Macht Lesen gesund?

Mein Beitrag zum Almanach 2022

Frau Prof. Dr. med. Silke Heimes veröffentlichte 2017 bei Vandenhoeck & Ruprecht das Buch Lesen macht gesund – Die Heilkraft der Bibliotherapie. Almanach-Leser kennen Texte von Frau Heimes aus einigen der früheren Almanache, die ich herausgegeben habe. Sie ist Ärztin, Autorin, Leiterin des Instituts für kreatives und therapeutisches Schreiben (IKUTS) und Professorin für Journalismus (Schwerpunkt Wissenschaftsjournalismus) an der Hochschule Darmstadt. Im Vorfeld zu dem Buch bat sie Bekannte und Freunde um ihre Antworten auf einen Fragebogen, der das Grundgerüst und die Stoffsammlung für das Buch darstellen sollte.

Das Buch stellt eine gründliche Synthese der vielen Einsendungen und eine sehr gute Übersicht der Erkenntnisse zu dem gestellten Thema dar. Ich möchte im Folgenden meine damaligen Antworten auf den Fragebogen darlegen. Dabei habe ich zur Veröffentlichung in diesem Almanach 2022 nur wenig ergänzt oder aktualisiert.

Wichtig für das Verständnis und die Länge meiner Antworten ist die „Gebrauchsanweisung“ zu dem Fragebogen: Bei den Antworten können Sie gerne auch ausführlichere Gründe angeben, ungewöhnlich, poetisch oder wie es Ihnen gefällt!

  • Welche Erinnerungen verbinden Sie mit dem Lesen? Wer hat Ihnen das Lesen nahegebracht?

Lesen konnte ich mit fünf Jahren, weil meine Mutter es mir schon vor der Schule beigebracht hat. Seither lese ich regelmäßig, viel und mit Freude. Von meiner Mutter habe ich auch gelernt, etwas, was ich nicht weiß, sofort nachzuschlagen. Dafür gab es immer gute Nachschlagewerke bei uns. Zur Konfirmation bekam ich den zwanzigbändigen Brockhaus mit Goldschnitt geschenkt, in dem ich oft las. Heute ist die Antwort auf eine Frage nur so weit wie das Smartphone in meiner Hosentasche oder der PC auf dem Schreibtisch entfernt. Und der Brockhaus ist keineswegs antiquarisch wertvoll, wie ich dachte, sondern, wie mir ein Buchantiquar sagte: „Der ist nur noch für den Papiercontainer gut!“

Das für mein Leben entscheidende Leseerlebnis hatte ich, als ich mit neun Jahren wegen einer schweren Osteomyelitis (Knochenentzündung) am Bein zweimal operiert werden und ein halbes Jahr mit Gipsbein zuhause im Bett liegen musste. Um der Langeweile vorzubeugen, besorgte meine Mutter mir regelmäßig aus der Stadtbibliothek Bücher, oft alle zwei, drei Tage ein neues. Ich verschlang die Bücher regelrecht und las alles, was ich an Reise- und Abenteuerliteratur in die Finger bekam. Seltsamerweise hat Karl May mich nicht fasziniert. Ich habe nur „Winnetou“ gelesen, und den nur halb. Vielleicht, weil er in einer Welt spielte, die mir nicht sehr sympathisch war.

Stattdessen faszinierten mich Reiseberichte, besonders von Hans-Otto-Meissner (deutscher Diplomat und Reiseschriftsteller), und ich bat meine Mutter, mir nach und nach alle Bücher von ihm zu besorgen, und das waren viele. – Ich weiß noch genau, wie ich in die Länder eintauchte, in die Erlebnisse, von denen ich wusste, dass sie real geschehen waren. –

Nebenbei machte ich meine Hausaufgaben, die mein Freund mir jeden Nachmittag aus der Schule brachte. Ich hielt ohne Schulbesuch so gut beim Lehrplan mit, dass ich vor der zweiten Operation die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium bestand.

Lesen ist für mich geistige Nahrung. Sie ist fast so wichtig wie Essen und Trinken. Aber wenn ich nicht mehr lesen könnte, weil ich blind bin, könnte ich noch hören und sprechen und würde darüber meine Eindrücke, Erkenntnisse und Hilfen erhalten.

Mein Lateinlehrer Edwin Brauchle – sein Name ist hier mein Denkmal für ihn! – vermittelte mir den geistigen Hintergrund für Sprachzusammenhänge, kulturelle Verbindungen der Geschichte, Entwicklung und Bedeutungswandel von Wörtern mit lateinischer Wurzel in verschiedenen Sprachen. Durch ihn lernte ich den Wert der Grammatik und das damit verbundene strukturelle Denken, das einer Sprache innewohnt, und eines gut übersetzten Textes kennen und schätzen. Auch heute noch macht es mir große Freude, einen Text gut zu übersetzen, d.h. soweit wie möglich im Stil und Sprach- und Grammatikniveau des Originals zu bleiben.

Herr Brauchle ist einer der wenigen Lehrer meines Lebens, von dem ich viel mehr als das reine Fachwissen lernen durfte: Meine Einstellung zu Kultur und besonders zur Kultur der Sprache und ihrem zeitlosen Wert, der in einem geschliffenen Text modelliert ist, verdanke ich vorrangig ihm. Er machte Latein zu meinem Lieblingsfach. Ich bin froh, dass ich ihm viel später als Erwachsener noch sagen konnte, wie sehr ich ihm dankbar war und bin für den lebensprägenden Schatz, den er mir vermittelt hat.

Wenn ich ein paar Tage lang nicht zum Lesen komme, spüre ich Entzugserscheinungen. Ich sehne mich nach dem Gefühl, in einem Buch zur Ruhe zu kommen, mich auf Interessantes, Spannendes, Lehrreiches und Aufbauendes konzentrieren zu können. Ich sehne mich nach guter Sprache, die mich ins Gleichgewicht bringt und meinen Gefühlen und meinem Verstand Nahrung schenkt. Dadurch spüre ich die Kraft des Heilsamen. Eine ungestörte Lese- oder Schreibstunde ist für mich die reine Meditation.

Durch Lesen (und Leben!!) habe ich gelernt, die Welt um mich herum und in mir besser zu verstehen, zu ertragen und zu genießen. Das bedeutet für mich, die Polarität und unaufhaltsame Prozesse als natürlichen Bestandteil unseres Seins und unserer Entwicklung anzunehmen.

Lesen ist ein wesentlicher Katalysator des Heil-Werdens: Gute Lektüre vermittelt mir lebenswichtige und lebenssteuernde Impulse und Erkenntnisse.

Die Weltgesundheitsorganisation hat definiert Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“

Nach diesen Gesichtspunkten ist sicherlich niemand wirklich gesund. Aber ein ideales Ziel ist vorgegeben, dem wir nachstreben können, wohl wissend, dass wir es nie und sicher nie auf Dauer perfekt erreichen werden.

Medizinisch spitzfindig formuliert: Gesundheit heißt: Der Mensch wurde noch nicht gründlich genug untersucht.

Für mich bedeutet in dem Zusammenhang dieses Interviews heil werden und heilsam sein, dass wir durch Heilkräfte in uns und um uns herum mehr in das Gleichgewicht zwischen den Extremen des Krankseins und der Gesundseins kommen. Lektüre, die heilsam ist, hilft uns auf dem Weg, geistig, seelisch und körperlich gesünder zu leben. Lektüre kann aber auf genau demselben Weg durch destruktiven Lesestoff krank machen. Leider achten viele Menschen bei der geistigen Nahrung ebenso wenig auf Qualität wie bei der körperlichen.

Es gibt einen aussagekräftigen Versuch in der Psychoneuroimmunologie. Man bildete drei Gruppen von Versuchspersonen und nahm ihnen vor dem Versuch Laborwerte ab, die den Zustand ihres Autoimmunsystems repräsentierten. Dann wurde die erste Gruppe in einem Horrorfilm geschickt, die zweite Gruppe sah einen Naturfilm, und die dritte Gruppe bekam keinen Film zu sehen. Anschließend wurde festgestellt, dass die Laborwerte der Horrorfilm-Gruppe signifikant abgesunken und die der Naturfilm-Gruppe signifikant angestiegen waren. Die Kontrollgruppe zeigte natürlich keine Laborveränderungen. Schon ein einziger  Film hat messbare Auswirkungen auf unsere Gesundheit! Was machen dann erst unser Fernsehprogramm und die entsetzlichen Videospiele mit uns, denen sich viele Menschen über viele, viele Stunden täglich hingeben! – Ich schlage vor, den Versuch zu wiederholen mit zwei Stunden Horrorroman für die erste Gruppe und zwei Stunden Natur beschreibender Literatur für die zweite.

Lesen vermittelt mir auch die Erkenntnis, dass es mir so gut oder schlecht geht, wie ich mich in dem Vergleich erlebe, den ich selbst anstelle. Es gibt immer etwas Besseres und immer etwas Schlechteres als meine Situation. Also liegt es an mir, womit ich mich vergleiche. Das Sprichwort zeigt es: „Das Gras ist immer auf der anderen Straßenseite grüner.“ Auch die Gedichtzeile von Georg Philipp Schmidt von Lübeck in Des Fremdlings Abendlied, das Franz Schubert in seinem Lied Der Wanderer vertont hat:  Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück“ veranschaulicht diese negative Denkstruktur. Das heißt, ich entscheide durch meinen Vergleich, ob es mir gut oder schlecht geht. Der Vergleich lässt mich heil oder krank werden. Lektüre kann helfen, hier die gute Entscheidung zu treffen.

  • Welches war Ihr Lieblingsbuch als Kind? Welches ist Ihr aktuelles Lieblingsbuch?

Lieblingsbücher als Kind: Reiseberichte, besonders von Hans-Otto-Meissner

Aktuelle Lieblingsbücher: Hier zögere ich und schreibe lieber Aktuelle Lieblingsschriftsteller.

Ich bin ein Sammler: Wenn ich etwas entdecke (neuer Interpret in der Klassik, neuer Schriftsteller, neues Thema), will ich alles davon haben und suche dann gezielt und lese und höre möglichst viel vom selben Autor und zum selben Thema. In den letzten Jahren entdeckte ich z.B. so die Bücher von

José Saramago: Die Stadt der Sehenden, Die Stadt der Blinden, Eine Zeit ohne Tod (grandiose Sprache, mitreißender Duktus), Die Reise des Elefanten, Alle Namen

Hanns-Josef Ortheil: Erfindung des Lebens (faszinierende, tief berührende Autobiografie), Liebesnähe (verblüffender Liebesroman), Das Kind, das nicht fragte, Lesehunger, Die Berlinreise, Das Glück der Musik.

Roger Willemsen: Kleine Lichter (sehr einfühlsamer Liebesroman aus interessanter Perspektive), Die Enden der Welt (großartige Reiseberichte), Das Hohe Haus (brillanter Sachbericht, der oft am Verstand und der guten Erziehung unserer Volksvertreter zweifeln lässt!). Nicht zu vergessen: Die großartigen auch auf DVD und CD aufgezeichneten Sendungen über Musik wie Willemsen legt auf!

Pablo Neruda: Ich bekenne, ich habe gelebt (Mitreißende Autobiografie) und Matilde Urrutia: Mein Leben mit Pablo Neruda(Diese Biografie über Nerudas Leben scheint ein ganz anderes Leben zu beschreiben als Neruda selbst!)

Rolf Dobelli: Er ist ein brillanter Schriftsteller, weil er zeigt, dass noch nicht alle Gedanken gedacht und formuliert worden sind. Seine Bücher Fragen an das Leben und Turbulenzen (777 bodenlose Gedanken) werfen den Leser komplett auf sich selbst zurück und stellen Fragen, die nicht nur verblüffen, sondern atemlos machen. Die Kunst des klaren Denkensund Die Kunst des klugen Handelns sind ein Wegweiser durch den Dschungel unserer unkontrollierten Gedanken und unüberlegten Handlungen. Dobellis Intelligenz und messerscharf formulierte Analyse können wehtun! – Er kann aber auch witzige und packend fantasievolle Romane schreiben: Himmelreichist ein Beweis dafür. – „Ganz nebenbei“ ist Dobelli ein äußerst erfolgreicher Geschäftsmann.

Ferdinand von Schirach, der ehemalige Strafverteidiger,schreibt spannende Geschichten und Dramen aus dem realen Leben: Strafe, Verbrechen, Der Fall Collini, die Dramen Gott und Terror.

Julia Zeh, die promovierte Juristin und Verfassungsrichterin, ist eine der profiliertesten Romanautorinnen unserer Zeit. Ihre Bücher spielen mit  ineinander verwobenen Handlungssträngen, die die Spannung aufrecht halten und gezielt die Fantasie des Lesers anregen. Beispiele: Leere Herzen, Adler und Engel, Corpus delicti, Schilf und Über Menschen.

Andreas Altmann ist seit ein paar Jahren mein Lieblingsautor für die Reiseliteratur. Ich halte ihn für einen der besten Reiseschriftsteller, denn er reißt mich in jedem Buch durch seine blitzgenauen Formulierungen und Vergleiche mit. Bei ihm erkenne ich die wertvolle praktische Umsetzung des Zitats: „Das richtige Wort und das fast richtige Wort verhalten sich wie ein Blitz zu einem Glühwürmchen.“ – Er schafft es, die gesamte mögliche Gefühlswelt eines Menschen aufgrund seiner eigenen manchmal traumatischen und grotesken Erfahrungen und Erlebnisse  in wenigen Sätzen bildhaft, emotionsgeladen und bezwingend zu schildern. Seine geradezu kindliche Freude befeuert den professionellen Umgang mit dem Spiel mit den Buchstaben. Seine schonungslosen gesellschaftskritischen Gedanken werfen den bewussten Leser immer wieder vom Leserausch in den Meint-der-etwa-mich?-Schock. Beispiele sind nachzulesen u.v.a. in: Gebrauchsanweisung für das Leben, Gebrauchsanweisung für Heimat, Gebrauchsanweisung für die Welt, Weit weg vom Rest der Welt, Notbremse nicht zu früh ziehen!, Leben in alle Himmelrichtungen.

Da mir das kreative Fotografieren wieder nach 30 Jahren, in denen ich nicht mehr oder kaum fotografiert habe, sehr wichtig ist, sind zurzeit Bücher über Naturfotografie (Landschaften, Pflanzen, Makro) zentrale Lektüre. Bewusstes Fotografieren hilft mir in wunderbarer Weise, das Leben um mich herum und die Wunder der Natur besonders im Detail klarer, intensiver, auch mit großer Freude und Dankbarkeit wahrzunehmen. Wenn ich es schaffe, diese Eindrücke selbst kreativ und mit möglichst schlackenloser Schönheit festzuhalten, gewinne ich den Eindruck, wenigstens Sekunden des fließenden Lebens festhalten zu können. Eine Stunde Spaziergang in der Natur mit der Kamera in der Hand ist für mich ein wunderbarer Urlaub. Das Buch dazu, zuhause gelesen, hilft mir, diese Zeit noch intensiver als heilsam zu empfinden.

  • Wann war die exzessivste Lesephase Ihres Lebens?

Siehe oben in der Krankheitsphase als Kind. In der Oberstufe entdeckte ich Stefan Zweig und Hermann Hesse für mich, die immer noch zu meinen Lieblingsschriftstellern gehören. Später während der Prüfungsvorbereitungen im Studium las ich meist Fachliteratur. Seither lese ich regelmäßig im Durchschnitt ein Buch pro zwei Wochen, manchmal ein Buch pro Tag. Ich gestehe: Ich bin lesegierig. Da ich Entzugserscheinungen bekomme, wenn ich einige Zeit nicht lesen kann, ist es wahrscheinlich, dass ich abhängig bin. Aber ich möchte keine Therapie machen, um diese Abhängigkeit loszuwerden.

Ich habe schon lange bemerkt, dass ich das Gefühl der Langeweile nicht kenne. Selbst wenn ich mal auf dem Sessel vor mich hin döse, ist das keine langweilige, sondern einen entspannende  und bewusst verbrachte Zeit, die mir guttut. Wenn ich eine freie Minute habe, lese ich mit Vergnügen. Ich habe immer ein interessantes Buch oder eine gute Zeitschrift über Klassische Musik, Medizin oder Fotografieren bei der Hand. Sogar wenn ich in der Notfallpraxis Dienst habe, nütze ich arbeitsfreie Zeit mit Lesen. Weil ich dort oft gestört werde durch meine Dienstaufgaben, habe ich für diesen Zweck ein Buch oder eine Zeitschrift mit kurzen Abschnitten dabei.

  • Welche Bücher hatten einen entscheidenden Einfluss auf Sie? Können Sie sagen, warum und in welcher Weise?

Die wichtigsten Bücher in meinem Leben:

Dale Carnegie: Sorge dich nicht, lebe! – Das war mein Einstieg in das Thema Kommunikation und Menschenführung zum Beginn der Kliniktätigkeit als Assistenzarzt. Grundlegende Ideen im Umgang mit Mitmenschen im Privaten und mit Patienten im Besonderen. Dann in der Folge zahlreiche Kurse in dieser Richtung, zuerst als Teilnehmer, später als Leiter.  Gute Kommunikation war immer ein sehr wichtiges berufsbegleitendes Thema, das u.a. mich dazu brachte, u.a. zwei Bücher zu schreiben: Wenn das Licht naht- der würdige Umgang mit schwer kranken, sterbenden und genesenden Menschen und Ich verstehe Sie! – Verständigung in Praxis, Klinik und Pflege. Beiden Büchern ist die Grundfrage eigen: Wie gehen wir richtig mit Menschen in schwierigen Situationen um?

Thorwald Dethlefsen, Rüdiger Dahlke: Krankheit als Weg. – Dieses Buch hat zu Beginn meiner Arbeit in der eigenen Praxis meinen Zugang zu Krankheiten und meinen Umgang mit Patienten grundlegend verändert und geprägt. Es hat mich vor allem auf die psychosomatische Sprache aufmerksam gemacht, die seither für mich ein unverzichtbares Mittel der Diagnostik und Therapie in der ärztlichen Arbeit und in meiner Selbstwahrnehmung darstellt. Dieses Buch und die damit verwandten Bücher haben mir unerlässliche Perspektiven aufgezeigt, die neben der reinen Apparate-Schulmedizin nötig sind, um mit kranken Menschen angemessen und verständnisvoll umzugehen. Für mich gibt es den wichtigen Unterschied zwischen Mediziner und Arzt: Der Mediziner behandelt einen Krebs. Der Arzt behandelt einen Menschen, der an Krebs leidet.

Erhard Freitag: Kraftzentrale Unterbewusstsein. Dieses Buch hat mich in die Welt der eigenen unbewussten Entwicklung und Steuerung eingeführt. Ich habe viele Seminare des Autors besucht, bis er mich dazu brachte, eigene Seminare zu veranstalten. Ihm und seinen Büchern verdanke ich entscheidende Erkenntnisse über Krankheit und Gesundheit und besonders über die Prozesse des Heil-Werdens.

Stefan Zweig: Stellvertretend für sein Werk, das ich (fast) ganz gelesen habe, sei hier Sternstunden der Menschheit genannt. „Nur“ kurze Geschichten, aber von enormer erzählerischer Wucht und detaillierter, feinsinniger Empathie. Bestechend gut sind seine Romane und Biografien berühmter Persönlichkeiten (Joseph Fouché, Maria Stuart, Calvin usw.). Für mich einer der brillantesten Schriftsteller für psychologische Analyse und deren Schilderung. Die Zweig-Biografie von Alberto Dines: Tod im Paradies[1] ist eine der besten Biografien, die ich je gelesen habe.

Hermann Hesse: Stellvertretend für sein Poesiewerk sei das Gedicht Stufen erwähnt, das auch heute noch mein Ratgeber, mein Lebenswegweiser in Situationen des Zweifels und Wandels ist. Es ist das wichtigste Gedicht meines Lebens. – Hesses gewichtiges Prosawerk, das ich auch fast ganz gelesen habe, hat mich tief beeindruckt, von Unterm Rad über den Steppenwolf bis zum Glasperlenspiel.

Elisabeth Kübler-Ross: Interview mit Sterbenden. Dieses Buch habe ich während meiner Kinderfacharzt-Weiterbildung auf der Krebsstation kennen gelernt. Es brachte mich auf den intensiven Weg der Palliativmedizin, die seither mein wichtigstes ärztliches Feld ist. In Folge las ich später alle anderen Bücher von ihr und die gängige Palliativmedizinliteratur. Und ich schrieb als Arbeitsbilanz zu meinem 50. Geburtstag das Buch Wenn das Licht naht (siehe oben), das meine Einstellung kranken Menschen gegenüber und meine Arbeitsweise zusammenfasst. Bei diesem Buch hat mich meine Frau durch kluge Fragen, Vorschläge und ein wunderbares Titelbild unterstützt.

Lennart Nilsson: Ein Kind entsteht: Das schönste, beste und Wunder-vollste (im wörtlichen Sinn!) Buch mit faszinierenden intrauterinen Fotos über die Entstehung eines Menschen. Ich empfehle es allen „schwangeren Eltern“ zur besseren Wahrnehmung und Wertschätzung der Veränderungen in der Schwangerschaft. Ich kenne keinen schöneren Weg, sich während der Schwangerschaft auf das Kind vorzubereiten und das Wunder seines Lebens zu verinnerlichen.

Sol Stein: Über das Schreiben. – Erst nachdem ich schon Bücher selbst geschrieben hatte, entdeckte ich dieses Buch. Es ist bis jetzt das Beste, was ich über Schreiben gelesen habe. Ich schlage immer wieder nach, hole mir Anregungen und überprüfe meine Texte anhand Steins Kriterien.

Das Manfred-Kyber-Buch: Die besten Tiergeschichten (Fabeln) über das menschliche Fehl-Verhalten. Von heiter bis todernst, von gut bis bitterböse sind hier alle menschlichen Gefühle und Eigenschaften meisterhaft geschildert und teilweise grandios karikiert.

Bernd Frederich: Zuflucht in der Krankheit suchen – Die Angst vor dem Partner. Dieses Buch des Internisten und Arztes für Psychosomatische Therapie hat mir vermittelt, dass es (grob gesprochen) zwei Menschentypen gibt: solche, die Angst vor Schwäche haben, und solche, die Angst vor Fehlern haben. Die weitgehenden Konsequenzen für den Entwurf und Ablauf des Lebens werden an praktischen Beispielen hervorragend dargestellt. Diese Erkenntnisse helfen mir im Alltag und als Arzt in der Sprechstunde, mich und andere besser zu verstehen und verständnisvoller mit ihnen umzugehen.

Tiziano Terzani ist einer der „großen Weisen“ für mich. Während seiner über dreißig Journalistenjahre (vorwiegend für DER SPIEGEL) in Asien (Terzani sprach perfekt Chinesisch!) tauchte er tief in die Philosophie des Ostens ein und ging am Ende seiner Laufbahn für viele Monate als Einsiedler in den Himalaya zurück, um die Diagnose eines Bauchspeicheldrüsenkrebses zu verarbeiten. Seine zahlreichen Bücher, z.B. Noch eine Runde auf dem Karussell und Fremder unter Chinesen und Fliegen ohne Flügel) sind Meilensteine in der westlichen Journalistenliteratur und bauen eine begehbare Brücke zwischen östlicher und westlicher Philosophie und Lebensweise. Unvergessen sind mir die von ihm dokumentierten Dialoge mit seinem Sohn vor Tizianis Tod (Das Ende ist mein Anfang), und der tief beeindruckende Film darüber, in dem Bruno Ganz die Hauptrolle spielt.

Erich Fromm: Über die Liebe. Das beste Buch über die Liebe, das ich kenne. Haben oder Sein: Das beste Buch, das ich kenne, über die wichtigste Polarität, mit der wir uns lebenslang auseinandersetzen müssen.

  • Gibt es Bücher, die Ihnen in schwierigen Zeiten geholfen haben? Welche Zeiten waren das, und wie haben die Bücher Ihnen geholfen?

Meine Grundlage ist das Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse, das mich an jeder Stufe meines Lebens, besonders bei den Brüchen und Krisen gestützt und geleitet hat. Es vermittelt mir Ruhe, Gelassenheit und das Wissen, dass die Brüche und Stufen natürliche Bestandteile jedes Lebens und notwendig sind – die Not wendend. Ich habe bin jetzt nach jedem schweren Konflikt und jeder bitteren Entscheidung und Ent-Täuschung festgestellt, dass alles(!) auch eine gute Seite hat, die sich aus dem Konflikt entwickeln kann bzw. nur durch den Konflikt möglich wird. Eine Ent-Täuschung ist wie Ent-Tarnung die Wegnahme der Täuschung, die wir uns oft selbst vorgetäuscht haben. Da die Erkenntnis, selbst für die Täuschung verantwortlich zu sein, so bitter ist, projizieren wir oft die Verantwortung für unsere schlechte Stimmung nach der Ent-Täuschung auf den Anderen, der uns enttäuscht hat. Die Aufgaben werden schwerer, die Entwicklung drängt vorwärts. Wir ändern nur etwas in unserem Leben, wenn der Leidensdruck größer als die Angst vor Veränderung. Dieses Bewusstsein, dieses Wissen lässt mich Entscheidungen leichter fällen und die Konsequenzen geduldiger ertragen.

Alle anderen Bücher, die mir in Krisen hilfreich sind oder waren (Romane, Lebenshilfe-Literatur, alle unter Punkt 4 angeführten wichtigen Bücher), sagen im Prinzip nichts anderes aus als dieses Gedicht. Es ist für mich verdichtet die Essenz aller Lebensweisheit.

  • Gibt es ein Buch, das Ihre Weltsicht entscheidend geprägt oder verändert hat?

Alle oben erwähnten Bücher haben meine Weltsicht in der jeweils beschriebenen Weise geprägt, bereichert und entwickelt.

  • Welches Buch hat die größte Sehnsucht bei Ihnen ausgelöst? Sehnsucht wonach?

Die Reisebücher meiner Kindheit haben meine Sehnsucht nach der Ferne, nach großen Landschaften, nach fremden Kulturerlebnissen ausgelöst. – Bis mir klar wurde, dass Sehn-Sucht das falsche Wort oder der falsche Ansatz ist. Sucht ist pathologisch. Insofern finde ich das Wort in der Frage nicht so gut. Intensive Wünsche, attraktive Ziele, drängende Motivation wäre besser.

Auf jeden Fall haben alle Bücher in mir den Wunsch ausgelöst, selbst und gut zu schreiben, um im Schreiben, Formulieren, Suchen nach dem richtigen Wort mich selbst und mein Leben besser wahrzunehmen und auszudrücken. Schreiben ist für mich auch ein therapeutischer Prozess. Wenn mir wichtige Dinge oder zu entscheidende Fragen und Konflikte unklar sind, schreibe ich darüber. Im Nachdenken, Formulieren und Lesen komme ich zur Klarheit und Entscheidung. Das heilt mich, weil es mich wieder mehr ins Gleichgewicht, zu Ruhe und Gelassenheit bringt. Ob ich das Geschriebene dann auch veröffentliche, ist eine ganz andere Sache.

Wenn ich beim Lesen mir verwandte Gedanken finde oder eine gute Formulierung für das, was ich immer schon gefühlt habe, aber nicht treffend genug in Worte fassen konnte, bin ich glücklich.

  • Welches war der ‚speziellste Zustand’, in den ein Buch Sie versetzt hat? Vielleicht ein lesender Liebesrausch?

Bücher, die ich nicht aus der Hand legen konnte, bevor ich auf der letzten Seite war, gab es viele, aber interessant ist, dass mir spontan kein einziger Titel dazu einfällt. Waren es Strohfeuer? Es war der Drang zu wissen, wie es weitergeht. Spannende Krimis, Erzählungen, Romane.

Ach ja, da waren die beiden Romane von Jonas Jonasson: Der Hundertjährige, der aus dem Fester stieg und verschwand und Die Analphabetin, die rechnen konnte. Und von Patrick Süßkind Das Parfüm! Das sind drei Romane, die an Erzählfreude und Humor kaum übertroffen werden können und trotz der irrealen Handlung köstlich erfrischend und lesenswert sind. Ich habe sie „in einem Rutsch“ gelesen.

Und zuletzt von Siegfried Lenz Der Überläufer und von Ayelet Gundar-Goshen Löwen wecken. Zwei dramatische Romane, die rasant geschrieben sind und alle Tiefen menschlicher Existenz und Polarität ausleuchten.

Alle im Gedächtnis gebliebenen Bücher, besonders die wichtigen von Punkt 4, habe ich langsam und oft mehrfach, auch abschnittweise gelesen. Sie sind ein Teil von mir geworden. Ich habe sie in mich integriert. Jedes dieser Bücher hat in mir eine bleibende Faszination ausgelöst, das Gefühl, etwas Neues zu entdecken, mein Wissen und meine Sicht der Dinge oder Beziehungen zu erweitern und für mich nützen zu können.

  • Das Schicksal welches Protagonisten hat Sie am tiefsten berührt?

Realistische Schilderungen von Menschen in lebensbedrohlichen oder lebensvernichtenden Situationen. Beispielhaft nenne ich das Buch Sterben dürfen von Wolfgang Putz und Elke Glor (Hofmann und Campe). Das ist für mich eines der wichtigsten Bücher in der Palliativmedizin. Es handelt sich um einen Tatsachenbericht, der kaum bizarrer hätte erfunden werden können. Eine wahre Arzt-Kriminalgeschichte, die in unserer aktuellen, realen deutschen Justiz Rechtsgeschichte geschrieben hat:

Der berühmte Medizin-Fachanwalt Wolfgang Putz wurde wegen Tötung angeklagt, weil er Elke Glor riet, die Magensonde bei ihrer seit Jahren im Wachkoma liegenden Mutter durchzuschneiden, als diese auf Anordnung der Heimleitung zwangsernährt werden sollte, obwohl die Patientin noch im gesunden Zustand lebensverlängernde Maßnahmen verboten hatte.

Der Konflikt führte nach der Verurteilung des Anwalts und der Tochter in 1. Instanz(!) schließlich in der Revision zu dem BGH-Urteil und Freispruch vom 02.06.2010. Die Begründung ist für unserer tägliche Arbeit in der Patientenversorgung so grundlegend wichtig, dass ich sie zitieren will: „Der Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung auf der Grundlage des Patientenwillens ist nicht strafbar. – Niemand macht sich strafbar, der dem explizit geäußerten oder dem klar festgestellten mutmaßlichen Willen des Patienten, auf lebensverlängernde Maßnahmen zu verzichten, Beachtung schenkt. – Der freiverantwortlich gefasste Willen eines Patienten muss in allen Lebenslagen beachtet werden.“

Das Drama der Beteiligten ist sehr sachlich und wahrscheinlich gerade deshalb so packend geschildert. Die Rechtsfolgen für die betroffenen Patienten und die betreuenden Ärzte sind endlich geklärt und verschaffen Patienten, Ärzten und Familienmitgliedern in Zukunft Rechtssicherheit.

  • Welches Buch würden Sie aus einem brennenden Haus retten?

So viele wie möglich, solange ich mein Leben nicht dadurch riskiere. Ich kann, wenn es um existenzielle Bedrohung geht, auf alle meine Bücher verzichten. Im Zweifelsfall kann ich Lesenswertes wieder kaufen oder leihen. Antiquarische Bücher habe ich nicht. Auch die würde ich nicht retten wollen, wenn ich mein Leben dafür riskieren müsste. Kein Buch ist es wert, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Ich hoffe, dass die wesentlichen Erkenntnisse, die ich aus Büchern bis jetzt gewonnen habe, so in mir integriert sind, dass ich das Buch dazu nicht mehr brauche. Ich sage das, obwohl ich ein sehr großer Bücherliebhaber bin, eine große Bibliothek besitze und viel lieber ein gutes Buch in Händen halte als einen E-Book-Reader (ich besitze gar keinen). Und es fällt mir immer wieder schwer, Bücher wegzugeben, weil meine Bücherschränke voll sind und ich immer noch ein anderes Buch kaufen und lesen möchte.

  • Gibt es Bücher, die Sie mehrfach gelesen haben?

Ja, die unter Punkt 4 aufgeführten Bücher

  • Was ist Ihr Lieblingsplatz zum Lesen? Haben Sie bestimmte Rituale, wenn Sie lesen?

Ich lese Sachbücher am Schreibtisch im gemütlichen Arbeitszimmer, weil ich oft unterstreiche und Notizen mache. Außerdem habe ich hier alle Nachschlagewerke und den PC zur Verfügung. um Einzelheiten zu recherchieren.

Romane lese ich manchmal im Wohnzimmer in einem bequemen Sessel, Beine hoch auf dem anderen Sessel, das Tageslicht schräg von hinten. Der Kaffee auf dem Tisch daneben wird meist kalt, weil ich ihn über der spannenden Lektüre vergesse.

Interessant ist, dass ich früher regelmäßig neben dem Lesen klassische Instrumentalmusik gehört habe, Vokalmusik störte mich schon immer bei der Konzentration. – Inzwischen –vielleicht altersbedingt- stört mich auch leise Klassik beim Lesen. Deshalb ist es jetzt um mich herum ruhig, wenn ich am Schreibtisch sitze und lese oder an anderen Projekten arbeite.

  • Wer darf Sie beim Lesen stören, oder darf niemand Sie stören?

Jede Störung ist eine Störung. Ich habe keinen Einfluss darauf, wer mich anruft oder an der Haustür klingelt. Ich lese meist tagsüber, wenn ich allein in der Wohnung bin. Das geht so, weil ich als Rentner, der immer noch weiter arbeitet, meine Zeit einteilen kann. Das Ausmaß der empfundenen Störung hängt davon ab, wie tief ich „im Buch stecke“. Wenn ich intensiv lese, vergesse ich die Zeit und alles um mich herum.

Meine Frau versucht, Störungen abzumildern mit dem Satz: „Wenn du nachher Zeit hast, bitte ich dich, ….“ oder „Bitte denke dran, dass in einer halben Stunde die Gäste kommen!“ Trotzdem vergesse ich es manchmal, weil ich so intensiv auf das konzentriert bin, was auf dem Schreibtisch vor mir liegt. Es ist schon passiert, dass trotzdem „plötzlich“ die eingeladenen Gäste vor der Tür standen und ich völlig verblüfft darüber war, dass sie „schon“ da sind.

  • Gibt es einen Autor, dem Sie sich seelenverwandt fühlen?

Bei Stefan Zweig fasziniert mich seine psychologische Einfühlungskraft in reale oder erfundene Personen, die ich gern hätte. Bei Hermann Hesse begeistert mich die endlos variable bildreiche Sprache, die ich versuche, bei mir zu entwickeln. Bei Ferdinand von Schirach spüre ich den gemeinsamen Drang, ungewöhnliche Geschichten aus dem Alltag, die wir aufgrund unserer beruflichen Tätigkeit erleben, aufzuschreiben und zu veröffentlichen. Es ist doch einfach manchmal nicht zu glauben, was uns alles begegnet, wenn wir aufmerksam sind und zuhören und uns auf das Leben der Menschen einlassen, die sich uns anvertrauen! Ich muss nur sehr aufpassen, dass die beschriebenen Personen nicht identifizierbar sind. Mit Andreas Altmann fühle ich mich seelenverwandt, weil ich gern so geistreich und treffsicher formulieren können möchte wie er es regelmäßig schafft.

Ich fühle mich jedem Menschen seelisch verwandt, bei dem ich den Eindruck habe, dass er sich bewusst bemüht, eine im besten Wortsinn schlichte und ausdrucksstarke Sprache zu schreiben und zu sprechen und „auf den Punkt“ zu formulieren.

Menschen, die Denglisch, Worthülsen, unnötige oder die falschen Fremdwörter, Wortverschwurbelungen, Politikerfloskeln, verbale Täuschungsmanöver verbreiten und gezielt, wörterreich und nichtssagend an der Frage vorbei antworten, stoßen mich ab.

  • Was halten Sie von der Idee, dass Lesen heilsam ist?

Unter Punkt 1 habe ich schon darüber gesprochen: Ich bin überzeugt, dass Lesen heilen kann. Wichtig ist aber, dass man richtig lesen gelernt hat – ich meine: nicht nur Wörter und ihre Bedeutung erkennen. Zum Heilwerden durch Lesen gehören Bewusstsein für Sprache, Erfassen von Zusammenhängen und Stimmungen, Muße, um das Buch auch mal wegzulegen und nach-zudenken, nach-zuspüren, in sich hineinzuhorchen. Victor Frankl hat es wunderbar mit seiner Logotherapie gezeigt. – Der Leser muss bereit sind, sich auf die Gedanken eines anderen Menschen (des Autors) einzulassen.

Es muss auch geklärt werden, warum „man“ liest. Zur Verdrängung der Langeweile auf niederem Niveau? Da reicht die Regenbogenpresse oder ein Groschenroman oder ein Fantasy-Schinken. Ich sag´s mal deftig und plakativ: Für mich ist das eine Form von Umweltverschmutzung mit Buchstaben und ein Missbrauch der Natur, weil Bäume für die Verbreitung von geistigem Müll gefällt werden. Und dieser Schund wird viel gefährlicher, wenn er über elektronische Medien weltweit verbreitet wird. Er bietet deshalb mehr bedrohliches Gewaltpotenzial.

Wenn ich etwas lernen und auf gutem Niveau Freude haben will beim Lesen, wird´s anspruchsvoller. Dann kommen Bücher aus den Kategorien dran, von denen ich hier berichtet habe.

Wenn ich gesund werden will durch Lesen, erfordert das einen Bewusstheitsgrad, der davon ausgeht, dass (m)ein inneres Ungleichgewicht durch Veränderung der Gedanken ausgeglichen werden kann, die ich bei dem Autor hole und mir zu eigen mache. Dieser Schritt ist therapeutisch wirksam, weil er ganzheitlich, psychosomatisch eingreift.

In der ärztlichen Sprechstunde nützt bei reflektierenden Patienten die psychosomatische Sprache sehr viel. Die richtige Frage hilft heilen: Was / Wer sitzt Ihnen im Nacken? Was halten Sie im Kopf nicht aus? Wer oder was drückt auf Ihr Herz? Was können Sie nicht mehr hören? Warum haben Sie zu viel um die Ohren? Haben Sie Herzprobleme oder Herzensprobleme? Was hat Ihnen die Sprache verschlagen? Welcher Konflikt hat ihr inneres Abwehrsystem so weit gedämpft, dass die Bakterien Oberhand gewissen konnten?

  • Gibt es einen Schriftsteller, dessen Werke Sie für besonders heilsam halten?

Wenn Heilung bedeutet, besser im inneren Gleichgewicht zu sein und sich selbst rascher ins Gleichgewicht bringen zu können, dann gilt für mich:

Dale Carnegie, Thorwald Dethlefsen, Erhard Freitag, Elisabeth Kübler-Ross und Tiziano Terzani haben mich auf den Weg gebracht, mit mir und meinen Mitmenschen bewusster und besser umzugehen.

Hermann Hesse, Stefan Zweig, José Saramago, Sol Stein und Roger Willemsen haben mich auf Gleichgewicht und Exzellenz der guten, das heißt auch heilsamen Sprache aufmerksam gemacht und sind ein Vorbild dafür.

  • Gibt es Bücher, die Sie für bestimmte Gemütslagen (z.B. Angst, Trauer) empfehlen?

Bei Krankheit und Trauer empfehle ich manchmal mein Buch Wenn das Licht naht – der würdige Umgang mit schwer kranken, genesenden und sterbenden Menschen. Ich habe es speziell für Pflegende, Angehörige und Patienten geschrieben. Es schildert an vielen selbst erlebten Patienten und Situationen gute und schlechte Möglichkeiten des Umgangs mit der Krankheit und den Menschen. Häufig habe ich Vorträge darüber gehalten. Oft hörte und las ich, das sei ein Lebenshilfebuch, das man auf den Nachttisch legen könne, um jeden Abend einen guten Gedanken daraus zu holen.

Als Arzt in der Neurologischen Reha-Klinik nahm ich einen Patienten nach Schlaganfall auf meiner Station auf. Nach dem ausführlichen Gespräch mit Untersuchung fragte die Ehefrau: „Was kann ich noch für meinen Mann tun?“ Ich legte dieses Buch auf den Tisch. Sie war verblüfft und lachte mich an. „Oh, Sie haben das geschrieben! – Dieses Buch hat mich auf der Intensivstation in München in den letzten Wochen am Bett meines Mannes am Leben gehalten. Eine Schwester hat es mir ausgeliehen.“

Bei Angst empfehle ich kein Buch, sondern Gespräche und Verhaltenstherapie. Wenn ich im Gespräch auf ein bestimmtes Thema komme, kann es sein, dass ich ein Buch darüber empfehle. Bedrohliche Gefühle lassen sich nicht durch Vernunftgedanken heilen – Verliebtheit übrigens auch nicht J. Aber im therapeutischen Gespräch kann der Kranke neue Gefühle und Gedanken entwickeln, die ihn heilen. Oder anders gesagt: Die meisten Menschen wissen, was sie tun oder lassen sollen. Sie brauchen und suchen oft unbewusst einen Menschen, der sie bestärkt in dem, was ihre innere Stimme schon lange weiß. Dann bin ich im besten Fall der Katalysator, der den bereits begonnenen Entscheidungsprozess gutheißt, bekräftigt und die Patienten ermuntert, das Überlegte auch umzusetzen.

Bevor ich ein Buch empfehle, frage ich immer: „Haben Sie in Ihrer jetzigen Verfassung den Kopf frei zum Lesen?“ Wenn Menschen in tiefen Gefühlen sind, haben sie oft keine Konzentration für lange und / oder schwierige Texte.

Gedichte und kurze, prägnant formulierte Texte / Zitate sind ansprechender, wirksamer:

Texte von Khalil Gibran (z.B. Der Prophet), Mascha Kaléko (ihre Gedichte! Gut zusammengefasst in Die paar leuchtenden Jahre) und Victor Frankl (Trotzdem ja zum Leben sagen und Der Wille zum Sinn) halte ich für besonders feinsinnig, zart, hilfreich.

Die weichgespülte Form der „Heilliteratur“ kommt von Phil Bosmans, Paul Coelho und Kollegen und äußert sich vorwiegend in Kalendersprüchen und kleinen Bild-Text-Kombinationen in Büchlein-Form fürs Krankenbett oder zum Geburtstag oder anlässlich einer Trauersituation.

Manchmal ist es nämlich nur ein Satz, der notwendig -die Not wendend!- ist zur Heilung. Er wendet die Not, weil es der richtige Satz im richtigen Moment von der richtigen Person ist. Das sind die Zufälle, die uns zufallen, wenn sie fällig sind. Wir treffen immer die richtigen Bücher, die richtige Musik und die richtigen Menschen im richtigen Moment. Unsere Aufgabe besteht darin, es zu bemerken und zu nützen.

  • In England kann man sich vom Arzt Bücher gegen Depressionen verschreiben lassen und das Rezept in der Stadtbibliothek einlösen. Was halten Sie von dieser Idee?

Ein tief Depressiver kann nicht mehr lesen. Er ist zu sehr in seinen negativen Gedankenstrudel hinein gesaugt und gedanklich gelähmt. Er kann nicht mehr aus der Tiefe des Wirbels hinaus denken. Er hat auch keine Kraft, in die Stadtbibliothek zu gehen.

Es muss zuerst geklärt werden, ob der Depressive noch oder schon wieder in der Lage ist zu lesen und das Gelesene aufzunehmen und umzusetzen! Wenn er das kann und will, finde ich die Idee gut.

  • Haben Sie zum Abschluss ein Zitat, das Sie den Lesern mitgeben möchten?

Zwei Zitate:

  • Ein gutes Buch ist ein Freund. Er ist in uns wirksam, wenn ich ihn brauche.
  • Das Leben ist zu kurz, um ein schlechtes Buch zu lesen.

[1] Meine Rezension zu diesem Buch finden Sie bei https://dietrich-weller.de/prosa/ein-literarischer-brief/

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