Ohne den Tod hätte es wohl kaum Dichter auf der Erde gegeben.
Thomas Mann (1875-1955), deutscher Schriftsteller, 1929 Nobelpreis für Literatur
In mir gibt es keinen Gedanken, den nicht der Tod mit seinem Meißel geformt hätte.
Michelangelo Buonarroti (1475-1564), italienischer Dichter, Baumeister, Bildhauer und Maler
26.1 Der Tod als Tabu
In unserer sonst so aufgeklärt wirkenden Gesellschaft ist der Tod ein Tabuthema und wird überwiegend nur hinter vorgehaltener Hand besprochen oder mit negativen Werten und Ängsten in Verbindung gebracht. Wir verhalten uns dem Tod und dem Sterbevorgang gegenüber viel unnatürlicher als zum Beispiel Naturvölker und Kinder. Und in der westlichen Welt ist es weitgehend unverstanden, warum die Schwarzen in Amerika Freudenfeste feiern und den Leichnam eines Familienmitglieds mit einem Festzug und beschwingten Melodien zu Grabe tragen. Hier mischt sich Trauer um den Verlust des geliebten Menschen mit der freudevollen Gewissheit, dass es für den Verstorbenen ein Freudentag ist, jetzt im Jenseits im ewigen und vollendeten Frieden sein zu dürfen.
Wir erkennen das Tabu auch an der Tatsache, dass in unserer Umgangssprache selten das Wort sterben benützt wird. In der Traueranzeige steht: „Er ist sanft entschlafen, er ist abberufen worden, er hat seinen letzten Weg angetreten, er wurde heim gerufen, er hat die ewige Ruhe.“
In dem Alltagsgespräch heißt es in drastischen Wortbildern wesentlich weniger taktvoll: „Er hat den Schirm zugemacht, er ist über den Jordan gegangen, er schaut die Radieschen von unten an, er hat die Augen zugemacht, er ist in die Kiste gesprungen, er hat ins Gras gebissen, man hat ihm das Licht ausgeblasen, er ist jetzt in den ewigen Jagdgründen, er hat den Löffel weggelegt.“
Beobachten Sie bitte an sich selbst, wie oft Sie über einen Friedhof gehen, wenn Sie nur einen Spaziergang machen wollen. Empfinden Sie da tief innen eine Abwehrhaltung? Eigentlich ist es doch sehr schön, durch einen gepflegten Garten mit schönen Bäumen und ganz verschiedenen Blumenbeeten zu gehen, besinnlich zu sein und die Sonne zu genießen. Aber nein, da gibt es bei sehr vielen Menschen unangenehme Erinnerungen und noch unangenehmere Gefühle. Dann doch lieber in den Freizeitpark, ins Schwimmbad, ins Stadion, oder vor den Fernseher, wo es laut ist und das Leben tobt! Das lenkt so schön ab und gaukelt eine heile Welt vor.
Für unsere Gesellschaft ist der Tod mit Angst beladen, weil wir bis vor einigen Jahren noch nicht anerkannt hatten, was in vielen Kulturen längst zum allgemeinen Gedankengut gehört. Außerdem haben die christlichen Kirchen das Jenseits seit vielen Jahrhunderten auch mit den Begriffen Hölle, Fegefeuer und Strafe für diesseitige Vergehen in Verbindung gebracht und damit die meisten Menschen sehr verschreckt, in Schuld und Gewissenskonflikte gebracht und in peinigender Abhängigkeit gehalten.
Die neuesten Forschungsergebnisse zeigen, dass solche Horrorbilder nicht mehr aufrecht zu erhalten sind. Sie können nur noch dazu dienen, Gutgläubige ohnmächtig und unterwürfig und unselbständig zu halten, um hinter der Forderung zu religiösem Gehorsam und dem Heilsversprechen Machtinteressen zu verstecken.
Hölle findet hier auf dieser Erde statt, wenn wir sie uns selbst machen oder machen lassen. Das sehen wir jeden Tag in den Nachrichten und erleben es in unserem Umfeld, wenn die „Bestie Mensch“ zuschlägt. Wer die neuen Erkenntnisse der Forschung mit Sterbenden verinnerlicht hat, kann keine Angst mehr vor dem Sterben und schon gar nicht vor dem Tod haben. Vorausgesetzt, man lässt den Menschen würdig sterben.
Wir reden auch deshalb so ungern über den Tod, weil wir schlecht damit umgehen können und nicht wissen, was wir Positives oder Tröstliches über das Sterben und den Tod sagen könnten. Denn wir sehen im Tod einen Verlust und ein Zeichen unserer Unfähigkeit, ihn wirklich zu beeinflussen. Wir kämpfen mit allen Mitteln gegen den Tod und wissen doch, dass wir letztlich den Kampf immer verlieren.
Die Psychotherapeuten sprechen hier von einer neurosenträchtigen Verhaltensweise, denn wir handeln wie unter einem fixierten Gedanken, den wir nicht ablegen können, obwohl wir genau wissen, dass wir am Ende keine Chance auf einen Sieg in diesem Kampf haben.
26.2 Der Tod als Teil eines natürlichen Zyklus
Des Menschen Seele gleicht dem Wasser. Vom Himmel kommt es, zum Himmel steigt es, und wieder nieder zur Erde muss es, ewig wechselnd.
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), deutscher Dichter
Da wir wissen, dass jedes Leben auf den Tod hinzielt so wie eine Schwangerschaft unaufhaltsam auf eine Geburt zustrebt, wäre es besser, das Sterben und den Tod hinzunehmen als einen natürlichen Vorgang, der uns viele Chancen zur Wandlung und zum Wachstum vermittelt. Solch ein Ziel kann nie ein Verlust sein.
In der Natur ist es uns selbstverständlich, dass eine Blüte welkt und eine neue im Frühjahr aufblüht. Die Zyklen der Gestirne, Ebbe und Flut, Tag und Nacht gehören zu den Selbstverständlichkeiten unseres Alltags und Lebens. Nur beim Leben der Menschen gehen wir im Allgemeinen in unserer Kultur davon aus, dass dieses Leben aus dem Nichts kommt und mit der Zeugung beginnt und mit dem klinischen Tod ins Nichts endet. Ein Zyklus wird von vielen Menschen nicht erkannt. Er wird sogar von den meisten scharf abgelehnt.
Ich will hier keine ausführliche Diskussion über die Reinkarnation führen. Nur zwei Gedanken will ich erwähnen und Sie damit zum Nachdenken anregen. Wenn es keine Reinkarnation, also keinen Zyklus der Seelenwanderung gibt, ist dies die einzige Ausnahme im Universum. Denn das Prinzip der Verwandlung kennen wir im gesamten Weltall. Nichts kommt aus dem Nichts, nichts geht ins Nichts. Alles hat seinen Wandel und seinen Zyklus. Halten Sie es für wahrscheinlich, dass es bei einem sonst universell geltenden Gesetz nur diese eine Ausnahme gibt? Das würde bedeuten, dass es kein universell geltendes Gesetz ist.
Und der zweite Gedanke: Weder die evangelische noch die katholische Kirche haben eine offizielle einheitliche Lehrmeinung zum Thema der Reinkarnation! Die Auferstehungslehre und die Reinkarnationslehre werden in der evangelischen Theologie im Widerspruch zueinander gesetzt, wo sie sich doch so gut ergänzen könnten oder tatsächlich ergänzen. Die anthroposophische Theologie sieht die beiden Begriffe als Ergänzung.
In der evangelischen Kirche ist es jedem Pfarrer überlassen, wie er mit dieser Frage umgeht, weil er nach evangelischer Lehrmeinung in letzter Konsequenz seinem Gewissen verpflichtet ist und nicht einer Lehrmeinung. In der katholischen Kirche gilt der neue Katechismus von 1993, in dem festgelegt ist, das bei Zweifelsfällen zwischen eigenem Gewissen und kirchlicher Lehrmeinung die Kirche Vorrang hat. Das ist ja auch ein wesentlicher Kritikpunkt der modernen Katholiken an ihrer Kirche und einer der Gründe für die wachsenden Reformbestrebungen innerhalb der Gemeinden.
Für die katholische Kirche ist bekannt, dass Papst Johannes Paul II. mehrere Kommissionen eingesetzt hat, um der Frage, ob es nach katholischer Meinung eine Reinkarnation gibt oder nicht, nachzugehen und eine klare Stellungnahme zu finden. Außerdem hält sich hartnäckig die Meinung, dass die entscheidenden Stellen zum Beweis der Reinkarnation in der Bibel bereits im Konzil zu Konstantinopel 869 n. Chr. aus der Bibel entfernt wurden. Sie liegen sehr wahrscheinlich unter Verschluss in den Archiven des Vatikan.
Wenn die katholische Kirche zu der Meinung kommen würde, dass es eine Reinkarnation gibt, würde das ganze Denkgebäude von Himmel und Hölle, ewigem Frieden für die Guten und Fegefeuer für die Bösen eine schlagartige und grundlegende Wandlung erfah-ren. Dann könnte das Fegefeuer eine ganz andere Bedeutung als vorübergehender (!) Reinigungspozess wie in der anthroposophischen Lehre bekommen. Der Mensch hätte dann seine aktive Rolle auch im Jenseits weiter zur Möglichkeit und Verpflichtung seines Schicksals und wäre nicht das passive Opfer übergeordneter Mächte. Das würde die enorm große Macht der katholischen Kirche über ihre Mitglieder drastisch vermindern, weil dann eine Steuerung der Gläubigen mit Schuldgefühlen und der Androhung von ewiger Strafe für Verfehlungen nicht mehr verfängt. Es ist meiner Meinung nach schon aus dieser Überlegung heraus ausgeschlossen, dass die katholische Kirche sich je zu solch einer Lehrmeinung entschließen wird.
Eines ist sicher: Es ist unabhängig von unserem Glauben, ob es eine Reinkarnation gibt oder nicht. Es liegt an jedem Einzelnen von uns, ob er die „Beweise“ der jeweils anderen „Partei“ als Beweise anerkennt oder nicht.
Im Glauben gibt es keine Beweise im naturwissenschaftlichen Sinn. Deshalb ist es unnütz, darüber zu streiten. Aber genau diese Tatsache gibt den Fundamentalisten und Fanatikern Wasser auf ihre Mühlen. Wenn es so eindeutig klar wäre – also nur eine einzige Deutung zulassen würde!-, was in der Bibel steht, würden sich nicht so viele Kirchen mit ganz verschiedenen Auslegungen darauf berufen.
Wir können nur hoffen, dass unsere Forschung Möglichkeiten findet, dieses Welträtsel so weit wie möglich zu klären.
Klar ist, dass durch den tabuisierenden Umgang mit dem Tod die Chancen für die Annahme des Todes und damit für die Reifung im Sterben verkleinert werden.
Copyright Dr. Dietrich Weller
Der Artikel steht in meinem Buch „Wenn das Licht naht“