Die schwierigste Aufgabe
Die fast achtzig Jahre alte Dame kommt mir auf dem Gang entgegen, als ich sie zur Sprechstunde herein bitten möchte. Frau Altenburg trägt einen beigen Pullover und einen braunen Rock, das volle graubraune Lockenhaar ist gut gekämmt. Mit unsicherem, leicht schwankendem Gang sucht sie mit den Händen nach der Wand und dem Türrahmen, dann setzt sie sich langsam auf den Stuhl mir gegenüber am Schreibtisch. Ich weiß, dass man ihr vor zwanzig Jahren das linke Auge nach Melanommetastasen entfernt hat. Jetzt trägt sie eine gute Epithese an der Brille, sodass nur der gut Beobachtende das Kunstauge vom sehenden Auge unterscheiden kann. Aber auch dieses sieht nur vierzig Prozent. Die Sehschwäche und eine Polyneuropathie lassen Frau Altenburg unsicher gehen. Und seit vor einem halben Jahr ein Meningeom entfernt wurde, leidet sie unter Gedächtnisschwäche und einer deutlichen Belastbarkeitsminderung. Sie lebt in einfachen Verhältnissen mit dem neunzehnjährigen Enkel zusammen, für den sie sorgt, und sie soll jetzt im Rahmen einer teilstationären Rehabilitation Hilfe zu mehr Selbständigkeit erhalten.
Nach einer kurzen Begrüßung komme ich zu meinem Hauptthema, das ich mir vorgenommen hatte, mit ihr zu besprechen: „Wir haben vorhin im Team der Therapeuten darüber nachgedacht, dass es gut wäre, eine Haushilfe für Sie zu besorgen, was halten Sie denn davon?“
Sie schüttelt entschieden den Kopf: „Das kann ich nicht annehmen. Ich will alles allein machen können.“
„Glauben Sie, dass Sie es wirklich allein schaffen?“
Sie ganz nachdenklich: „Nein, eigentlich nicht.“
„Warum können Sie denn die Hilfe nicht annehmen?“
Sie seufzt tief: „Weil ich es doch gar nicht verdient habe!“
„Sie haben mir aber doch neulich erzählt, dass sie in Ihrem ganzen Leben immer etwas für andere Menschen getan haben.“
Frau Altenburg nickt: „Ja. Da kann ich nicht nein sagen.“ – „Und wenn es gut geht, können Sie vielleicht noch zehn Jahre leben.“
„Ja, das wäre schön.“ – „Zuerst haben Sie noch Ihren schwer krebskranken Mann gepflegt, bis er starb.“
Das bestätigt sie mit einem Kopfnicken: „Ja, so war´s.“
„Und ich weiß doch von Ihnen, dass Sie nicht nur Ihre Tochter großgezogen haben, sondern auch deren beiden kleinen Kinder, als Ihre Tochter mit 32 Jahren so plötzlich nach drei Herzinfarkten innerhalb von einem Jahr starb. Sie haben es geschafft, obwohl Sie selbst damals Ihr linkes Auge entfernen lassen mussten.“
„Ja, und ich habe die Kinder versorgt, obwohl ich ganz wenig Geld hatte. Das war ja meine Aufgabe.“
„Richtig, und jetzt überlege ich mir, dass die Natur immer einen Ausgleich sucht. Bis jetzt haben Sie immer nur gegeben. Wär´s da nicht an der Zeit, dass Sie auch mal was annehmen, zum Beispiel Hilfe im Haushalt?
Sie lehnt entschieden ab: „Nein, ich darf das nicht!“
Ich lasse nicht locker: „Stellen Sie sich mal vor, da sitzt auf dem Stuhl neben Ihnen eine Frau und erzählt Ihnen eine ganz ähnliche Lebensgeschichte, wie Sie sie erlebt haben. Was würden Sie ihr raten, die Haushaltshilfe anzunehmen oder abzulehnen?
Frau Altenburg reagiert rasch: „Annehmen natürlich!“
„Und warum dürfen Sie selbst die Hilfe dann nicht annehmen?“
Sie schluckt, unterdrückt die Tränen und sagt gepresst: „Weil ich gar nicht existiere!“
„Das macht mich aber sehr betroffen: Ich erinnere mich, dass Ihr erwachsener Enkel, den ich neulich kennen gelernt habe, Sie als eine ganz liebevolle Omi geschildert hat, die auch heute noch immer für ihn da ist. Da haben Sie doch sehr wohl existiert mit Ihrem warmen Herz auf der rechten Fleck, oder nicht?
Sie räumt ein: „Ja, für ihn schon und für den anderen Enkel auch, aber ich habe die Hilfe nicht verdient.“
„Überlegen Sie mal: Wenn Sie in den sechzig Jahren Ihres Lebens als Erwachsene für Ihre Tochter die Mutter waren und für die Enkelkinder auch noch und für den Ehemann gesorgt haben, dann wäre meine Rechnung noch nicht einmal ausgeglichen, wenn Sie in den nächsten zehn Jahren Hilfe annehmen würden.“
Sie denkt nach und lächelt zum erstenmal: „Ja, da haben Sie recht. Aber ich hab doch eine Aufgabe zu erledigen!“
„Welche?“ – „Für meine Enkel zu sorgen.“
Ich entgegne: „Die sind doch jetzt erwachsen, der jüngste ist neunzehn, der ältere ist verheiratet. – Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen sage, dass Sie jetzt die Aufgabe haben, endlich etwas für sich selbst zu tun?“
Sie zuckt zusammen und sagt erschrocken: „Das ist ja die schwierigste Aufgabe, die es gibt!“
Ich lächle sie an: „Haben Sie in den vergangenen Jahren bemerkt, dass Sie zu den vielen großen Aufgaben immer auch die Kraft bekommen haben, diese Aufgaben zu bewältigen?
Sie überlegt: „Ja, das ist richtig. Ich hab es immer geschafft, auch wenn´s sehr schwierig war.“
„Also, wie schätzen Sie dann die Chance ein, dass Sie diese große Aufgabe, etwas für sich zu tun, indem sie Hilfe anzunehmen, auch schaffen werden?“
Sie denkt nach, dann steht sie langsam auf und sagt mit einem Strahlen im Gesicht: „Ja, ich glaube, das schaffe ich auch noch.“
Sie zögert noch einen Moment, dann deutet sie auf die Tür: „Jetzt gehe ich aber mit ganz vollem Herz da raus, ich hab´ verstanden, was Sie mir sagen wollten. Vielen Dank.“
Zwei Tage später kommt sie zu mir und sagt zufrieden lächelnd: „Herr Doktor, ich habe mein Ich wieder gefunden. Ich werde es mit nach Hause nehmen und gut darauf aufpassen.“
Copyright Dr. Dietrich Weller
Diese Geschichte habe ich in meinem Buch Ich versteh Sie! Kommunikation in Praxis, Klinik und Pflege veröffentlicht