Ich habe Herrn Dr. jur. Bruno Pfeifer vor 7 Jahren kennengelernt, als ich ihn in der Neurologischen Tagesklinik der Kliniken Schmieder Stuttgart bei seiner Reha begleitet habe. Seither stehen wir in Kontakt miteinander, und er hat mich immer wieder mit E-Mails, Fotos und Videoclips von seinen Erfolgen auf dem Laufenden gehalten. Als ich 2009 völlig verblüfft sah, welche Erfolge er beim Skifahren gemacht hatte, lud ich ihn ein, trotz seiner Aphasie in der Schlaganfall-Selbsthilfegruppe der Kliniken Schmieder Stuttgart-Gerlingen einen Vortrag zu halten. Das war ein hervorragender, überzeugender und viel Mut machender Multimedia-Vortrag über erfolgreiche Lebenskunst in extrem schwierigen Krankheitssituationen.
Danach hatte ich die Idee, mit ihm ein Buch über seine Geschichte zu schreiben. Da er wegen seiner Aphasie nicht mehr selbst flüssig schreiben und lesen kann, aber sehr gut versteht, schlug ich vor, dass ich seine Geschichte in Ich-Form erzähle.
Der Verleger schlug vor, eine barrierefreie DVD für den PC zu gestalten: Ein Buch, das man am PC lesen und hören kann und das neben Text auch Bilder, Videos und Hintergrundinformationen bietet. Dieses Buch ist unseres Wissens das erste Multimedia-Buch im deutschsprachigen Raum über einen Schlaganfall-Patienten.
Sein Freund, früherer Vorgesetzte und Marathon-Partner, sagte: „Jedem, der meint, er habe Probleme, empfehle ich, einen Abend mit dir zu verbringen. Du bist ein Lebenselixir! Wir alle können von dir lernen!“
Die medizinische Geschichte von Dr. jur. Bruno Pfeifer
Die persönliche Situation, in der Pfeifer den Schlaganfall erlitten hat, sollten Sie kennen. BP ist in Fellbach bei Stuttgart aufgewachsen. Da die Mutter Französin ist und der Vater Deutscher, war und ist Französisch bis heute die Familien-sprache, also auch die erste Sprache, mit der Pfeifer aufwuchs. Erst im Kindergarten kam Deutsch dazu. In der Schule stellte sich heraus, dass Pfeifer eine schwere Lese-Rechtschreibschwäche hatte. Deshalb erhielt er nur eine Empfehlung für die Hauptschule. Die Eltern ließen ihn testen und brachten ihn in die Realschule. Dort lernt er auch Englisch. Er machte so gute Fortschritte, dass er nach kurzer Zeit in das Gymnasium wechseln konnte. Als Französisch in der Schule die 2. Fremdsprache wurde, lernte er zu Hause mit seinem Vater Latein, so dass er schließlich in die Lateinklasse wechseln durfte. Im Abitur war er Klassenbester mit einem Durchschnitt von 1,3.
Während des Jurastudiums verbrachte er ein Semester in Mailand, lernte dort seine spätere Frau kennen, eine italienische Architektin, und sprach bald perfekt Italienisch. Er promovierte über italienisches Fernsehrecht und wurde nach erfolgreichem 2. Staatsexamen in eine renommierte Stuttgarter Kanzlei aufgenommen. Er sprach vor dem Schlaganfall fließend Deutsch, Französisch, Englisch und Italienisch. Pfeifer war ein begeisterter Sporttaucher, Skifahrer und Marathonläufer.
Am 17. Februar 2003 spürte er nach einer anstrengenden und sehr schönen Skiabfahrt in Lech / Vorarlberg beim Nach-Hause-Gehen leichten Schwindel und Kopfdruck. Später im Appartement bemerkte er nicht, wie beim Betten-Richten sein rechter Arm gefühllos in einer Bettlade eingeklemmt war, aus der das Bettzeug holen wollte. Auch die Sprache funktionierte nicht mehr richtig, nur noch einzelne Wörter konnte er sagen.
Der Patient wurde notfallmäßig in das Krankhaus nach Feldkirch gebracht. Dort kam er fast symptomfrei an, verschlechterte sich aber in wenigen Stunden dramatisch. Die Diagnose war klar: Eine Dissektion der Arteria carotis interna links hatte zu einem vollständigen Mediaterritorialinfarkt links geführt und damit zu einer sensomotorischen Hemiplegie rechts und einer globalen Aphasie.
Die Schädel-CTs zeigte ein malignes Hirnödem. Pfeifer bekam einen generalisierten Krampfanfall. Die Hemikraniektomie (Entfernung der halben Schädeldecke) wurde noch in der Nacht vorgenommen. In den folgenden Tagen wurden wegen Blutungen noch zwei Operationen nötig.
Am 27.02. wurde er nach Stuttgart ins Bürgerhospital verlegt und am 10. März zur Rehabilitation in die Kliniken Schmieder. Bei einem kurzen Aufenthalt im Katharinenhospital Stuttgart später wurde die linke Schädeldecke wieder neu gestaltet, anschließend zwang eine Hirnblutung zur erneuten Operation.
Zu diesem Zeitpunkt war seine Tochter gerade ein Jahr alt und seine Frau mit dem zweiten Kind hochschwanger. Am 10. Mai kam der Sohn zur Welt.
Nach der stationären Rehaphase begann die ambulante Reha im NRZ in Stuttgart. Dort war es der Ehrgeiz des Patienten, bald die 2 km Heimweg zu Fuß zu gehen. Anfangs braucht er dazu eine Stunde.
Die enormen Spannungen zu Hause waren vorprogrammiert. Ein sprachloser und schwer bewegungsbehinderter und belastbarkeitsgeminderter Mann und ein Frau, die zwei kleine Kinder zu versorgen hatte. Eine verbale Basis gab es nur angedeutet, ein konfliktorientiertes Gespräch war völlig unmöglich. Trotz Hilfe von beiden Familien kam es schließlich zur Trennung.
Pfeifers bester Freund sagte: „Da habe ich begriffen, dass du alles verloren hast, was einem Mann wertvoll ist: Die Frau, die Kinder, die Gesundheit und den Beruf.“
In der Physiotherapie musste Pfeifer lernen, beim Transfer in den Rollstuhl mitzuhelfen, Monate später konnte er am Hirtenstock gehen. Heute geht er ohne Hilfe. Der rechte Arm blieb überwiegend funktionslos und spastisch. Dazu kam erschwerend die Gefühllosigkeit in der rechten Körperseite.
In der Ergotherapie schaffte er den Alltag mit einer Hand zu bewältigen: essen, an- und ausziehen, sich auf der Toilette und in der Dusche selbst zu versorgen, In der Zwischenzeit ist er perfekt und flink am PC mit seiner linken Hand. Er fotografiert, filmt, schreibt inzwischen links und ist unabhängig bei seiner Alltagsbewältigung.
Besonders schwierig war die Bewältigung der Aphasie: Pfeifer musste die Buchstaben einzeln wieder begreifen, ihre Bedeutung und wie man ein Wort zusammensetzt. Das Vokabular war verschwunden. Ehrgeizig wie er ist, wollte er natürlich gleichzeitig alle seine Sprachen üben. Und jetzt klappte wie bei einer schweren Aphasie nicht einmal mehr ein zuverlässiges JA oder NEIN. Auch Zeichensprache funktioniert bei Aphasikern oft nicht. Pfeifer akzeptierte schließlich, Zweiwortsätze zu trainieren mit zwei Inhaltswörtern.
Die normale Grammatik war lange nicht mehr erreichbar für diesen sprachgewandten Mann, und er ärgerte sich oft über seine sprachliche Unbeholfenheit. Inzwischen kann er alles ausdrücken, auch wenn er manchmal nach Wörtern suchen muss, Schreibfehler macht und die Grammatik nicht stimmt. Aber das Wichtigste ist: Er vermittelt seine Botschaft! Und er bezaubert alle so mit seinem Charme, dass jeder Gesprächspartner ihm zuhört, bis er die Botschaft begriffen hat. Sein Sprachverständnis ist viel besser als der aktive Wortschatz. Und sein Hörverständnis ist viel besser als sein Lese-Sinnverständnis. Das liegt daran, dass die beiden Zentren im Gehirn unterschiedlich stark geschädigt sind.
Die epileptischen Anfälle komplizierten in den ersten Jahren den Verlauf erheblich. Erst viel später waren sie so gut behandelt, dass ein neurologischer Gutachter die Fahrtüchtigkeit in einem umgerüsteten Auto attestierte.
Wenige Wochen später fuhr Pfeifer allein in drei Tagen mit dem Auto nach Granada in Südspanien. Er verständigte sich mit Händen und Füßen und hatte eine herrliche Reise. Und er ist regelmäßig auch auf längeren Strecken z. B. in Frankreich unterwegs, wo er intensive Sprachtherapie mit Besuchen bei Ver-wandten und mit Fototouren durch Kathedralen und Kirchen verbindet.
Sehr schwer fiel ihm die Erkenntnis, nicht mehr als Rechtsanwalt arbeiten zu können. Heute ist er Rentner.
Trotz seiner Halbseitenlähmung und fehlenden Berührungsempfindung und Tiefensensibilität auf der ganzen rechten Körperseite hat er in einer französischen Behinderten-Skischule wieder gelernt, Ski zu fahren. Das halte ich für eine grandiose Leistung. Wie kann man gehen und gar Ski fahren, wenn man nicht einmal den Stand und die unterschiedlichen Druckgefühle der Fußsohle beim Abrollen und die Gewichtsverlagerung spürt? Für so differenzierte Bewegungsänderungen bei Bodenwellen und Kurven ist es unbedingt wichtig, dass die Berührungsempfindung und Tiefensensibilität und die dazu gehörenden Muskelreaktionen perfekt funktionieren.
Sein neuestes Ziel entstand am 17. 09.2010. PFeifer sah einen Film über Paul Wittgenstein im Fernsehen, nahm ihn auf, brachte ihn mir am nächsten Tag und sagte: „Jetzt lerne ich Klavier und spiele am 09. November bei der Buchvorstellung vor!“ – Was war passiert? – Paul Wittgenstein war ein berühmter Konzertpianist, der im 1. Weltkrieg durch eine Schussverletzung seinen rechten Arm verlor und als Pianist weiter konzertieren wollte. Er beauftragte alle damals berühmten Komponisten, für ihn Werke für die linke Hand zu komponieren.
Bei unserem nächsten Treffen ein paar Tage später spielte er mir eine Aufnahme vor, die er bei seinem ersten(!) Klavierversuch mit einer Bekannten am Klavier gemacht hatte. Sie hatte mit ihm die Filmmelodie aus „Love Story“ eingeübt. Er spielte die linke und sie die rechte Hand.
Pfeifer bat mich, mit ihm bei der Buchvorstellung zu spielen. Er hatte in den letzten sieben(!) Wochen fleißig geübt. Und so spielten wir zwei sehr berühmte kurze Musikstücke in einer Version für zwei linke Hände!
Pfeifer hatte bei der Bewältigung seines Schicksals die drei wichtigsten Bedingungen für Erfolg auf seiner Seite:
- Er hatte in frühen Jahren schon erfahren, dass er selbst durch eigene Fähigkeiten in der Lage ist, problematische Situationen und Herausforderungen hervorragend zu meistern. Er kannte also seine für den Erfolg nötigen Ressourcen, als er aus dem Koma aufwachte, und er wusste, dass sie funktionieren.
- Er wird von seiner engsten sozialen Umgebung in seinem Bestreben intensiv unterstützt.
- Er konnte sich nach der Akutversorgung weitgehend aussuchen, bei wem er Therapie macht und trainieren will.
- Dazu kam noch ein vierter sehr wichtiger Punkt, den er nicht beeinflussen konnte: Der Schlaganfall hat sein Antriebszentrum im Frontalhirn nicht beeinträchtigt. BP kann seinen Willen und seine Intelligenz normal einsetzen und steuern.
Ein Freund von Pfeifer, auch ein junger Schlaganfallpatient, Informatikstudent und Aphasiker sagte:
„Bruno hat eine brillante Krankheitsverarbeitungsstrategie. Er hat einfach akzeptiert, was mit ihm passiert ist, und jetzt versucht er, das Beste daraus zu machen. Dabei nützt er sein Behar-rungsvermögen und seinen absoluten Willen, sein Ziel zu erreichen. Er war ja immer schon ein strebsamer und aktiver Typ. Aber ich glaube, er hat erst nach dem Schlaganfall seinen geistigen Turbo gezündet. Das ist Lebensfreude pur.“
Pfeifer – Weller: Schlaganfall mit 33 – Mein Weg zurück ins aktive Leben. Multimedia-Buch für den PC, Verlagsgesellschaft Weinmann e.K.,
ISBN 978-3-921262-61-0
Copyright Dr. Dietrich Weller
Dieser Bericht ist eine Zusammenfassung des Multimediabuchs und wurde im Hamburger Ärzteblatt 10/2011 veröffentlicht
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