Das Rosenkohltrauma
Die Geschichte begann vor 67 Jahren und läuft immer noch. Sie ist aber nicht unendlich, denn sie wird mit mir enden.
Das Besondere an den Samstagen bestand darin, dass mein Vater zum Mittagessen zu Hause war, sonst aß er immer im Krankenhaus. Und an diesem Samstag, von dem ich erzählen will, kam ich vom Spielen nach Hause und war sehr hungrig. Das Essen in der Küche war schon fertig, und eine Mutter musste mich bremsen: „Warte noch ein paar Minuten, Papa kommt gleich, dann essen wir zusammen!“ Ich begrüßte Vater schließlich drängend: „Komm schnell an den Tisch, ich habe Hunger!“
Meine Eltern wollten meine Schwester und mich gut erziehen und überließen es uns, die Portionen auf den Teller zu füllen. Ich häufte schnell eine Rote Wurst und Kartoffeln und Rosenkohl auf den Teller. Da bemerkte ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Vater hat es auch gleich bemerkt und Mutter einen Blick zugeworfen. Aber beide sagten nichts – ganz überlegene Eltern.
Die Wurst war schnell gegessen, ein paar Kartoffelstückchen auch. Jetzt lag das Problem vor mir: Ich mochte keinen Rosenkohl. Aber ich kannte die Regel: Jeder darf sich so viel auf den Teller füllen wie er mag, aber das muss leer gegessen werden.
Ich saß in der Falle.
Aber so überlegen wie meine Eltern war ich natürlich auch. Ich sagte ganz beiläufig: „Ich bin satt. Darf ich wieder spielen gehen?“
„Ja klar“, meinte Vater ganz ruhig, „dann isst du es eben heute Abend!“
An diesem Nachmittag gab es keine Süßigkeiten.
Umso mehr freute ich mich auf das Abendessen. Samstags war das nämlich immer besonders lecker, denn da holte Mutter noch vom Bäcker frische Brezeln.
Auf dem Tisch stand der große Korb mit den noch lauwarmen Brezeln. Wurst und Käse lagen schön drapiert daneben auf einem Teller. Der Tee duftete. Auf meinem Platz stand der halb leer gegessene Teller von heute Nachmittag. Mutter hatte ihn noch einmal aufgewärmt.
Ich stocherte wortlos in dem Rosenkohl herum, aß ein paar kleine Stückchen und bemerkte, wie die Eltern mich wortlos beobachteten.
Mit einem Blick auf den Brotkorb fragte ich: „Sind da auch Brezeln für mich drin?“
„Klar“, sagte Vater ganz freundlich, „iss den Teller leer, dann kannst du Brezeln haben.“
Nach einer kurzen Bedenkpause meinte ich: „Ach nein, ich bin satt!“
„Ja, wenn das so ist, dann darfst du aufstehen und dich schon mal fürs Bett richten!“
Vater hatte offensichtlich viel Verständnis, und ich spürte, dass ich nicht mehr so gute Laune hatte. Da war so ein unangenehm ziehendes Gefühl im Bauch. Aber ich stand auf, zog mich um und ging schließlich zu Bett.
Sonntags war das Frühstück immer etwas Besonderes. Da gab es Brot, das Mutter am Samstag frisch gekauft hatte, und für jeden ein weiches Ei. Und ich liebte damals schon Honig! Darauf freute ich mich und konnte es kaum erwarten, bis die Eltern und meine Schwester endlich am Tisch saßen.
Ich wollte gerade zum Brot greifen, da sagte Mutter: „Ich habe da noch etwas für dich!“, und schob mir den Rosenkohlteller hin. Diesmal kam er direkt aus dem Kühlschrank.
Jetzt war mir klar, dass ich verloren hatte. Aber das konnte ich natürlich nicht zugeben.
Mein Vater erzählte mir Jahre später die Geschichte noch einmal: „Du hattest solch einen Hunger, dass du den Rosenkohl mit einer unglaublichen Wut ruckzuck leergefressen hast – und dann noch zehn Honigbrote hinterher.“
Seither genieße ich jeden Morgen mein Honigbrot. Nur wenn wir mal in einem Hotel frühstücken, weiche ich öfters auf ham and eggs aus, wie ich es während meiner Schulzeit in England regelmäßig bekam. Aber da passt immer noch ein Honigbrot als Abschluss dazu.
Als ich erlebte, welch vorzügliche Köchin Birgit ist, wollte sie mir etwas Gutes tun und bot mir an, doch mal extra für mich ihre Art von Rosenkohl zuzubereiten. Es müsse doch möglich sein, mein altes Rosenkohl-Programm im Kopf zu löschen und ein besseres einzuprägen. Sie gab sich viel Mühe und tischte ein wunderbares Filet mit cremigem Rosenkohl auf. Das Fleisch war sehr zart und exzellent gewürzt. Der Rosenkohl war – naja, – natürlich auch sehr gut zubereitet, das will ich gern zugeben. Der Rosenkohl war für Rosenkohl-Liebhaber sicher eine Delikatesse. Aber es war eben Rosenkohl.
Die Geschichte hat noch eine andere Dimension! Muss man wirklich den Teller immer leer essen?
Dieses Programm hatte ich so tief verinnerlicht, dass ich fast mein ganzes Leben lang immer den Teller leer aß, auch wenn ich längst satt war. Erst viel später konnte ich mich dazu überwinden, mit dem Essen aufzuhören, wenn ich satt war und nicht, wenn der Teller leer war. Ich esse gern, und besonders gern esse ich gut. Aber die kindlichen Prägungen sitzen tief und sind schwierig zu beeinflussen. Heute bin ich froh, dass ich einen Teller mit Essensresten zurückgeben kann.