Thomas Bernau betrachtet in der warmen Spätnachmittagssonne aufmerksam den modernen Bau am Frankfurter Mainufer, in dem er bald Geschäftsführer sein wird. Bosse und Hack steht in großen Buchstaben über dem Eingang. Ein führendes Werbeunternehmen. Bosse, der Executive Creative Director, hatte mit Bernau neulich bei dem Kongress in Stuttgart das entscheidende Vorstellungsgespräch geführt, und für heute 17 Uhr haben sie die Vertragsunterzeichnung vereinbart.
„Jetzt wird das gute Leben beginnen“, hofft Bernau, „und ich werde von Stuttgart nach Frankfurt ziehen und mich beruflich und privat neu orientieren.“ Er spürt die Freude auf seine kommenden Erfolge und rückt die Krawatte und das dunkelblaue Jackett zurecht. Dann betritt er selbstsicher seine zukünftige Arbeitsstätte. An der Rezeption wird er freundlich begrüßt: Ja, man habe schon auf ihn gewartet, meint die Dame lächelnd und telefoniert kurz. Zwei Minuten später stellt sich eine adrette jüngere Frau vor – „Guten Tag, Herr Bernau, ich bin Marga Distler. Ich darf Sie nach oben begleiten.“ – und bringt Bernau in die oberste Etage. Frau Distler trägt ein dunkelgraues Kostüm mit weißer Bluse und einem Kragen, der genau die Jacketfarbe hat. Die braunen Haare sind straff nach hinten gekämmt.
Im Aufzug sagt sie: „Herr Bosse hat gerade aus dem Auto angerufen, er verspätet sich etwas. Sie wissen ja, der Stau im Feierabendverkehr! Wir gehen jetzt zuerst in das Büro Ihrer zukünftigen Assistentin. Ich vertrete sie zurzeit, sie kommt erst morgen aus dem Urlaub zurück!“
Sie öffnet die Tür, und Bernau sieht im Vorbeigehen das Namensschild „Franca Sturm, Assistentin der Geschäftsführung“ und erschrickt.
„Möchten Sie gern einen Kaffee oder Tee, Herr Bernau, oder … Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen ja plötzlich ganz blass aus! Bitte setzen Sie sich hier an den Besprechungstisch. Soll ich einen Arzt rufen?“
Bernau schüttelt den Kopf und hält sich an einem Stuhl fest, dann lässt er sich langsam auf den Stuhl sinken. Er spürt den Schweißausbruch, der in kürzester Zeit sein Hemd angefeuchtet hat.
„Nein? Es ist aber auch so schwül heute. Ich werde sofort aus dem Erste-Hilfe-Schrank ein paar Kreislauftropfen holen, die werden Ihnen helfen. Bitte stehen Sie nicht auf! Ich bin gleich wieder da!“
Frau Distler öffnet die Fenster weit und eilt hinaus.
Bernau schließt die Augen. „Nein, nicht wieder Franca!“, fleht er im Stillen. „Ich ertrage sie nicht mehr.“
Er sieht sie vor seinem inneren Auge leibhaftig am Schreibtisch sitzen. Ihre pechschwarzen Haare wippen um den Hals und bilden einen starken Kontrast zu dem leuchtend roten Lippenstiftmund.
Sie grinst hämisch, aus ihren Augen lodert Kampfeslust: Tja, mein Lieber, du entkommst mir nicht! Jetzt wirst du hübsch den Vertrag unterschreiben, und dann werden wir hier wunderbare Zeiten miteinander haben. Ich werde deinen Terminkalender führen und dir eine sehr aufmerksame Assistentin sein, nicht wahr, Liebling!
Bernau bäumt sich innerlich auf, lässt sich aber auf den Dialog ein: Ja, ich will diesen Vertrag haben! Aber ohne dich, Franca! Endlich habe ich mich emotional von dir in Stuttgart gelöst und von deiner Sucht, dich über alles und jedes zu ereifern. Jetzt bin ich sicher nicht mehr bereit, mich wieder in deine Fänge zu begeben. Du hast mich vom siebten Himmel der Leidenschaft und Liebe direkt in die Hölle deiner triebhaften Eifersucht und in einen erbarmungslosen Scheidungskrieg gestürzt. Immer diese sinnlosen Kämpfe um Kleinigkeiten. Ganze Nächte haben wir sinnlos durchdiskutiert und gestritten!
Franca ergänzt in seiner Fantasie: Ja, ich weiß, aber denk mal an die leidenschaftlichen Versöhnungen hinterher! Ach Liebling, das war doch nur mein Temperament!
Bernau wehrt ab: Nein, das war nicht nur dein berstendes Temperament, das war deine Bosheit, die in jeder noch so banalen Gelegenheit einen Grund sieht, einen neuen Eifersuchtsausbruch zu provozieren. Wie ein Vulkan bist du jedes Mal explodiert und hast mich unter einer Lava von Verdächtigungen, Beschuldigungen und Hass begraben. Das werde ich nicht mehr dulden. Ich werde diesen Vertrag unterschreiben und dich bei der nächstbesten Gelegenheit kündigen!
Plötzlich schöpft Bernau Hoffnung: Ja, das ist die Lösung!
Er strafft sich, wischt mit dem Taschentuch den Schweiß von seiner Stirn und will aufstehen.
Da hört er wieder Francas höhnische Stimme: Glaub ja nicht, dass du mich loskriegst!
Bernau überlegt sofort: Sie hat womöglich einen unbefristeten Vertrag und eine sehr gute Beziehung zur Chefetage! Und die letzten beiden Jahre hat sie genutzt, um sich hier eine kleine Festung zu bauen! Nachdem sie alle Bewerbungen gelesen hat, war es ihr sicher ein hinterhältiges Vergnügen, dafür zu sorgen, dass ich hier Geschäftsführer werde. Bosse weiß bestimmt nicht, dass wir verheiratet waren. Sie hat ja ihren Namen behalten!
Bernau sinkt in den Stuhl und überlegt: Soll ich den Vertrag trotzdem unterschreiben? Soll ich mir wirklich noch einmal die Strapazen aufladen mit den ständigen Kämpfen? Schaffe ich es, Franca in ihre Schranken zu weisen? Als Geschäftsführer müsste mir das doch gelingen! Ich könnte ihr Anweisungen geben, die sie befolgen muss. Wenn sie sich querstellt, kann ich sie deshalb entlassen.
Er fasst wieder Mut und richtet sich auf. Aber Franca legt sofort in seinem Kopf nach: Du kennst mich ja, Liebling! Ich weiß, was ich will, und ich weiß, wo ich dich packen kann! Glaub ja nicht, dass du mich unterkriegst!
Das ist zu viel für Bernau. Er weiß, dass er ihr nicht gewachsen ist. Er zuckt zusammen, als Frau Distler herein kommt: „Hier sind die Tropfen. Da wird es Ihnen gleich wieder besser gehen!“
Sie zählt die Tropfen in ein halb volles Wasserglas, Bernau trinkt in kleinen Schlucken, holt tief Luft und sagt: „Frau Distler, es ist mir außerordentlich peinlich, aber ich bitte Sie, Herrn Bosse auszurichten, dass ich den Vertrag nicht unterschreiben kann. Ich ziehe meine Bewerbung zurück. Es gibt einen sehr persönlichen Grund, der mir erst gerade klar geworden ist und über den ich nicht sprechen möchte.“
Bernau nimmt seinen Aktenkoffer, wendet sich zur Tür – „Ich finde allein hinaus, vielen Dank!“ – und verlässt den Raum mit mühsam gebremstem Schritt, am liebsten würde er rennen.
Die nächsten beiden Stunden schlendert er ziellos in einem Park umher, getrieben von seinen Gedanken. Einerseits hadert mit seinem Schicksal und fragt sich, warum er von Franca nicht loskommt. Andererseits ist er heilfroh, Franca gerade noch einmal entronnen zu sein. Gleichzeitig ist er erschüttert und deprimiert, dass er sich hat erneut von ihr in die Flucht schlagen lassen.
Dann fällt ihm plötzlich ein, dass er noch eine Verabredung hat. Er eilt zum Auto zurück und fährt zu seinem Schulfreund Karsten. Bernau hat ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, weil Karsten inzwischen mit seiner Familie in Frankfurt lebt. Er hat Bernau gebeten, nach der Vertragsunterzeichnung zum Abendessen zu kommen und begrüßt ihn herzlich:
„Es ist prima, dass du kommst! Wir haben extra für dich eine liebe Freundin eingeladen.“
Thomas Bernau sieht zuerst eine leuchtend grüne Sommerhose und die weißen Sportschuhe, dann die schlanke Taille und darüber eine weiße Leinenbluse, aus der sich ihm gebräunte Arme entgegenstrecken. Das jugendliche Gesicht der Frau mit winzigen Sommersprossen lacht ihn an. Ihr blonder Pferdeschwanz wippt, als sie auf Bernau zugeht: „Schön, Sie kennenzulernen, Herr Bernau! Ich gratuliere Ihnen!“
Bernau ist verwundert: „Wozu?“
„Zum Vertragsabschluss. Leider konnte ich an der Unterzeichnung nicht teilnehmen, weil ich heute vom Urlaub zurückkam. Ich bin Ihre Assistentin Franca Sturm!“
PS: Diese Geschichte entstand in der Schreibwerkstatt zum Thema „Soll ich oder soll ich nicht?“