Herr Hassani

Der Anruf erreichte mich in der Sprechstunde. Eine der Stimme nach junge Frau mit gutem Deutsch und einem leichten arabischen Akzent stellte sich vor, sie sei Ägypterin und hier mit einem Deutschen verheiratet. Ihre Eltern seien vorgestern aus Kairo auf Besuch gekommen, und weil es dem Vater mit starkem Husten und Fieber so schlecht gehe, bitte sie mich, einen Hausbesuch zu machen. Ich stellte noch ein paar Fragen und versprach meinen Besuch unmittelbar nach der Sprechstunde.

Etwa eine Stunde später stand ich in der gepflegten Wohnung, wurde freundlich begrüßt und lernte die Familie kennen. Der Vater, ein untersetzter Herr etwa um sechzig Jahre alt, war Englisch- und Französischlehrer an einem Gymnasium in Kairo, und da er kein Deutsch sprach, nützte ich gerne die Gelegenheit, wieder Englisch zu sprechen, und deshalb hatten wir eine fließende Unterhaltung. Die Mutter sprach nur arabisch, aber Vater und Tochter übersetzten, was nötig war.

Tatsächlich war Herr Hassani, so will ich ihn für diese Geschichte nennen, von bedrohlich klingenden Hustenanfällen geschüttelt, die Schweißperlen standen auf seiner braunen Stirn, und die Angst sprang ihm aus den Augen, beim nächsten Hustenanfall keine Luft mehr zu bekommen. Es war auch für uns Zuschauende schlimm, ihm bei der qualvollen Husterei keine sofortige Linderung schaffen zu können. Jeder Hustenstoß produzierte zähen, gelben Eiter ins Taschentuch. Ein Griff an die Stirn des Patienten zeigte mir, daß er hohes Fieber haben musste. Die Thermometerkontrolle unter der Achsel bestätigte meine Vermutung: 40 Grad. Das Rasseln und Brodeln in seiner Lunge waren auch ohne Stethoskop bei jedem Atemzug deutlich hörbar. Eine gründliche Untersuchung bestätigte meinen Verdacht. Der Brustkorb war vorgewölbt und relativ starr wie bei einem typischen Emphysem: Die Lungenbläschen waren zu einem großen Teil kaputtgegangen, die Oberfläche für die Sauerstoffaufnahme war dadurch deutlich verringert, und der zähe Schleim konnte nicht mehr richtig abgehustet werden. Deshalb hatten sich die Bakterien darin kräftig vermehrt und Herrn Hassani eine typische Komplikation beschert, eine schwere eitrige, hochfieberhafte Emphysembronchitis. Auf dem Rücken fand ich einen fast handtellergroßen Tumor, der durch eine typische verstopfte Talgdrüse hervorgerufen war. Ich sprach darüber und empfahl Herrn Hassani gelegentlich eine operative Entfernung.

Aber jetzt stand die schwere Bronchitis im Vordergrund. Ich hatte in der Praxis vorsorglich Ärztemuster eines Antibiotikums und eines Schleimlösers eingesteckt, weil ich mir schon auf Grund der Schilderung am Telefon gedacht hatte, was Herrn Hassani plagt. Er war nicht über die Krankenkasse versichert, und ich wollte ihm mit den Medikamenten möglichst rasch helfen. Ich erklärte die Dosierung und die nötigen Verhaltensmaßregeln.

Ich ließ mich auf eine kurze Unterhaltung ein und erfuhr, dass Hassanis zum erstenmal in Deutschland waren und ihr Sohn in Kairo als Polizeiarzt arbeitete. Sie hatten sich sehr auf die Reise zur Tochter gefreut und planten, die ganzen Schulferien hier zu verbringen. Tochter und Schwiegersohn stellten Ausflüge in die nähere Umgebung in Aussicht und einen gemeinsamen Urlaub, während das Geschäft des Schwiegersohnes Betriebsferien hatte.

Jetzt waren alle Beteiligten sehr besorgt, ob der gemeinsame Plan auch verwirklicht werden könnte, wenn der Vater so schwer krank sei. Ich versuchte, die Aufregung von Frau Hassani und Ihrer Tochter und die verständlichen Bedenken zu mildern und meinte, es sei doch sehr wahrscheinlich, dass alles gut gehe, wenn die Medikamente wirken. Es würde ein paar Tage dauern, bis die Lunge wieder einigermaßen normal atmet, und morgen wollte ich wiederkommen. Ich wünschte eine gute Besserung und verabschiedete mich.

Am nächsten Morgen kam die Tochter überraschend in die Sprechstunde. „Ich wollte doch zu Ihrem Vater kommen,“ sagte ich interessiert. „Warum kommen Sie zu mir?“ Sie machte ein bedenkliches Gesicht: „Ich muss etwas besprechen, worüber ich im Beisein meiner Eltern nicht reden kann. Mein Vater hat die ganze Nacht nicht geschlafen, er hat weniger Fieber als gestern, und ich denke, langsam geht es ihm besser. Aber er macht sich große Sorgen und denkt darüber nach, sofort wieder nach Kairo zu fliegen. Glauben Sie, daß er so fliegen kann?“

Ich war sehr überrascht und sagte: „Ich kann gut verstehen, dass Ihr Vater sich Gedanken über seine Genesung macht, aber er kann hier genauso gesund werden wie in Kairo. Er ist bei Ihnen gut versorgt und bekommt seine Medikamente, ich schaue regelmäßig nach ihm, und seine Frau ist dabei. Ein Flug über ein paar Stunden in diesem Zustand wäre eine zusätzliche und unnötige Belastung. Warum will er denn unbedingt fliegen?“

Sie druckste ein bisschen herum, wusste wohl nicht, wie sie es sagen sollte, räusperte sich und rieb sich unsicher die Hände: „Ja, wissen Sie, er denkt eben, er sei hier eine Last, und er weiß nicht, ob sein Geld reicht für den langen Aufenthalt.“

Jetzt hatte ich begriffen und steuerte direkt auf meine Vermutung zu: „Darf ich mal raten? Ich denke, das Problem ist: Ihr Vater hat Angst vor meiner Rechnung, weil er nicht weiß, wie hoch sie wird, wenn ich ein paar Hausbesuche bei ihm mache. Und er will rasch nach Hause, um sein Budget nicht zu überlasten. Stimmt´s?“

Ich schaute sie fragend an. Sie nickte und sagte mit deutlich erleichtertem Unterton: „Ich bin ja so froh, dass Sie das gleich verstanden haben.“

Ich war schnell entschlossen: „So etwas habe ich mir schon gedacht. Also, dann sage ich Ihnen jetzt meinen Lösungsvorschlag für das Problem.“ Sie schaute mich überrascht an. Ich sprach weiter: „Ich gebe Ihrem Vater etwas, was er dringend braucht und ich leicht geben kann, nämlich mein Wissen, ein paar Hausbesuche und ein paar Medikamente, die ich von den Pharmafirmen geschenkt bekommen habe. Und er …“

Weiter kam ich nicht, sie unterbrach mich sofort: „Herr Doktor, das wird er nie annehmen! Mein Vater ist sehr stolz und wird sich nicht einfach etwas schenken lassen, auch wenn Sie es gerne tun und er es dringend braucht. Er würde lieber sofort abreisen!“

Ich lächelte zustimmend: „So habe ich ihn auch eingeschätzt. Deshalb möchte ich Ihnen ja auch einen Vorschlag machen. Damit er eine Chance hat, mein Geschenk anzunehmen, bitte ich ihn im Tausch um etwas, was er mir leicht geben kann und was ich schon lange haben möchte, aber hier nicht bekomme.“

„Ja, aber gerne! Sie bekommen alles, was Sie wollen!“ Die Tochter von Herrn Hassani war sofort begeistert, rutschte im Sessel etwas nach vorn und war ganz aufmerksam, was jetzt das Problem ihres Vaters lösen könnte.

Ich erklärte es ihr: „Ich wünsche mir seit vielen Jahren ein Papyprus mit ägyptischen Motiven darauf. Die alte ägyptische Geschichte interessiert mich schon lange, und ich weiß von Freunden, die schon bei den Cheops-Pyramiden waren, dass solche Bilder dort in kleinen Werkstätten gemalt und an Touristenständen verkauft werden. Wenn Ihre Eltern nach dem Urlaub zu Hause sind, könnte mir Ihr Vater solch ein Bild schicken. Ich weiß, das kostet nicht viel, und ich habe ein Andenken an ihn und ein Bild für meine Sammlung.“

Die Tochter reagierte sofort: „Herr Doktor, das ist eine großartige Idee, ich werde gleich nachher zu Hause meinen Bruder in Kairo anrufen und ihn bitten, die Bilder mit dem nächsten Flugzeug zu schicken. Sie bekommen viele Bilder!“ Mein Gast war sichtlich erleichtert, den Aufenthalt für den Vater auf so geschickte Weise retten zu können.

Ich sagte lachend: „Bitte nur ein einziges Bild. Ich habe noch einen anderen Wunsch. Ich würde gerne ein Ankh-Kreuz haben. Sie wissen doch sicherlich, was das ist?“

„Ja, ja,“ meinte sie, „das ist doch dieses Zeichen der alten ägyptischen Heiler, der Kreis, der die Sonne repräsentiert und darunter das nach unten zeigende Kreuz, das die Sonnenstrahlen darstellt, die auf die Erde gerichtet sind. Meinen Sie das?“

„Ja, genau!“ sagte ich. „Ich weiß, dass dieses Kreuz schon auf den alten Hieroglyphenbildern in der Hand des ältesten bekannten ägyptischen Heilers Imhotep gezeichnet wurde. Und weil er das Zeichen an dem Ring oben hielt, heißt es auch Henkelkreuz. Diesem Kreuz wurde zu alten Zeiten magische heilende Kraft zugeschrieben. Es ist eines der ältesten Symbole der Ärzte.“ Ich machte ein kurze Pause und fuhr dann fort: „Ich weiß, dass es heutzutage in Ägypten aus Messing hergestellt und überall an den Souvenirständen verkauft wird. Wenn Sie mir solch ein Kreuz besorgen könnten, würde ich mich sehr freuen. Und dann hätte Ihr Vater eine Möglichkeit, mir eine Gegenleistung zu geben und hier zu bleiben wie geplant. Meinen Sie, dass er diesen Vorschlag annehmen kann?“

Sie antwortete froh: „Aber ja, ganz sicher! Ich werde ihm sofort von Ihrer Idee erzählen, wenn ich zu Hause bin, und er wird sich bestimmt riesig freuen über Ihr großzügiges Angebot. Aber das ist doch nicht genug für Ihre Leistung. Was möchten Sie noch?“

Ich schüttelte den Kopf und lachte: „Nichts! Wenn ich einen praktischen Beitrag zur Völkerverständigung leisten kann, ist das in Ordnung für mich. Vielleicht komme ich ja mal nach Kairo, dann lasse ich mich gerne von Ihrem Vater durch die Stadt führen. Aber hier möchte ich nichts anderes. Würden Sie ihm das so ausrichten?“

Sie verabschiedete sich erleichtert, und ich war zufrieden, so rasch eine gute Lösung für alle Beteiligten gefunden zu haben. Als ich ein paar Stunden später Herrn Hassani besuchte, war er hocherfreut, dass ich ihm eine für ihn annehmbare Möglichkeit geschaffen hatte, sein Gesicht zu wahren und in Deutschland zu bleiben. Er bedankte sich überschwenglich und war offensichtlich sehr befreit. Auch seine Lunge schien sich deutlich zu bessern. Nach ein paar Tagen sagte er: „Ich bin glücklich, daß ich wieder gut atmen kann!“

Inzwischen hatte der Sohn von Herrn Hassani per Luftpost die Bilder mit mythologischen Motiven und ein handtellergroßes Ankh-Kreuz geschickt. Die Gaben wurden mir feierlich überreicht. Ich freute mich sehr und bedankte mich herzlich.

Herr Hassani und seine Frau genossen den Aufenthalt. Nach ein paar Wochen standen sie eines Morgens in der Praxis, und er berichtete mir, die Talgdrüse am Rücken habe sich entzündet, ob ich denn da etwas machen könne. Ich schaute mir den Rücken an und sagte, der Abszess sei so reif, dass ich ihn aufschneiden müsse. Wir müssten eben tägliche Verbandswechsel machen. Herr Hassani war einverstanden und ließ die etwas schmerzhafte Prozedur über sich ergehen. Aus dem Abszess entleerte sich viel Eiter, und ich schälte die Talgdrüse gleich mit heraus. In den folgenden Tagen heilte die Entzündung gut ab, und Herr Hassani war sehr zufrieden, wieder ohne Schmerzen auf dem Rücken liegen zu können.

Als er zwei Tage vor seinem Rückflug nach Kairo zum letzten Verbandswechsel kam, verabschiedete er sich von mir. Er dankte mir für meine großzügige und sehr gute Behandlung, die ich als ganz selbstverständlich empfand, und lud mich ein, ihn und seine Frau jederzeit in Kairo zu besuchen. Sein Sohn sei auch gerne bereit, mir Krankenhäuser und andere ärztliche Institutionen zu zeigen, die mich interessieren.

Als ich seiner Frau die Hand gab, um sie zu verabschieden, ging sie vor mir auf die Knie und küsste meine Hand. Ich war erschrocken, weil ich solche Demutsgebärden nicht gewohnt bin und nicht damit gerechnet hatte. Ich bat sie, wieder aufzustehen und half ihr dabei. Sie schaute mich an und sagte mit ernster Stimme etwas auf Arabisch. Ich bat die Tochter um eine Übersetzung. Sie sagte: „Meine Mutter hat gesagt: `Ich danke meinem Gott, dass er meinen Mann zu Ihnen geschickt hat, und ich bitte ihn, daß er mir zehn Jahre meines Lebens nimmt und sie Ihnen schenkt.´“

Als ich das verstanden hatte, standen mir die Tränen in den Augen, und ich war sehr betroffen. Ich konnte eine ganze Weile nichts sagen. Dann verabschiedeten wir uns herzlich.

Ein paar Jahre später erfuhr ich, dass Herr Hassani inzwischen in Kairo verstorben war. Leider war ich bis heute nicht in Ägypten, aber dieses Land bleibt in meinen Gedanken mit der Familie Hassani verbunden.

 

Copyright Dr. Dietrich Weller

Die Geschichte habe ich ihn dem Buch Als Schiffsarzt unterwegs – und andere ärztliche Kurzgeschichten veröffentlicht.

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