine unendliche Ruhe.

Dies alles schenkte mir grandiose Minuten der Vollkommenheit und des Glücks. Ich werde sie als strahlenden und für immer unvergesslichen Höhepunkt des Abends im Gedächtnis behalten. Allein für dieses Choralvorspiel hätte sich für mich die Fahrt nach Baden-Baden gelohnt.

Ich fühlte mich erinnert an die legendäre Aufnahme von Dinu Lipattis Bach-Choralvorspiel „Jesu, bleibet meine Freude“ in seinem letzten Konzert im September 1950 in Besançon, wo er schwer von der Leukämie gezeichnet und zeitweise in Trance wenige Wochen vor seinem Tod spielte. Mir fielen auch die beiden schlichten Schumann-Stücke „Warum?“ und „Des Abends“ ein, mit denen sich Wilhelm Backhaus 1969 in Ossiach nach einem Schwächeanfall endgültig von seinem Publikum verabschiedete.

Und so sprach mir nach der Pause die Laudatio des Schriftstellers Peter Hamm sehr aus dem Herzen, als er die Aufgabe wahrnahm, Brendel mit dem Herbert von Karajan-Musikpreis 2008 für sein Lebenswerk zu ehren. Diese Rede war nicht nur ein ausführliches Bekenntnis zu einer jahrzehntelang gewachsenen Männerfreundschaft, sondern auch eine brillant formulierte Bilanz von Brendels Schaffen, ein Bericht über wichtige Ereignisse und eine liebevolle und von hoher Verehrung getragene Würdigung seiner Persönlichkeit.

Neben vielen guten Gedanken blieb mir charakteristisch die Überlegung im Gedächtnis, im Synonym-Lexikon das Wort nachdenken durch brendeln zu ersetzen. Das trifft die Art Brendels wunderbar, ein Stück zu erarbeiten und vorzutragen.

Diese Laudatio hat mich angerührt, weil sie so authentisch, herzlich und von hervorragendem Sachverstand und glaubhaft geschilderten persönlichen Erlebnissen durchdrungen war. Sie beweist auch Liebe zur Musik und einen hervorragenden Schreibstil.

Ich bin glücklich, dass der Intendant des Festspielhauses, Herr Mölich-Zebhauser, mir auf meine Bitte hin die Laudatio wenige Tage später geschickt hat und ich diesen Text bei meinen musikalischen Schätzen zu Hause habe. Er ist mir so wichtig und wertvoll wie Carl Jakob Burckhardts Aufsatz über Dinu Lipatti.

Der Vollständigkeit halber will ich erwähnen, dass Hans Zender danach noch Schuberts 4. Sinfonie „Die Tragische“ dirigierte. Besonders der letzte Satz wurde leidenschaftlich packend gespielt.

Dieser Abend war ein musikhistorisches Ereignis, auch wenn der allerletzte Klavierabend Brendels (übrigens mit dem gleichen Programm wie in Baden-Baden) erst zwei Wochen später in Wien stattfand.

Warum habe ich meinen Bericht mit „hoffnungsvoller Abschied“ überschrieben? Das hat zwei Gründe.

Erstens wird Alfred Brendel weiterhin seine heiteren und oft skurrilen Gedichte und Erzählungen öffentlich lesen, Vorträge halten und mit seinem Sohn Adrian, einem sehr guten Cellist, Abende als Sprecher gestalten, zum Beispiel im Juni 2009 in Baden-Baden. Er bleibt uns also erhalten, und wir können eine ganz andere künstlerische Seite an ihm bevorzugt erleben.

Und zweitens hat Alfred Brendel im vergangenen Jahr bekannt gegeben, wen er als musikalischer Pate unterstützt und für das große Talent der Klavierzukunft hält.

Dieser junge Mann ist Sohn einer aus Taiwan stammenden Investmentbankerin und eines amerikanischen Vaters. Als Fünfjähriger begann er sein offizielles Studium der Komposition und des Klavierspiels. Mit neun Jahren wurde er als jüngster Student in der Universitätsgeschichte an der Chapman University of California für Musik und Wissenschaften eingeschrieben und komponierte damals schon seine erste Sinfonie Celebration, die vom Pacific Symphony Orchester uraufgeführt wurde. Neben der Universität schloss er in den folgenden Jahren noch die High School ab.

In www.youtube.de kann man ihn als Achtjährigen das Bach-Klavierkonzert in d-Moll bei seinem Klavierdebut perfekt spielen sehen und hören und mehrere Videos von fremden Stücken und eigenen Kompositionen bewundern, die er seither aufführte. Inzwischen konzertierte er schon mit großen Orchestern und Dirigenten und hat sein Repertoire auf einen quantitativen und qualitativen Umfang erweitert, der jedem klassischen Berufspianisten gut ansteht. Er beherrscht jetzt schon neben den wichtigen Klavierkonzerten und vielen einzelnen Klavierwerken der großen Komponisten alle Mozart-Klaviersonaten, die meisten Beethoven-Klaviersonaten und das Wohltemperierte Klavier Teil 1 von Bach.

Sein kompositorisches Werk umfasst Klaviersonaten, viele Werke für Violine und andere Instrumente und die Sinfonie Celebration. Ihm wurde neben mehreren Klavierwettbewerbspreisen zum Beispiel der „Morton Gould Preis für junge Komponisten“ für fünf aufeinander folgende Jahre verliehen.

Sein Musikstudium führte ihn auch an das Curtis Institute of Music, und er schloss es an der Royal Academy of Music in London ab, sein Mathematik-Staatsexamen absolvierte er am Imperial College of London.

Dieses Ausnahmetalent studiert zurzeit bei Alfred Brendel, der sagt:

„Es ist mir ein Vergnügen, diesen brillant begabten und viel versprechenden Musiker wärmstens zu empfehlen. Bereits jetzt sind seine musikalische Einsicht und Konzentration, sein Gehör für den Klang und seine Fingerfertigkeit und Sensitivität in jeder Hinsicht bemerkenswert, und sein Gedächtnis ist wirklich erstaunlich. Er verkörpert ein Verständnis für die großen Klavierwerke, das Frische und Subtilität, Gefühl und Intellekt verbindet und weit jenseits seines Alters liegt. Außerdem ist er ein begabter Komponist, ein vorzüglicher Mathematiker und eine erfreulich bescheidene Persönlichkeit.

Er ist jetzt so weit, in eine Karriere größeren Ausmaßes einzusteigen, die ihn auf die absolute Spitze seiner Berufung führen kann.

Er ist die größte musikalische Begabung, der ich in meinem ganzen Leben begegnet bin.“

Dieser ganz besondere Musiker wurde am 5. März 1992 in Kalifornien geboren, er ist also jetzt siebzehn Jahre alt!

Er wird am 4. Juni 2009 in Alfred Brendels Anwesenheit einen Klavierabend in Baden-Baden geben. Es erscheint mir wie eine Weihe, bei der Alfred Brendel den Meister-Stab an seinen Nachfolger übergibt.

Die musikalische Hoffnung, die ich mit Alfred Brendels Abschied verbinde, hat einen Namen, den wir uns merken sollten: Kit Armstrong.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Diesen Aufsatz habe ich beim BDSÄ-Kongress 2009 in Schwerin in der Lesung „Musik“ vorgetragen

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