Schon als Schüler habe ich gelernt, sofort nachzuschlagen, wenn eine Frage auftauchte, die ich nicht beantworten konnte. Meine Mutter zeigte mir, wie man das macht. Sie hatte immer gute Nachschlagewerke bei der Hand, die sie bis ins hohe Alter fleißig nutzte. Zur Konfirmation bekam ich von meiner Großmutter die zwanzig Bände des großen Brockhaus mit Goldschnitt geschenkt, in dem ich häufig nachschaute, bis die digitale Entwicklung solche Papierwälzer völlig überflüssig machte, weil sie schon beim Erscheinen überholt waren. Trotzdem dachte ich, es sei ein bibliophiles Werk und brachte es inzwischen zu einem Antiquar, weil ich mir sicher war, er könnte es gut verwerten. Er hatte nur einen abschätzigen Blick dafür: „Wenn ich gewusst hätte, dass Sie mir das bringen, hätte ich gleich gesagt, werfen Sie die Bücher weg. Das ist nur noch das Papier wert. Ich werfe es in den Papiermüll!“
Ich erzähle die Geschichte, weil ich damit zeigen will, wie wichtig und wertvoll mir nachgeschlagenes Wissen und die Bücher sind, die es vermitteln. Inzwischen habe ich mir angewöhnt, sofort im iPhone oder am PC nachzuschlagen, wenn ich etwas wissen will, das ich nicht sofort im Gedächtnis parat habe. Auch meine Bücher, die mir Wissen bereithalten, ziehe ich oft zu Rate. Sogar in der Sprechstunde habe ich keine Scheu, seltene Nebenwirkungen, Dosierungen oder Krankheitsbilder in Anwesenheit des Patienten in meinen Suchwerkzeugen aufzurufen. Jeder Patient weiß, dass ich nicht alles wissen kann. Meine Grenzen zu kennen und zuzugeben, ist auch eine wichtige Eigenschaft.
Aber es gibt Situationen, wo das Nachgeschlagene eher schadet, weil die Fülle der Fakten vom Leser nicht eingeordnet werden kann in die Kategorien wichtig oder unwichtig, gefährlich oder ungefährlich, dringend oder nicht dringend. Da zeigt sich dann, dass wir Menschen dazu neigen, aus einer Menge von möglichen Diagnosen mit großer Gewissheit sofort die schlimmste herauszufinden und automatisch auf uns zu beziehen. Das ist nicht nur beim Beipackzettel der Medikamente so, der viele Patienten total verunsichert, weil die Pharmafirma alle denkbar möglichen Nebenwirkungen aufgezählt hat, um ja nicht verklagt zu werden, bzw. sich bei einer Klage auf den Beipackzettel beziehen zu können. Ich habe schon oft gehört: „Herr Doktor, ich habe das Medikament nicht genommen, weil ich den Beipackzettel gelesen habe.“ Das ist wenigstens ehrlich und für mich eine Basis für ein weiteres offenes und vertrauensvolles Gespräch.
Es ist schwierig oder unmöglich, einen Patienten gegen dieses Argument zu überzeugen, das Medikament eben doch regelmäßig wie vorgeschlagen zu nehmen. Eine Prüfungsfrage für mich ist dann: Würde ich das Medikament nehmen, wenn ich an der Stelle des Patienten wäre? –Das relativiert oft meinen Drang, Patienten zu überzeugen. Dabei muss ich mir immer bewusst sein, dass ein überredeter Patient viel anfälliger für Unzuverlässigkeit und schlechte Mitarbeit ist als ein überzeugter. Ich will keine überredeten Patienten haben. Und schon gar nicht, wenn ich sie mit Schuldgefühlen „motivieren“ müsste. Das ist die fieseste Methode! Ich nehme mir lieber Zeit, die Patienten mit sachlichen Argumenten zu überzeugen. Das geht aber auch nur, wenn ich selbst überzeugt bin von meinem Vorschlag und die Bereitschaft habe nachzugeben, wenn der Patient sich nicht überzeugen lässt. Dann versuche ich, ihm trotzdem ein guter ärztlicher Begleiter zu sein.
Ein typisches Beispiel für Verwirrung durch Dr. Google habe ich vor der Corona-Pandemie in der Notfallpraxis erlebt. Eine Mutter brachte ihre sechzehnjährige Tochter, die völlig haltlos schluchzte und kein Wort mehr sprechen konnte. Erst nachdem ich eine ganze Weile gebraucht hatte, um die Tochter „herunterzureden“ und einigermaßen in Ruhe zu bringen, konnte ich die Frage stellen: „Warum sind Sie so verzweifelt?“
Die Antwort kam zögernd: „Als ich heute Morgen aufwachte, habe ich ein bisschen gehustet. Dann habe ich bei Google gelesen: Wer hustet, hat Lungenkrebs!“
Nachdem ich meinen ersten Schreck über so viel Naivität und kritiklose Gutgläubigkeit wahrgenommen hatte, begann ich ernsthaft mit dem Gespräch und erklärte ihr, für wie viele leichte und schwere Erkrankungen Husten ein Symptom sein kann. Ich untersuchte sie gründlich. Sie hatte einen leichten grippalen Infekt, und ich verordnete ein pflanzliches Medikament. Aber die eigentliche Therapie bestand in einem längeren Gespräch.
Manchmal beginnen die Patienten das Gespräch in der Praxis mit dem Satz: „Ich weiß, dass ich nicht bei Google nachschlagen soll, aber ich habe gelesen, dass ich eine Leukämie, ( … einen Krebs, einen Tumor etc.) habe. Das will ich jetzt abklären lassen.“
Natürlich erwarten viele Patienten, dass wir jetzt sofort die große Maschine anwerfen und den kompletten Checkup machen: Und das unabhängig von der Dauer der Symptome und der Tageszeit, in der ihr Wunsch und ihre Angst zur Handlungsaufforderung für den Arzt werden. eine „große Blutuntersuchung“ oder „die Sache mit dem Gel auf dem Bauch“ oder die „Untersuchung mit der Röhre“ sind das Mindeste, was angefordert wird, auch wenn es bei dem jeweiligen Fall völlig sinnlos ist.
Jetzt bin ich seit 49 Jahren als Arzt tätig und kann gut überschauen, was sich in dieser Zeit im Arzt-Patienten-Verhältnis verändert hat. Ich beobachte in den vergangenen Jahren immer häufiger, dass die Patienten mit Anliegen in die Sprechstunde kommen, die man früher mit dem gesunden Menschenverstand zuhause erledigt hätte. Die Unselbständigkeit der Menschen nimmt zu, und die Anspruchshaltung, dass in der Notfallpraxis auch Banalitäten sofort erledigt werden müssen, greift immer mehr um sich. – Zugespitzt formuliert: Es ist wie überall im richtigen Leben: Jedes soziale Angebot wird von manchen Menschen als Einladung zum Missbrauch angenommen und ausgenützt.
Wenn die Patienten mit einer fertigen Diagnose von Dr. Google das Gespräch eröffnen, sage ich dann manchmal: „Wer bei Google nachschlägt, stirbt!“ Dann mache ich eine Kunstpause und erkläre ganz ernsthaft, dass jedes noch so kleine Symptom wie Schnupfen oder Halskratzen oder ein bisschen Bauchweh ein Zeichen einer schweren und möglicherweise tödlichen Krankheit sein kann. Die Diagnosen, die Google auf ein bestimmtes Stichwort hin aufzählt, sind ja alle realistisch möglich, aber doch nur mit ganz verschiedenen Wahrscheinlichkeiten und unter ganz bestimmten Bedingungen, die der Patient aber nicht kennt und nicht einschätzen und gewichten kann. Und der Grundsatz gilt: Was häufig ist, ist häufig, und was selten ist, ist selten. – Also suchen wir zuerst mal die häufigen Diagnosen.
Dazu kommt, dass wir Menschen dazu neigen, ein wichtiges und unangenehmes oder bedrohlich wirkendes Symptom mit dem zeitlich am nächsten gelegenen anderen Ereignis ursächlich in Verbindung zu bringen. Sie erkennen dabei nicht, dass es wahrscheinlich nur ein zeitlicher Zusammenhang ist, der die Ereignisse verbindet. – Den Unterschied erkläre ich dann so: „Ich bin heute nicht in die Praxis gekommen, weil Sie kommen, denn das wusste ich nicht. Also ist das nur ein zeitlicher Zusammenhang zwischen meinem und Ihrem Hiersein. Das eine ist nicht die Ursache für das andere.“
Wenn dann noch die medizinische Halbbildung des Patienten verknüpft wird mit der manchmal Panik erzeugenden Berichterstattung der Medien mit Dauernachrichtenbeschuss über Nebenwirkungen der Covid-Impfstoffe, entsteht eine Situation wie neulich in der Notfallpraxis.
Die Patientin sagte: „Ich habe gestern meine zweite Impfung gegen Covid bekommen, und jetzt habe ich eine kleine Verdickung hier an der Wade bemerkt.“ Sie zog die Hose hoch und deutete auf ihren Unterschenkel, wo ich große und weiche Krampfadern und einen weichen und schmerzfreien Unterschenkel abtastete. Die Patientin fuhr sehr bestimmend fort: „Google sagt, Sie müssen hier eine Sinusvenenthrombose nach Impfung ausschließen!“
Die Situation entbehrte nicht einer gewissen Komik. Ich musste mich beherrschen, nicht zu lachen. Aber ich habe gelernt, auch da ernst zu bleiben, weil es für die Patienten ernst ist. Sie wissen nicht, dass die Sinusvenen an der Schädelbasis liegen und die Entwicklung einer Sinusvenenthrombose erst etwa fünf Tage nach der Impfung entsteht – wenn sie überhaupt auftritt. Die Wahrscheinlichkeit ist ja extrem gering.
In diesem Fall akzeptierte die Patientin eine sachliche Aufklärung und Untersuchung. Sie meinte auch, die Krampfadern habe sie noch gar nicht bemerkt. Das erschien mir zwar völlig unglaubhaft, aber ich sagte nichts dazu.
Ich machte einen therapeutischen D-Dimer-Test. Das ist ein Blutschnelltest, der positiv ist bei Thrombosen, Lungenembolie, übermäßiger Gerinnung, bösartigen Tumoren oder einer schweren Leberzirrhose. Er kann auch positiv sein bei sehr alten Menschen und Schwangeren. Zur Diagnostik brauchte ich ihn bei dieser Patientin nicht, denn es gab hier für mich keinen Verdacht auf eine Beinvenenthrombose. Die Therapie der aufgeregten und verunsicherten Patientin bestand in dem negativen Testbefund, den wir erhielten. Das war allemal sinnvoller als ein Beruhigungsmittel gegen die Angst, das die Patientin ohnehin sicher nicht genommen hätte.
In diesem Fall war die Covid-Impfung der scheinbare Grund für die vermutete Thrombose in den angeblich erst jetzt entdeckten Krampfadern. Es bestand also nur ein (falsch wahrgenommener) zeitlicher Zusammenhang, kein ursächlicher. Die Krampfadern waren schon lange vorher vorhanden gewesen.
Bei einem Kollegen, der offensichtlich überdrüssig war, mit Diagnosen von Dr. Google konfrontiert zu werden, sah ich in seinem Wartezimmer ein Schild: „Wer seine Erstmeinung bei Dr. Google eingeholt hat, sollte seine Zweitmeinung bei Dr. Yahoo oder Dr. Bing erfragen – und nicht in hier in dieser Praxis!“
So witzig und verstehbar ich das Schild fand: Ich denke da anders. Ich habe gelernt, dass die Patienten manchmal Diagnosen oder therapeutische Gedanken anbringen, an die ich nicht gedacht habe. Kollege Google kennt mehr Fakten als ich. Und ich kann dazu 49 Jahre ärztliche Erfahrung beisteuern. Dann kommen wir sicher gemeinsam zu einer vernünftigen und pragmatischen Lösung. Ich nehme diese Hinweise von Google, die Patienten mir vermitteln, als Gelegenheit, etwas dazu zu lernen oder an etwas zu denken, das mir im Moment nicht eingefallen war. Dass nebenbei auch mal komische oder lustige Situationen entstehen, ist der humorvolle Anteil in unserem Beruf. Das nehme ich dankbar an
Der wichtigste Lehrsatz in der Diagnostik für mich stammt von dem verehrten Internisten Prof. Bock, den ich als Student in Tübingen noch erleben konnte. Er sagte: „Sie können eine Diagnose nur stellen, wenn Sie an diese Diagnose denken!“ Das ist so banal wie richtig und unverzichtbar.